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3 Seiten

Gerechtigkeit

Fantastisches · Kurzgeschichten
Die Tür im Flur stand halboffen. Das erste, was Paul Landing auffiel, war der Geruch von totem Fleisch. Er kannte den Geruch aus dem Leichenhaus und von Sezierungen. Kein Problem, aber für seinen Kollegen, Officer Jack Bender, schon. Sofort stieß die Wolke aus Verwesung den Frischling zurück, als der die Tür auftrat. Er schickte den Polizisten nach unten und sagte ihm, er würde hier schon klar kommen. Aber er schickte ihn auch weg, weil er einen Verdacht hatte. Eine Vermutung oder ein Gefühl, das ihm wie schwere Steine im Magen lag.
Als er sich alleine wähnte, zog er die 38er und näherte sich, benebelt von süßlichem Todeshauch, der Tür. Er kannte die Wohnung hier im 15. Stock. Ein Zimmer, ein Bad, eine Kochnische. Ein Raum, der Endstation für Gescheiterte war. Nicht groß genug für Einen, aber hier lebten drei. „Lebten“, dachte sich Landing, „der ist gut“. Es ist die Bleibe von Susan Moore, ihrem Mann Gary und seinem Bruder Valdo. Es ist die Bleibe von einer Einfältigem, einem brutalen Schläger und einem Vergewaltiger. Es ist die Bleibe von Trauer, Gewalt und Demütigung und jetzt, als Paul die Wohnung betritt, ist es das letzte, traurige Kapitel eines einst so hübschen Mädchens, das in Vorstellung eines besseren Lebens nach New York kam und die Wirklichkeit mit Gary und seinem Bruder erfuhr.
Paul erwartete, als er Zimmer 1532 betrat, ein Blutbad. Normalerweise waren es die Nachbarn, die Woche für Woche Streit und Lärm und verzweifelte Schreie meldeten. Als aber nun seit mehreren Tagen nichts mehr aus der Wohnung zu hören war, ging die Angst vor einem Verbrechen um und war ebenfalls Grund genug, wieder einmal die Polizei zu verständigen. Paul kannte Susan gut. Er besuchte sie im Krankenhaus, wenn sie mal wieder übel zugerichtet wurde. Er traf sie „zufällig“ bei ihren wenigen Einkäufen im Store unten an der Straße. Er versuchte mit allen Mitteln, sie zum Reden zu bringen. Aber sie wollte oder konnte nicht. Ohne ihre Aussage gab es nie einen triftigen Grund, den Moore-Brüdern mal ordentlich in den Arsch zu treten. Es gab viele Momente, in denen sich Paul fragte, was eine Frau dazu veranlassen könnte, Gewalt und Nötigung hinzunehmen, nur um nicht alleine zu sein. Sie war bestimmt keine Ausnahme, aber die Dimension, mit der sie fertig werden musste, schrie geradezu nach einem traurigen Höhepunkt. Und dieses Finale lag nun vor Paul, als er den Vorhang direkt hinter der Tür zum Wohnraum wegzog. Er steckte paralysiert die 38er wieder in den Brustgurt. Die brauchte er hier nicht mehr.
Das Deckenlicht flackerte, die Tür zum kleinen Balkon stand offen. Leise drang der Verkehrslärm, vermischt mit Sirenengeheul und dem Rauschen nasser Windböen nach oben. Im Raum inmitten von Unrat, Bierflaschen, Kakerlaken und von einem Kampf gezeichneten Möbeln lagen die Brüder. Die Leichen zeigten auf den ersten Blick Verwesung im fortgeschrittenem Stadium. Deutlich zu erkennen war bei Valdo, der auf dem Rücken in einem Haufen Pornofilme lag (passender Platz zum Sterben für ihn, dachte sich Paul) die Einstiche in seinen Augen, wobei er das zweite Auge offenbar schützen wollte, den auch seine linke Hand war durchbohrt. Sein Bruder lag auf dem Bauch zwischen Valdo und der Balkontür. Auch hier war ein Schnitt zu erkennen, der sich in der Halsgegend befand. Zumindest die Blutlache, die sich wie eine Korona um Gary ausgebreitet hatte, deutete darauf hin. Er hielt ein altes Messer in der rechten Hand.
Paul interessierte sich nicht sonderlich für die Leichen, abgesehen von seinem geringen Mitgefühl für deren Ableben. Er ging auf den Balkon hinaus und sah Susan. Der Regen, der seit zwei Tagen auf die Stadt niederging, hatte ihre langen, braunen Haare in eine Art Gestrüpp verwandelt. Sie trug ob der niedrigen Temperaturen nur ein Nachthemd, aber deutlich waren restliche Spuren von Blut und Risse im Stoff zu erkennen. Er sah den einfachen Slip und die gelb-braunen Flecken, die sich durch den Stoff abzeichneten.
Paul zog seine Jacke aus und legte sie ihr um die Schultern. Kurz zuckte sie und er konnte erkennen, das auch sie mit einem Messer bewaffnet war. Dieses allerdings hatte eine Menge getrocknetes Blut auf der breiten Klinge. Sie sah ihm in die Augen und er erkannte die Trauer und Befreiung darin. Sie musste tagelang hier ausgeharrt und geweint haben. Die Haut unter den Augen war dick und blutunterlaufen.
„Paul, schön sie hier zu sehen.“ Sie versuchte, ein Lächeln auf ihr Gesicht zu zaubern. „Ich habe sie nicht erwartet, sonst hätte ich mich gerne etwas mehr in Schale geworfen.“
Ihm fehlten die passenden Worte. Was sollte er ihr auch sagen. Sie würde mit absoluter Sicherheit nie wieder den Regen oder die Sonne erleben, wenn ihr der Prozess für diesen Doppelmord gemacht worden ist.
„Susan,...“ Sie schaute durch ihn hindurch und ihr Blick war leer. Er hatte das Gefühl, eine lebendige Leiche vor sich zu sehen. Und war sie nicht die Jahre über immer ein Stück mehr gestorben.
„Susan, ich muss sie jetzt leider mitnehmen.“
„Ich weiß. Werde ich wieder zurück kommen?“
„Ich glaube nicht.“ Er seufzte. Sie würde nirgendwo mehr hinkommen. Sie hatte ihr Leben gelebt. Hier war Endstation und Spiegelbild der Gleichgültigkeit, in der wir alle heute leben. Er fasste sie am Arm und führte sie zurück in den Raum. Sie standen vor den Brüdern und er sah ihr noch mal ins Gesicht.
Was er sah, war der Auslöser für das, was folgen sollte. In ihrem Blick lag nicht Genugtuung, sondern Gerechtigkeit. Er wusste, was zu tun war. Paul nahm ihr das Messer ab und steckte es in die Innentasche seiner Jacke. Sie beobachtete ihn dabei und ein kurzes Lächeln umspielte ihre rissigen Lippen. Es bedarf oft keiner Worte, eine Vereinbarung zu treffen. Sie nickten sich zu und verließen den Raum und Susans bisheriges Leben.
Er würde das Messer tief vergraben und mit ihm die Wahrheit, denn die Wahrheit war nicht immer richtig. Er würde ein Geheimnis mit sich herum tragen müssen, das ihn eines Tages brechen könnte, aber jetzt in diesem Moment war nur ein Wort in seinem Kopf, das unauslöschlich mit diesem Tag verbunden wurde: „Gerechtigkeit“.
 
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Kommentare  

Halloooo, Lena (juhu),

also, das mit dem "du" und "(S)sie" weiß ich jetzt auch nicht. Ich müsste echt noch mal nachlesen (hab aber gerade keine Lust, mmmmh).

Ansonsten, schönes Wochenende!!
Christian Ertl


Christian Ertl (26.02.2005)

"Du" muss man icht mehr groß schreiben, "Sie" schon. (So hat man es mir zumindest gesagt).
Mag sein, dass paralysiert doch ein gebräuchlicheres Wort ist, as ich dachte, das ist wohl meine journalistische Ader, die mir sat, dass das Gebräuchlichste Wort meistens das Beste ist. auf jeden Fall alles subjektiv, da hast du recht.
LG


Lena (25.02.2005)

Das mit den Formulierungen ist so eine Sache, vor allen Dingen eine Ansichtssache: Zum Einen ist man gerade als Anfänger immer auf der Suche nach Umschreibungen, und es passiert, das dabei auch unglückliche Sprachgebilde rauskommen, zum Anderen aber finde ich persönlich paralysiert zum Beispiel nicht sehr hochgestochen (Über "Korona" allerdings lass ich gerne mit mir diskutieren).
Über das "sie": Wenn ich mich nicht irre, wird "sie" nur in Briefen groß geschrieben, und auch da ist es neuerdings nicht mehr so wichtig (siehe Bastian Sick: "Der Dativ ist dem Genetiv sein Tod"), aber ich kann mich, wie gesagt, auch irren.
Mit Einem hast du allerdings völlig recht: Ich muss aufpassen, nicht mit erhobenem Zeigefinger dazustehen und zu kritisieren. Das ist noch ein großer Fehler von mir.
Und zuletzt: Ich mag das Land, weil es mir unendliche Vorlagen für menschliche Abgründe liefert. Sicher geht das auch woanders, aber gerade Amiland ist prädestiniert für "Tod und Teufel", Abartigkeit und Unmenschlichkeit usw.

Danke für deine Anregungen,
Christian Ertl


Christian Ertl (25.02.2005)

Toll geschrieben! Vor allem der "Die bleibe" parallelismus am anfang gefällt mir wirklich gut.
Super Story, ehrlich.
ein paar kleine Anmerkunge hätte ich allerdings:
- manchmal formulierst du hochgestochener, als nötig (z.B. warum nicht gelähmt statt paralysiert, wieso ausgerechnet Korona?)
- "sie" in der Anrede groß!!!
- "in der wir alle heute leben" würde ich weglassen, Sozialkritik kommt auch rüber wenn man sie nicht direkt ausspricht. Und ich finde, dass so etwas in einer fiktiven geschichte nichts zu suchen hat.
Ansonsten aber echt cool, vor allem das Ende finde ich toll. 4 Punkte
Ach ja, nur so aus Interesse: Warum handeln deine stories eigentlich immer in Amerika?
LG


Lena N. (24.02.2005)

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