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12 Seiten

Einsam

Nachdenkliches · Experimentelles
Mir träumte mein Leben. Als ich noch jung war, an nichts beteiligt.
Mir träumte mein Leben. Das ich nicht leben durfte, musste.
Mir träumte mein Leben. Das mich zu einem Nichts machte.

Als ich erwachte vom Schlaf, der mich so grauenvoll erinnerte und gleichzeitig vergessen ließ, war ich allein. Nicht, dass es etwas Ungewöhnliches für mich war allein zu sein. Die Einsamkeit hatte mich auch stest unter Menschen umschlossen. Niemals durfte ich die Zweisamkeit wahrlich genießen. Fürwahr, es war so. Aber es nützt dem Menschen nicht, zu jammern, zu trauern und senieren. Also stieg ich aus dem Bette meiner Trauer und erhob mich. So wie ich es einst jeden Morgen tat. Als die Einsamkeit noch nicht so bedrückend war und sich ein Mensch um mich bemühte. Auch das war nicht einfach, wie hätte ich ihr die Aufmerksamkeit schenken können, die ihr zugestanden wäre? Wie ihre Liebenswürdigkeit würdigen? Nun war sie nicht mehr hier. Zu spät für Vorwürfe, zu früh für ein Lob. Sie war einfach gegangen, wie alle einmal gehen werde, und ich bin noch hier. Genauer gesagt bin ich damals auch gegangen. An einen anderen Ort, der mir mehr Muse versprach. Nur werden Versprechungen äußerst selten gehalten. Zumal ein solches Versprechen, das eigentlich nicht einmal ausgesprochen werden dürfte.

Der Morgen war fahl. Er hatte den Beigeschmack von kaltem Eisen, das zu lange in einem See gelegen war. Alles um mich war grau, nicht nur des Nebels wegen. Die Wände wirkten im kalten Morgengrauen ebenso grau, aber vielleicht wirkten sie nicht nur so, ich hatte mich schon lange nicht mehr um mein Eigenheim gekümmert. Ich nahm mir fest vor das nachzuholen. Gleich heute würde ich damit anfangen den Wänden eine bunte Farbe, die mehr Fröhlichkeit, oder zumindest mehr Wärme ausstrahlte, zu geben. Danach sollten neue Möbel hinzugezogen werden. Neue Stoffe, alles bunt, farbenfroh...und ich war bei diesem Gedanken schon wieder so ermüdet, dass ich alle meine Pläne noch vor den Gang in die Küche verwarf. Dort erwartete mich ein beinahe leerer Kühlschrank. Was braucht es auch zum Überleben? Viel weniger, als die meisten erwarten würden. Auch das ist nicht weiter von Bedeutung. Keine Zeitung, kein verblödendes Fernsehen, nicht einmal Radio standen oder lagen herum. All das sind Beweise von Existenzen, die ich nicht anerkennen kann. Mein heutiger Tagesplan wich von den vorigen in einem ausschlaggebenden Punkt ab: es war eine Fahrt, ja beinahe eine Exkursion, in eine bewohnte Siedlung geplant. Aber da mir der Umgang mit Menschen schwerfiel, mich sogar ekelte, zog ich eine große Stadt vor, die jeden vor unliebsamen Kontakten schützt. Vorerst muss aber gearbeitet werden, nicht dass ich eine sogenannte bezahlte Arbeit nötig hätte, das Erbe von meinem Großonkel genügte durchaus für meinen bescheidenen Lebensunterhalt. Ich arbeitete um mich von der Tristess ein wenig abzulenken. So konnte ich einige Stunden am Tag entfliehen und mit der Feder in der Hand in eine unbekannte menschenfreundliche Welt reisen, inder ich niemals alleine war, obgleich es nur mich gab. Nur war heute etwas anderes. Sowieso bemerkte ich seit einiger Zeit, dass meine Konzentration nachließ. Das war unbegreiflich. Hatte sich doch nichts verändert!
So beschloss ich meinen Ausflug in die Welt der Anderen vorzuschieben. Ein höchst ungewöhnlicher und äußerst seltener Gedanke. Manchmal war ich eben doch auch von einer Spontanität gestreift, und ich hasste es.
Aber meine Art ist es nicht zu jammern, und so machte ich mich auf den Weg. Die Fahrt in die Stadt der Anderen dauerte zirka eine Stunde, denn ich mied so gut als möglich die vielbefahrenen Straßen. Musik begleitete mich des Weges, die wenngleich auch von Menschen komponiert, ebenso wie mache Literatur im übrigen, etwas Göttliches und Übernatürliches hatte. Angekommen in der viel zu lauten, viel zu engen Stadt irrte ich, die es nicht gewohnt war sich im menschenüberhäuften Arial zu orientieren, lange herum. Nach den wichtigsten Einkäufen - ich hatte sogar etwas Farbe für meine Wände und einige beinahe bunte Stoffe gekauft - beschloss ich mich, trotz meines Ekels vor den Anderen, in eines der Kaffeehäuser zu setzten. Ich hatte Glück und fand alsbald ein beinahe leeres. Dort bezog ich einen Tisch in einer versteckten Ecke und vertiefte mich sofort in meine mitgenommene Lektüre. Das geschriebene Wort war mir immer näher gewesen, als so manches gesprochene, als Kind wünschte ich mir taub und stumm zu sein, wie viel schöner wäre doch alles, ohne den übertriebenen Lärm der Sprache, doch dann entdeckte ich die Musik und mein Wunsch nach Taubheit verstummte alsgleich. Nach Zeiten kam jemand und ich bat um eine Tasse Kaffe. Der Herr, ein großer hagerer dunkelhaarige Mann mit Augen, die wohl so mancher als sehr schön geformt, und mit einem wunderbaren Ausdruck der Traurigkeit versehen, beschreiben würde, sah mich etwas verwirrt an, ging aber nach einem Augenblick in Richtung Theke. Der Staub tanzte im Sonnenlichte, ein einmaliges und doch stets widerkehrendes Schauspiel. Jedes Kaffeehaus kennt es, jeder, der auch nur einmal in einem solchen gesessen ist kennt das Spiel des Zwielichtes. Meine Augen waren schon längst wieder mit den Buchstaben verwachsen, als ich merkte, dass sich jemand neben mich setzte. Ich wollte mich schon beschweren, denn schließlich gab es noch genügend freie Tische, die meisten sogar an bequemeren Orten. Nur als ich aufblickte, wurde ich durch den Anblick des Mannes von vorhin erschüttert. Er war anscheinend nicht der von mir vermutete Kellner, denn im selben Augenblick brachte mir eben dieser meine Tasse mit einem hämischen Grinsen. Der Mann sah mich nicht an, sondern entfaltete ruhig eine große Zeitung vor sich, und so entschloss ich wider meines Ärgers, nicht auf sein durchaus unwirsches Sich-neben-mich-Setztens zu reagieren. Er saß zumal mit einigen Abstand auf einen der Sessel, während ich auf dem weichen vom Rad der Zeit angenagten und doch so zeitlos schönen Sofa Platz genommen hatte.
Meine Lektüre bereitete mir viel Freude, bald versank ich ganz in den mir so fremden Welten, die sich vor mir auftaten, bald verglichen meine Gedanken, meine Erfahrungen sich mit den Geschehnissen dieses Buches. So sann ich über die jetzige Situation nach, dieser Herr war mir vollkommen fremd, und ich hege ein gewisses Misstrauen, solchen Fremden gegenüber, und dennoch überkam mich einige Sekunden das Gefühl von Wohlsein, ja sogar Geborgenheit. Zu meinem Erstaunen benahm sich dieser Herr, der es gewagt hatte, mich in meiner Ruhe zu stören, äußerst unaufdringlich. Vielleicht wäre mein Leben anders verlaufen, hätte es fünfzig Jahre vor meiner Geburt statt gefunden. Ohne Zweifel wäre ich dann in meinem jetzigen Alter bereits Mutter, ja sogar schon Großmutter, die sich liebevoll um ihre Enkel kümmert, während deren Mutter, meine Tochter, das schwere Gewicht der Doppelverantwortung von Kindern und Beruf wahr nahm. Mein Mann, den ich sicher schon mit spätestens 20 Jahren geheiratet hätte, würde Sonntagmorgens am Frühstückstisch neben mir sitzen und seine Zeitung lesen, gerade so wie dieser Fremde jetzt.
Der Nachmittag verlief sehr ruhig. Das Cafe war gut gewählt, nur selten kam jemand in die Gaststube und noch seltener redete irgendwer hier. Ich beschloss, mir den Namen dieses Ortes der Ruhe in einer so lärmenden Stadt zu merken. Lange ertönte ein leises Knacksen aus dem Radio. Der Sender war mir unbekannt, nur alte Lieder aus früheren Jahren, wo es noch keine Vergnügungen wie das Fernsehen und deren massenhaften und sinnlosen Shows, Filmen, Dokumentationen und Nachrichtensprecher gab. Aber irgendwie war es mir nicht einmal unangenehm, wenngleich jedes Musikstück von einem nervenaufreibenden und eigentlich störenden Rauschen begleitete wurde. Hätte man die Augen geschlossen, hätte man vielleicht die Quickstep-tanzenden-Menge vor sich gesehen. Vielleicht wäre man sogar aufgestanden und hätte mitgemacht. Einfach so mit anderen Leuten feiern und sich freuen. Eine einfache Vorstellung, aber auch nicht mehr. Eine Vorstellung, Fantasie, Utopie. Nichts weiter...nichts weiter. Traum, entstanden durch Entartung von Bildern in den Medien, Traum, entstanden durch zuviel Kontakt zum Nächsten und den Umgang mit dem anderen Geschlecht. Um mir diese Gedanken auszutreiben verließ ich schnell das Cafe ohne mich noch einmal umzublicken. Schnell fort von jenem Ort, Ort der Ruhe, Insel der Seeligen.
Die Fahrt nach Hause war schön. Die vorbeiziehenden Bäumen, Häuser und Menschen. Ein wunderbares Schauspiel der Einsamkeit meines Herzens. Eine wunderbare Sonderheit. Bachs Goldbergvariation begleitete mich auf den Weg, selbst hier in der kahlen Umgebung der heutigen Fahrzeuge berührt er mich, gibt meinem Herzen einen Funken Hoffnung, und einen Funken Trauer. Selbst hier kann ich sie nahe bei mir fühlen. Selbst hier vermisse und hasse ich sie zu gleich. Was für ein karger Unterschied zu der ruhigen Fröhlichkeit im Cafe Cheron. So hieß dies Cafe, diese Insel der Seeligen, das ich, obgleich so geliebt so schnell verlassen hatte und ich war froh, dass meine drüben Gedanken nicht wiederkehrten. Die Laternen der Stadt rasten vorbei. Ein wunderbares Lichtspiel, auch Licht kann einen verändern. Was war die Optik der Augen denn sonst? Nichts als Licht, das dem Gehirn sagt, heute scheint die Sonne, heute geht es mir gut, oder heute ist es düster, deine Stimmung muss sich einfach anpassen. Vielleicht verlässt manchen Menschen die Fähigkeit, sich am Licht anzupassen, kein Licht, keine Hoffnung, oder Licht, keine Hoffnung, Dunkelheit, wieder kein Ausweg aus den Gedanken, Gefühlen, Schmerz und Freud, und Leid des Seins.
Zu Hause angekommen, entlud ich den Wagen. Wieder ein gefüllter Kühlschrank und die Farbe. Doch noch ist es nicht an der Zeit, mein Leben zu ändern. Das habe ich auf der Fahrt beschlossen, nach der 45 Minute der Bach´schen Phantasie. Genau zu dem Zeitpunkt, wo mein Seele durchdringt wurde von der Hoffnung der Seeligkeit, genau dann erkannte ich, dass es nicht an der Zeit war. Jeder Glaube an eine Änderung wurde mir zuwider. So räumte ich die Farbe und die Stoffe in den Keller, zu den anderen Versuchen etwas zu ändern, die neuen Möbel, die mein Leben auffrischen sollten, die Blumenvasen und Häckeldeckchen, die alles ein wenig heimeliger machen sollten, die Bücher und Bilder, die meine Phantasie anregen sollten. Alles verstaut und gut aufbewahrt um nie wieder an die Oberfläche zurück zu kehren, nie mehr gesehen, nie mehr die falsche Hoffnung verbreiten. Dann rief mich wieder meine vertraute Einsamkeit. Nur ich und mit mir alleine. Wie wunderbar triste. Nicht mehr lange, dann werden mich Nebel umfangen, die Stille und die grausamen Schattenbilder der Vergangenheit und der zukünftigen Gegenwart. Verträumtes Leben, verlorenes Leid. Zuerst noch die notorische Speisung des Tages. Eine Hühnerbrühe mit etwas Gemüse und ein ausnahmsweise frisches Brot, das genügte um zu überleben. Eine Flasche Portwein für den Schlaf, ein weiterer Versuch die Träume zu verscheuchen und ihnen nicht in ihr dunkles gnädiges Antlitz blicken zu müssen. Morgen wird alles Besser. Ein Spruch den ich mir schon lange über das Bett hängen wollte, um mich selbst, mein Leben zu verhöhnen. Aber dieser Lüge würde ich nie standhalten. Darum bleiben die Wände kahl und die Farben außen vor.
Kurz vor dem Einschlafen entschied ich mich, doch noch einmal zu versuchen, an dem Manuskript weiterzuschreiben. Das Leben meiner Heldin, die ihre Eltern rächen will, weiterzuerfinden, weiterzuleben und ihr meinen Willen aufzuzwingen. Wie oft kämpfe ich mit ihr. Sie ist ein so störrisch Wesen, das nicht fröhlich sein will in einer Welt, die ich extra für sie erschaffen habe. Wie glücklich könnte sie sich doch schätzen - wie glücklich wird sie sein, wenn sie am Ende das Böse besiegt und ihre große Liebe verehelicht haben wird! Was für wunderbare Gestalten stelle ich ihr doch zur Seite: Den mutigen Freund, der für sie in den Tode geht, die wunderbaren Feinde, die sie stets besiegt, der Mann ihrer Träume, der sie stets glücklich machen wird. Und dennoch scheint sie mir stets so unvollkommen, so undankbar. Ich wünschte sie würde einmal sehen, wie das Leben wirklich ist und sie würde verstehen. So wie ich verstehe. Die Feder ging mir plötzlich wie von der Hand. Keine einzige Pause, das war selten. Kein Zögern, kein Zagen, keinen Streit mit ihr und den anderen. Alle waren zufrieden heute. So sehr, wie ich den heutigen Tag gefürchtet hatte. Illusion und Schein des Lebens, Wirklichkeit der Fiktion.
Erst als ich am nächsten Morgen am Schreibtische aufwachte vom Summen eines vorbeifahrenden Autos, erkannte ich, dass ich wohl alles vollendet hatte in dieser schmerzensreichen wunderbaren Nacht. Ein eigenartiges Gefühl. Ihr Leben war vollendet mit der wunderbaren Hochzeit. Und mein Leben ging weiter. Immer weiter und weiter. Es würde wohl niemals aufhören. Nach einigen Korrekturen kramte ich in der Schublade um die Kuverts zu finden, die ich extra und nur für diesen Zweck stets zu Hause hatte, die Särge meiner Erfindungen und die Urnen meiner geistigen Ergüsse, Auffangbehälter für die Exkremente meines Hirns. Das Chaos in den Laden und am Tische, das ich nun schon seid meiner Ankunft hier pflegte, wollte mir jedoch nicht behilflich sein. Im Gegenteil. Es stieß nur leere Verpackungen hervor. Angstschweiß, panisches Durchwühlen des Chaos, Traum ohne Wiederkehr. Mit Entsetzen musste ich feststellen, dass ich kein einziges dieser kostbaren Briefumschläge mehr hatte, nicht einmal ein ganz kleines, zur Not könnte man ja beginnen das Papier zu falten, oder jedes einzelne Blatt versenden, es würde seinen Empfänger auch geteilt finden. Es war mir missgönnt. Aber ich musste es heute abschicken. Heute, sofort. Die Heldin will endlich fort von mir, ich spüre das genau. Niemals kann ich sie länger bei mir behalten, meine Kreaturen der Selbstzerstörung, als bis ich sie entgültig mit all ihren Geschichten, Wünsche, Hoffnungen, Träume auf das Blatt Papier gebracht hatte. Sie mussten fort, oder ich soll unendliche Qualen erleiden. Ich fing an sämtliches Mobiliar zu durchstöbern. Nirgends, nichts, was mir weiterhelfen könnte. Ich verfluche den Moment, als ich die letzte Zeile schrieb. Der Kopf beginnt zu schmerzen, die Ohren zu dröhnen. Der Moment der Entscheidung war gekommen. Ich musste es wagen. Noch einmal also in eine Siedlung. Dieser Gedanke quälte mich. Ich musste es tun, egal wie sehr es mich anwiderte. Ich musste unter Menschen um etwas zu bekommen, was ich für das bisschen Seelenheil, das mir geblieben ist in meinem Leben, brauche, regelrecht danach lechze. Der einzig wahre Überlebenskampf findet nicht am Sterbebette, nein, sondern hier statt. Hier in diesem Augenblicke, wo ich nicht ein noch aus wissend zu den Autoschlüsseln greife. Beinahe hätte ich das Manuskript vergessen. Welch Sorgen, welch Müh marterten meinen Leib. Ein Zittern, nein, ein Beben ging durch meinen Kopf. Das war eine Veränderung, die ich nicht geplant, vorausgesehen hatte. Die Spontanität lachte mich keck an um mich zu verhöhnen. Eine Veränderung, alles gerät aus den Gleichgewicht. Das Fundament der Existenz zerbröselte langsam in mir. Meine Einsamkeit des Leids und der Freude war in Gefahr, in großer Not gekommen. Ich hatte keine andere Wahl. Ich musste handeln, bevor sie mir mehr Leid zufügen mit ihrer heilen Welt. Wie Feuer auf der Haut brannten die Blätter Papier in meiner Hand, in meinem Herzen. Sie mussten weg, auf schnellste Wege. Zu schnell vergessen die Kreaturen, wer sie schuf. Zu früh erdolchen sie einen mit ihrer schrillen Stille. Schnell musste es gehen. Ich versuchte, mich auf die Fahrt zu konzentrieren. Genau wie gestern. Alles gleich und doch alles anders mit dem Schmerzen in meiner Brust. Die Bäume rasten dahin, die Häuser wanderten an einen scheinbar besseren Ort, alles schien nur noch zu rasen, zu kreischen, die wundersame Stille durchbrechend. Überall waren meine Kreaturen, in meine Augen, auf der Haut, unter den Fingernägeln, ja sogar in meinen Haaren. Sie wollten mich quälen, mir den letzten Willen rauben. „Geh hin und finde deinen Traummann!“ flüsterte dieses billige Stück Weib in mein Ohr. „Such dir eine richtige Arbeit, Freunde, ein Hobby!“ hörte ich es schallen. Zuviel, es war zuviel. Mein Fuß trat fest auf die Bremse, das Auto drehte sich um die eigene Achse, wie um eine Frühlingstanz beim Sonnwendfeste zu machen. Ein lautes Krachen, ein Dösen. Und der Wagen stand still. Plötzliche Ruhe umgab mich. Der Tag wurde zur seligmachenden Nacht. Der Mond grinste freundlich herab und ich stieg langsam aus den Wagen. In der Hand immer noch das beschriebene Papier. Doch auch sie waren nun still. Alles um mich schien tot, Leere, Stille, langersehnte Ruhe. Die Straße lag schlafend vor mir, als langsam zwei Lichter näher kamen. Die Rettung, ja das musste meine Rettung sein. Mein strahlender Held, der mich arme Gestrandete holen wird, auf seinen starken Armen in seine Burg führt und mich dort in ein Bett aus Samt und kostbarer Seide betten wird. Die junge, schöne, aufreizende und doch schüchterne Heldin war es, die mir diese Gedanken zuflüsterte. Die einzige Stimme der Unvernunft in weiter Nähe, ihr zu glauben schrie das Herz, Hoffnung und immer wieder diese falsche Hoffnung. Doch es dauerte nur einige Sekunden, bis ich erkannte, dass es kein Held sondern ein schmutziger Lastwagen war, der auf mich zukam. Und die Geschwindigkeit hatte ich wohl auch vollkommen unterschätzt. Vor Sekunden noch viele hundert Meter weit entfernt und nun schon direkt vor mir. Ohne ein Laut zu vernehmen gewahr mein Körper den Aufprall. Ich wurde einige Meter weit geschleudert und verlor sofort das Bewusstsein, endlich war die wahre, richtige Stille um mich gekommen, sie trug mich auf ihren Händen und Bach lächelte zu den Variationen am Klavier.
Als ich erwachte lag ich in einem hellen, sonnendurchfluteten Raum, auch hier spielte der Staub sein lustiges Spiel in den warmen Strahlen der Allherrscherin. Um meinen Körper schlangen sich Schläuche, eigenartige Geräte standen neben mir. Mein erster Blick fiel auf meine Hand, wo ich immer noch das Bündel Papier meinte. Doch meine Heldin und ihre Welt waren nicht dort, endlich fern von mir, vielleicht verbrannt und vernichtet, aber das störte mich nicht. Auch mein Wagen, die Straße, der Mond. Wirr blickte ich mich um. Alles war ersetzt durch das kahle weiße Zimmer. Da trat auch schon eine Frau in weißer Kleidung auf mich zu. Bewegen sie sich besser nicht, meinte sie. Bleiben sie ruhig liegen, sie hatten einen schweren Unfall. Wir haben ihre Eltern benachrichtigen wollen, aber sie sind nicht auffindbar. Ein geschwätziges Weib unter vielen anderen. Ihre Worte ergeben keinen Sinn und doch: Meine Eltern? An die habe ich schon jahrelang nicht mehr gedacht. Werden wohl wieder einer ihrer Reisen zu den unvergesslich schönen Orten dieser Welt machen, Sonne, Strand und Meer oder Gletscher und raue Winterluft. Aber es ist auch besser, wenn sie weit weg sind. Ich habe mich nie gut mit ihnen verstanden. Oh, wie lange habe ich nicht mehr an meine Familie gedacht? Woher kam jetzt plötzlich dieser Gedanken? Ach ja, die Dame meinte ich läge hier im Krankenhaus. Ein Unfall, richtig. Ich sah an meinen Körper herab, es schien noch alles so zu sein wie früher. Außer den Schmerzen, die mich plötzlich überfluteten, marterten. Da waren sie plötzlich wieder alle, meine Heldinnen, ihre Freunde, Feinde, Liebhaber, die Kreaturen der fremden Welten. Und alle schienen sich nun rächen zu wollen. Mein Körper beugte sich unter ihrer Geisel, mein Mund öffnete sich für einen qualvollen Hilfeschrei. Die Schwester verstand sofort, und gab mir eine Spritze. Die Schmerzen verklangen langsam und ich glitt in einen heilenden Schlummer, aus dem ich nur selten und höchst ungern erwachte.

Man sagte mir, ich läge nun schon seit Wochen in diesem Zimmer und nun wäre es Zeit, mich in eine andere Station zu verlegen. Eine Rehabilitation sollte ich über mich ergehen lassen, meine Knochen und meine Muskeln wären geschwächt, meinte der eigenartige immer freundliche und lächelnde, nichtsahnende Arzt der Station. Ich hatte mich entschlossen, sowenig wie nur irgendmöglich mit diesen Menschen zu sprechen und gab mein Einverständnis durch ein leichtes Nicken, obwohl ich bezweifle, dass sie auf ein solches gewartet hätten. Mein einziger Gedanke strebte in mein Heim. Es würde sich wohl kaum in meiner Abwesenheit verändern, wie auch, keine Farbe würde sich selbst auftragen, keine Möbel sich selbst verrücken und keine Bilder würde ich an der Wand finden. Die Staubschicht einiger Wochen würde in der von vielen Jahren wohl nicht bemerkbar sein. Und dennoch umklammerte mein Herz das bange Gefühl, dass sich in dieser kurzen Zeit alles verändert hatte.
Die neue Station unterschied sich kaum, von der anderen. So, wie sowieso alles hier gleich erschien, alles so freundlich, hell und fröhlich, wie sehr vermisste ich das Dämmerlicht in meinen Wohnraum, das Surren der kaputten Lampe in meiner Küche, die grauen Wände. Die Rehabilitation war lächerlich. Ich musste meine Arme und meine Beine unter ärztlicher Aufsicht bewegen und durfte erst nach einer weiteren Woche alleine Aufstehen. An diesem Tag beschloss ich auch, das helle warme Zimmer endlich hinter mir zu lassen. Da erinnerte ich mich erst wieder an das liegengebliebene Auto und stellte zum ersten mal Fragen über meinen Unfall. Der vermeintliche Ritter war ein alter Bauer gewesen, der sein Gemüse in die Stadt fahren wollte, um es dort gewinnbringender zu verkaufen. Nachdem er mich angefahren hatte, geriet er wohl in Panik und machte eine Vollbremsung. Wie durch ein Wunder überfuhr er nicht meinen Körper, der auf der Straße liegengeblieben war, sondern eine große alte Eiche, die nur einige Meter neben meinem Auto stand. Durch die Geschwindigkeit und das Gewicht der Ladefläche wurde das Führerhaus des Kleinlastwagens vollkommen zerquetscht. Der Fahrer dürfte nicht lange danach gestorben sein, er hatte seinen Sinn des Lebens nun wohl endlich gefunden, im Gegensatz zu mir. Erst in den frühen Morgenstunden wurden wir beide aufgefunden. Von der Frau des Bauern, die vergebens die ganze Nacht gewartet hatte. Es kam zu keiner Anzeige oder gar zu einem Prozess, da der Schuldige dieses tragischen Unfalls sein Leben gelassen hatte. Seine Versicherung ließ meinen Wagen reparieren und in die Garage des Spitals bringen. Auch meine Krankenhausrechnung war wohl schon bezahlt. Der Gedanke an den armen Bauern war mir nicht lieb, und so verschob ich ihn rasch und fragte lieber, wann ich endlich nach Hause könne. Der Arzt war nach langem Bitten einverstanden mich sofort gehen zu lassen, wenn ich zu Hause meine Übungen weiter machen und die Medikamente einnehmen würde. Versprechungen sind schnell gemacht und eigentlich nichtig, da so oder so nicht einhaltbar, so konnte ich knapp eine Stunde später die frische Luft der Stadt atmen. Der Herbst machte sich inzwischen sichtbar, die Bäume verfärbten ihr Laub und der Wind heulte mit frischem Schneegeruch von den Bergen herab. Kaum stand ich vor meinem Wagen erblickte ich auch schon den Stapel Papier auf dem Beifahrersitz. Da ich schon in der Stadt war, wollte ich mein Manuskript auch gleich in den Verlag bringen. Ich fühlte nicht dasselbe als ich nach den beschriebenen Blättern griff, keiner meiner Kreaturen meldete sich zu Wort. Alles blieb stumm und gleichgültig. Ob sie wohl mehr Schaden erfahren hatten durch den Unfall. Rasch blätterte ich es durch, aber jeder Buchstabe befand sich auf seinen Platz. Einzig ein paar Schmutzflecken von dreckigen Fingern, wohl die der Einsatzkräfte, waren zu erkennen. Schnell nahm ich das Bündel zu mir und entschied mich, den Weg in das nahegelegene Verlagsgebäude zu Fuß zu machen. Ich würde wohl kaum in die Büroräume hinaufsteigen, die Rezeptionistin könne das Manuskript ebenso gut abgeben, wie ich selbst. Außerdem wollte ich nicht auf die vielen Fragen des Verlegers eingehen müssen. Warum ich mich so lange nicht gemeldet hätte? Warum ich kein Interview geben wolle? Ja, warum ich nicht mal auch etwas mit meinem richtigen Namen veröffentlichen wolle. Er kennt meine ernsthaften Arbeiten schemenhaft. Einst habe ich sie ihn in meinem jugendlichen Leichtsinn gezeigt. Aber niemals würde je ein Mensch wieder in jenen Papieren blättern dürfen. Sie würden es nicht verstehen, wenn sie die Arbeit vielleicht als literarisch bezeichnen würden. Das hatte keine Bedeutung. Was mein ist, ist mein, und wird es bleiben.
An der Rezeption war wieder die freundliche junge Frau, die schon seit Jahren hier saß. Sie fragte niemals weiter und machte stets das, was man ihr auftrug, ohne einen mit unwichtigen Geschwätz zu stören. Bei näherer Betrachtung könnte man sie wohl auch als schön bezeichnen oder zumindest als hübsch. Großer Wuchs, schlanke, taillierte Statur, Rehaugen und ein galantes Lächeln, das weiße regelmäßige Zähne entblößt. Eigentlich könnte sie fast eine Heldin sein. Ob sie wohl meine Bücher liest? Diese Ausgeburten der Hölle in ihren teuflischen Welten. So nahm sie auch dieses mal die losen Blätter an sich und heftete eine Notiz darauf, damit sie es später ja in den richtigen Raum bringen würde. Mit Wohlwollen nickte ich ihr noch einmal zu bevor ich das Gebäude verließ. Mit Wohlwollen....mit Wohlwollen, was ging mich diese fremde Frau an? Interessierte ich mich auch nur im Entferntesten für sie? Nein, sie war mir einerlei wie alle anderen. Da laufen sie durch die Straßen, ohne den anderen anzusehen, ohne etwas von den anderen zu ahnen. Einsamkeit umschloss auch sie, die erstickende Einsamkeit, nur sie würgten und quälten sie mit Vergnügungen, sogenannten Freunden und sonstigen Ablenkungen. Das Fernsehen, das Radio, die Zeitungen, die Unterhaltungsindustrie, die Freizeitparks, alles war darauf ausgerichtet, sie abzulenken vom wirklichen Leben. Sie hatten nicht den Mut in den Abgrund ihres Seins zu blicken und sie mussten ihn auch nicht haben. Sie formierten sich in Gruppen, Familien, Freundeskreise und lenkten sich gegenseitig vom eigentlichen wahren Ich ab. Es gib kein Überich und es gibt kein Es in uns, einzig und allein der Schlund der Einsamkeit durchbricht uns und macht uns Menschen zu lebenden Wesen. Der Trieb das zu Vergessen scheint jedoch größer als alles andere in ihnen. Sie umgeben sich mit anderen, hängen ihren oberflächlichen Gefühlen von Liebe und Hass nach und denken das wäre es dann gewesen. Aber dann am Sterbebett holt es sie ein, sie werden plötzlich religiös nur weil sie sich nicht eingestehen können, dass sie hier und dort nur sie sind und alleine. Niemand kann sie dort mehr trösten. Ich bin vorbereitet. Ich weiß was auf mich zukommen wird, wenn ich sterbe. Ich werde nicht überrascht werden von meinen eigenen Ich von der Einsamkeit des Seins und des Nichtmehrseins, oder des Gewesenseins. Ja, mein lieber Herr Freud, du hättest dich lieber um das Sein kümmern sollen und nicht um das stupide Ich. Ich ist die Welt, Ich ist das Leben, doch das Sein ist die Einsamkeit und die Einsamkeit das Sein.
 
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