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7 Seiten

Drei Freunde

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Vorwort

Wenn einem jungen Menschen, bei dem sich neue Eindrücke noch prägend eingraben können, ein seltenes nicht wiederholbares Erlebnis begegnet, dann ist dies ein Geschenk mit bleibendem Wert, weil es Eingang findet in seine Lebenserinnerungen. Diese Erinnerungen sind oft aber auch schmerzhaft, weil sie unveränderbar sind, weil Fragen unbeantwortet bleiben – aber auch, weil man mit den Erinnerungen irgendwann allein ist, weil man niemanden mehr fragen kann „Weißt Du noch?“.



Hier soll die Rede sein von drei Freunden, jeder mit einer unverwechselbaren, kantigen Individualität: Willi, Heini und Heinz.

Zu ihnen paßte die Landschaft, in der sich ihr Leben abspielte, am Rande eines Moores und in der Mitte ein träger Flußlauf, vereinzelte Baumgruppen, hier und da ein Gehöft im flachen Land, das von kleinen Kanälen durchzogen wird. In den sauren Weiden vereinzelt Wollgras, das in seinen weißen Federbüschen das Licht einfängt und dieser eher ernsten Landschaft hier und dort unvermutete Heiterkeit verleiht.

Hier also lebten die Drei. Wenn sie sich gewöhnlich einmal die Woche in Willis Kneipe an dem Flußlauf trafen, dann war ihr Redefluß eher knapp. Sie kannten sich seit ungezählten Jahren. Sie waren in diesem abgeschiedenen Winkel aufgewachsen, mit seinem Leben, das so beschaulich dahinfloß wie der Fluß. Und hier würden sie auch sterben, einer nach dem anderen. Und wenn sie bis spät abends an einem der drei großen Holztische bei Willi mangels Elektrizität bei Kerzenschein zusammen saßen, dann mochten sie wohl ein ums andere Mal darüber nachgedacht haben, wer von ihnen als Letzter übrig bleiben würde. Entgegen der Wahrscheinlichkeit war es dann Willi, der Älteste von ihnen, der die beiden anderen überlebte. Das Schicksal hatte nämlich seltsam gewürfelt. Aber ich will nicht vorgreifen.

Willi besaß also die Kneipe am Ufer des besagten Flußlaufes, fernab von der nächsten menschlichen Ansiedlung. Sie hatte drei Räume: den Gastraum, dessen verrauchte Wände auch von bekannten Künstlern mit Gemälden verziert worden waren, die ihre Zeche nicht bezahlen konnten. An diesen schloß sich das Schlafzimmer von Willi und seiner Frau an, die sie alle, ob jung oder alt, mit „Tante Else“ anredeten. Dieses Schlafzimmer diente im übrigen auch als Lagerraum. Und dann führte noch eine steile Stiege zu einem Dachraum, den keiner betreten durfte, und der verschlossen blieb. Später installierte Willi in einem Schuppen ein kleines Elektrizitätswerk mit vielen ausgedienten LKW-Batterien, was die Gaststube dann in ein schummriges 12-Volt-Licht tauchte.

Willi war ein solcher Hüne von Kerl, daß seine Else unsichtbar blieb, wenn sie hinter ihm stand. Er hatte riesige Pranken, die nicht selten blaue Flecken an Körpern von Frauen hinterließen, die schon mal mit ihren Männern ihr Boot am Anleger der Kneipe festmachten.
Die meisten Frauen kannten die blitzschnellen Handgreiflichkeiten von Willi jedoch und setzten sich außer Reichweite von ihm an den Tisch. Aber vereinzelt kam es auch vor, daß Frauen das herbe Streicheln von Willis Händen zuließen, jedoch erst zur vorgerückten Stunde, wenn man den meist betrunkenen Ehemann zum Ausschlafen ins Boot gehievt hatte. Beiläufig sei bemerkt, daß sich diese Ehemänner dann anderen tags darüber wunderten, daß Willi gewöhnlich auf die Bezahlung ihrer Zeche verzichtete.
Seine kränkliche Frau Else bekam von all dem wenig mit, denn sie ging abends frühzeitig zu Bett. Aber manchmal ließ sie ihr Bett von den Gästen in den Schankraum schieben und nahm von hier aus am geselligen Treiben teil, wobei sich Willi dann weitgehend beherrschte, denn er fürchtete wie so mancher kräftige Mann den gewaltigen Zorn seiner kleinen Frau.

Die Gäste bei Willi- eigentlich müßte man von Besuchern dieses Raritätenkabinetts sprechen – also die Gäste waren allermeist normale Menschen, oft Wassersportler oder Wanderer. Aber da gab es auch einige Maler, die immer wieder die Landschaft mit ihrem wechselnden Licht einzufangen versuchten. Einmal betrat ein bereits sehr bekannter Maler Willis Gaststube und setzte sich mit knappem Gruß „Moin" zu Willi an den Tisch, der gerade ein Nickerchen machen wollte. Willi stellte ihm den obligaten Klaren hin, den der Maler mit einem Nicken zur Kenntnis nahm. Nach einer geraumen Weile deutete Willi mit einem „hmhm" an, daß er zu einer Konversation bereit sei, die dann auch tatsächlich wie folgt zustande kam. Was er denn von der atomaren Bedrohung durch den Osten halte, wollte Willi von seinem Gast wissen. „Gar nichts", antwortete dieser. Es entstand eine nachdenkliche Pause, die Willi mit „Und warum nicht?" unterbrach. Der bekannte Maler lehnte sich zurück, strich sich bedeutungsvoll über seinen Backenbart und führte dazu dann folgendes aus: „Willi, Du mußt wissen, daß ich ein gutes dutzend Mal verheiratet war, dazu kommen noch etwa ebenso viele außereheliche Beziehungen. Kurzum, ich habe eine stattliche Kinderschar, deren Zahl ich jedoch nicht genau beziffern kann. Wird wohl das eine oder andere davon im Ernstfall überleben." Man erzählt sich, daß sich unter den ehelichen Frauen des Malers auch eine Admiralstocher befunden habe, und daß der Admiral während der Hochzeitsfeierlichkeit mit auf dem Rücken verschränkten Armen auf und ab gegangen sei, immer wieder murmelnd: „Watt een Unglück, watt een Unglück."

Aber im Winter, wenn der kilometerlange Weg zur Kneipe unpassierbar war, und auch die Wassersportler ausblieben, dann waren die drei Freunde meist unter sich, sahen schweigend durch die kleinen Fenster in die Dämmerung hinaus, oder wechselten schon mal ein paar spröde Worte, wenn der Korn ihre Zunge etwas gelockert hatte. Einmal allerdings begrüßte Willi seine beiden Freunde, vor der Kneipentür auf sie wartend, mit einem gewaltigen Redestrom, in dem die beiden Freunde keinen Zusammenhang entdecken konnten, sondern des öfteren nur die Worte „große Schweinerei“ vernahmen. Als dann die Drei endlich am Tisch saßen, und Willi auf Bitten der anderen aufhörte mit seiner Faust auf den Tisch zu schlagen, so daß der Köm nicht mehr aus den Gläsern schwappte, und als seine Freunde ihn dazu überreden konnten, mal der Reihe nach zu erzählen, stellte sich folgendes heraus. Das Ordnungsamt des Kreises war in Willis Kneipe aufgetaucht und hatte erst mal einige Gläschen auf Willis Wohl und Kosten geleert; diese Verbrecher, wie Willi meinte. Dann hätten sie Willi doch tatsächlich aufgefordert, die von den Künstlern bemalten und zugegebenermaßen stark verrauchten Wände aus hygienischen Gründen binnen vier Wochen mit wasserfester Farbe weiß zu übertünchen. Nun kam auch bei den beiden Zuhörern helle Empörung auf, die noch Tage anhielt. Man wollte sogar einen Protestmarsch organisieren. Doch zuvor geschah ein sehr seltenes Wunder, denn die Behörde sah auf den leichtem Druck des Oberkreisdirektors hin ihre Fehlleistung ein. Anstattdessen entschied sie aber, daß mit sofortiger Wirkung immer ein gefüllter Eimer mit Brandkalk neben dem Plumpsklo draußen zu stehen habe.

Heini, der Zweitälteste, bewohnte der Kneipe gegenüber am anderen Ufer des Flusses ein wunderschönes und sehr altes Fachwerkhaus, das einem Holzhändler gehörte. Dieser ließ sich dort jedoch selten sehen. Umso häufiger jedoch seine beträchtlich jüngere Frau, deren helles Auflachen Willi am anderen Ufer nicht selten nervös machte. Heini war zwar etwas kleiner als Willi, aber nicht weniger kräftig in seinen Gliedern. Das mag der Grund dafür gewesen sein, daß auch die Freundinnen der Holzhändlerfrau gelegentlich bei Heini die dann geteilte Einsamkeit aufsuchten und genossen. Da dieses Haus aber keinerlei Zuwegung besaß, mußten die Damen aus der weiter entfernten Großstadt am Ende ihrer Reise noch einen etwas zweistündigen Fußmarsch auf sich nehmen, um sich dann, wie gesagt, dieser geteilten Einsamkeit hingeben zu können. Es kam aber auch vor, daß Heini eine Dame in seinem Einbaum zu Willi rüberstakte, der sich auch oft genug einsam fühlte, und dies Heini gegenüber häufig und vorwurfsvoll beklagte. Es versteht sich, daß Heini dann auf Willis Kosten trank, bevor er schließlich alleine in seinem Einbaum zurückstakte. Es ist im übrigen nicht auszuschließen, daß bei solchen Anlässen der verschlossene Dachraum bei Willi seine Bestimmung fand. So gesehen war die Kneipenwirtschaft wegen der oftmals gezeigten, diesbezüglichen Großzügigkeit von Willi für diesen kein wirklich einträgliches Geschäft. Daran änderte sich auch nichts durch Willis Nebenerwerb. Willi erhob nämlich von seinen Gästen einen so genannten Wegezoll, den er angeblich zur Reparatur des langen und desolaten Weges zu seiner Kneipe verwendete. An diesem Wegezoll änderte sich allerdings auch dann nichts, als die Bundeswehr diesen Weg großzügig und dauerhaft mit schwerem Gerät in Ordnung gebracht hatte.

Zurück zu Heini mit seinen blassblauen Augen und dem roten Vollbart. Das Geheimnis, wovon sich Heini ernährte, wurde nie gelüftet. Ob der Holzhändler ihm für das Aufpassen seines Hauses etwas bezahlte, war fraglich. Eine Rente hatte er zudem nicht zu beanspruchen. Heini war zwar in grauer Vorzeit Sparkassenangestellter gewesen, hatte aber als solcher einen unrühmlichen Abgang gefunden, als er nämlich in einem Spielkasino entdeckt wurde und damit auch seine Unterschlagungen. Verbittert hatte er sich dann bereits in jungen Jahren zurückgezogen und lebte dort fortan als Einsiedler. Es ist jedoch zu vermuten, daß ihn besagte gnädige Damen in natura aber auch mit Kleingeld alimentierten, das es ihm erlaubte, bei Willi nicht zu stark in der Kreide zu stehen. Heini verließ einmal jährlich das Haus und begab sich auf die Reise in die entfernte Großstadt. Dabei machte er bei Heinz Station, schlug mit dem knorrigen Spazierstock mitten in der Nacht gegen die geschlossenen Blendläden und rief: „Heinz mach up, Heini is do.“ Morgens zog er dann weiter zur Großstadt. Und seine beiden Freunde vermieden es, ihn nach dem Zweck dieser Reisen zu fragen.

Und so kommen wir nun zu Heinz, dem jüngsten und kleinsten der Drei. Heinz war nicht ängstlich im eigentlichen Sinne. Aber er witterte bei allem eine Gefahr. Deshalb hatte er sein Häuschen hinter undurchdringlichen Fichten versteckt. Auch Heinz fühlte sich einsam, obwohl auch er verheiratet war oder vielleicht gerade deswegen. Er war als Forstgehilfe ausgebildet, weswegen er zum Leibjäger eines Industriellen avancierte und mit dessen jungem Sohn eine echte aber irgendwie ungleiche Freundschaft schloß. Und umgekehrt empfand der Sohn diese Freundschaft noch intensiver. Heinz war im Krieg gewesen. Und wenn der Klare bei ihm zu wirken begann, stieg er nicht selten bei Willi auf den Tisch und schmetterte Soldatenlieder. Die beiden anderen riefen dann erfolglos: „Nee Heinz, nich schon wedder!“ Bei einer dieser Gelegenheiten ist er dann mal stumpf vom Tisch gefallen, wobei sein Kopf nur um Millimeter die scharfe Kante des gußeisernen Ofens verfehlte. Seine beiden Freunde bugsierten ihn dann in sein Boot und ließen ihn dort gut eingepackt die Nacht über liegen. Sein Rauhaardackel „Bürschl“, der gewöhnlich immer bei Heinz schlief, bestand dieses Mal darauf in der Kneipe zu übernachten.

So verbrachten die drei Freunde in den dahinfließenden Jahren ungezählte Abende in Willis Kneipe, wobei Willi schon mal von seiner Zeit bei der christlichen Seefahrt berichtete und dann auch schon mal übertrieb, und Heini, der Naturexperte, manchmal die stillen Freunde aufforderte noch stiller zu sein, weil er draußen in der Nacht die Rückkehr der „Ziegenmelker“ vernahm, und Heinz, wie gesagt, ab und an seine Einlagen mit den Soldatenliedern gab.

Dergestalt hätte es noch viele Jahre weitergehen können. Aber das Schicksal würfelte anderes. Als eines nachts Heini auf dem winterlich kalten Fluß und nicht mehr ganz nüchtern in seinem Einbaum zu sich zurückstakte, muß er wohl das Gleichgewicht verloren haben. Er erfror oder ertrank in dem Fluß, oder beides. Und nach alter Sitte wurde er auf dem Wasserwege zu Grabe gefahren. Man berichtet, daß auffallend viele schwarz gekleidete und verschleierte Damen an seinem Grab getrauert hätten.

Heinz kam später mit seinem restlichen Leben nicht mehr klar und hat sich erschossen. Sein jüngerer Freund, der Sohn des Industriellen, hat dann viel später einmal sein Grab aufgesucht, als er schon längst in einer anderen Gegend wohnte.

Und Willi, der Älteste, war wie eingangs schon erwähnt, übrig geblieben, denn auch Else, seine Frau, war vor ihm gestorben. Sein genaues Ende ist nicht überliefert. Irgendwann vor seinem Tod hat er den Sohn des Industriellen um Mitternacht angerufen und ihm zu seinem Geburtstag allzeit zwei Handbreit Wasser unterm Kiel gewünscht.

Und das wunderschöne Haus des Holzhändlers mit den großen Flügeltüren zum Fluß hin, mit seinem offenen Kamin und den Delfter Kacheln ist dann später durch Brandstiftung bis auf die Grundmauern abgebrannt. Aber das ist eine andere Geschichte.

Ja, so war das damals vor über 40 Jahren.



15. August 2005


Nachwort

Viele lange Jahre später kam der Sohn des Industriellen von weither hierhin zurück, um endgültig Abschied zu nehmen, diese immer wiederkehrende Beschwerlichkeit seines Lebens.

Spät nachmittags betrat er die Schankstube. Und wie damals saßen wieder drei Männer bei Dämmerlicht an demselben Tisch. Mit einer Handbewegung wurde er aufgefordert ihnen Gesellschaft zu leisten. Die Wirtin brachte ihm einen Schnaps, während er eingehend seine Umgebung musterte. Nichts hatte sich verändert. Alles war an seinem Platz. Die Zeit schien sich nicht bewegt zu haben.
Die Drei musterten ihn schweigend. Einer von ihnen fragte ihn sodann, indem er die Kerzen auf dem Tisch anzündete, denn das elektrische Licht, das es nun ja gab, hätte gestört, er fragte den Ankömmling also, warum er sich so auffällig für seine Umgebung interessiere. Und dieser antwortete nach einer bedächtigen Minute: „Nun, wenn Sie denn ein wenig Zeit und Muße haben, dann hören Sie sich an, was ich zu erzählen habe.“ Und er erzählte ihnen den Teil seiner Jugend, den er hier erlebt hatte, so gut er konnte, denn manchmal drohte ihn die Erinnerung zu übermannen.
Als er geendet hatte, hörte man nur das Ticken der Wanduhr, die seit damals den Lauf der Zeit anmahnte.
Die Wirtin ergriff als erste das Wort: „Das ist ja unglaublich. Da kommt ein Fremder von weither und berichtet uns, wie es damals hier gewesen war.“
Und er musste noch so manches nachtragen.

Bei vorgerückter Stunde nahm er dann endgültig Abschied.
Was bleibt, ist die Erinnerung. Wohl dem, der sie ertragen kann, oder dem sie tröstlich ist.
 
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Kommentare  

Sehr schön geschrieben, wenn auch mit einer gewissen schriftstellerischen Freiheit.

Heinz Scheppelmann (20.01.2006)

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