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Als der Mond Trauer trug

Trauriges · Kurzgeschichten
Er stand auf einem Felsvorsprung und blickte hinunter ins Tal. Seit langen Jahren und in vielen schneereichen und harten Wintern hatte er sein Rudel umsichtig und unangefochten bis zum heutigen Tag angeführt. Er hatte auf Ordnung geachtet und auch dafür gesorgt, dass die weiblichen Tiere als erste ihren Anteil an der Beute erhielten. Unterstützt wurde er dabei von einer dominanten Wölfin, die auch auf jeder Pirsch den Platz hinter ihm einnahm. Und wenn der Tag seines Ausscheidens aus dem Rudel gekommen sein würde – etwas anderes war für einen Leitwolf nicht vorgesehen - , dann würde sie seinen Platz einnehmen und das Rudel solange führen, bis ein anderer Wolf in der Regel von außerhalb des Rudels imstande war, sie wieder auf den zweiten Platz zu verweisen.

So stand er bewegungslos auf diesem Felsenvorsprung. Das Rudel lag hinter ihm in einer Fichtenansammlung und ruhte sich von dem nächtlichen Streifzug aus. Diese Ruhe gönnte er sich selten. Meist hielt er Wache. Wenn er sich aber schon mal ausruhte, lag er abseits von den anderen, und sein Schlaf war dann ohnehin nie tief. Nur die Leitwölfin durfte sich gelegentlich neben ihn legen. Im übrigen duldete sie keine andere Gefährtin in seiner Nähe. So hatte sie als einzige Nachwuchs von ihm in die Welt gesetzt. Und dieser hatte sich dann später einen Platz in anderen Rudeln erkämpft oder in selteneren Fällen eigene Rudel gegründet, meist, wenn der Vater sein starkes Blut an einen Sohn vererbt hatte, das diesen dann seinerseits als Leitwolf bestimmte – mit eben diesem Schicksal seines Vaters als Führer.

Er hatte manche Verletzungen davongetragen, nicht selten in entbehrungsreichen Wintern, wenn er im ungleichen Kampf mit einem Bären um eine Beute kämpfen mußte, wobei ihn allerdings in der Regel die stärkeren Wölfe des Rudels unterstützten.

Die schräg stehende Sonne ließ ihn hier auf dem Felsvorsprung noch größer erscheinen. Aber sein ehemals bläulich schimmerndes, schwarzes Fell war stumpf geworden. Auch schmerzten ihn seine Glieder, was nicht nur von seinem fortgeschrittenen Alter herrührte, sondern auch von einem Sturz, den eine Schneelawine im vergangenen Winter verursacht hatte. Er ahnte, dass der Tag des Ausscheidens aus dem Rudel und somit seiner Einsamkeit bevorstand. Dieses Lebensgesetz war in ihm angelegt, und er würde es dann teilnahmslos befolgen. Er würde das Rudel verlassen und irgendwann geschwächt verhungern. Heute jedoch stand er, der Größte unter allen, in der untergehenden Sonne stolz und wissend auf dem Felsen, prüfte die Windrichtung, die mannigfaltigen Gerüche und erkundete unter sich das Gelände nach Bewegungen.

Als Leitwolf war ihm noch der Rest dieses Sommers gewährt. Aber dann kam besagter Tag mit der für gewöhnlich beginnenden Einsamkeit.

An diesem Tag verließ er abrupt das Rudel, wobei von ihm zwar eine große Last abfiel, aber er auch wußte, was ihm zukünftig bevorstand. Die Anderen setzten ihren Weg fort, ohne dass sie ihm in diesem Augenblick Beachtung zu schenken schienen, außer der kleinsten und rangniedrigsten Wölfin. Er hatte sie einmal aus einer lebensgefährlichen Situation mit einem Bären befreit. Nun löste sie sich aus dem Rudel und wollte ihm folgen. Doch er drehte sich um und gab ihr gebieterisch zu verstehen, dass ihr Platz im Rudel sei. Dann entfernte er sich. Sie verharrte zögerlich und folgte ihm sodann in gebührendem Abstand. Diesen Abstand hielt sie auf ihrer gemeinsamen Wanderung mehr oder weniger auch dann ein, wenn sie sich ausruhten.

Als der Winter und damit der Schneefall einsetzte, der das Jagen zunehmend erschwerte, zumal sie nun nicht mehr im Rudel jagen konnten, verringerte sich zwischen beiden zusehends dieser Abstand. Und als die Kälte und der Hunger am schlimmsten waren, lag sie zum Ausruhen plötzlich an seiner Seite. Und er ließ es zu.

In dem dritten gemeinsamen Winter ließen seine Kräfte so stark nach, daß es wahrscheinlich war, daß er bald verhungern oder erfrieren würde oder beides. Doch das Schicksal war ihm gnädig gesonnen. Ein Schneebrett hatte sich oberhalb von ihm gelöst. Mit seinen geschärften Sinnen hatte er die drohende Gefahr dieses Mal rechtzeitig erkannt, so dass er sich in Sicherheit hätte bringen können. Die Lawine begrub ihn tief unter sich. Die einstmals Rangniedrigste, seine Gefährtin mit dem mutigen Herzen, begann in wilder Panik sofort nach ihm zu graben, solange und vergeblich, bis ihre Pfoten anfingen zu bluten.

In der darauf folgenden sternenklaren Nacht stand eine kleine Wölfin auf einer Bergkuppe und klagte heulend den Mond an, vor den sich eine schwarze Wolke schob.


11.IX.2005
 
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Kommentare  

Ungewöhnliche Perspektive, wunderschön erzählt.
Du entführst einen in einem so kurzen Text in eine Traumwelt, aus der man nur schwer wieder zurück findet, weil du so nüchtern und doch gefühlvoll erzählst.
Eine tolle Geschichte.
LG Lena


Lena N. (16.09.2005)

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