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18 Seiten

DAS GAMSBICHLER-ULTIMATUM, Roman von TASSO TATTERSALL

Amüsantes/Satirisches · Kurzgeschichten
Kidnapping

Den Parteifunktionären, die in der Kleinstadt Hengstenberg das Sommerfest der Christlich-Sozialen Union organisierten, war ein großer Wackerstein vom Herzen geplumpst. Das Wetter hätte im gesamten bayerischen Voralpenland an diesem Julitag gar nicht besser sein können, sodaß das jährlich veranstaltete Fest wie geplant im Freien über die Bühne gehen würde. Eigentlich unterschied es sich in nichts von anderen Veranstaltungen dieser Art, außer daß heute wesentlich mehr Touristen als sonst gekommen waren. Begonnen hatte das festliche Treiben, das nicht zuletzt der Brauchtumspflege diente, am frühen Nachmittag mit einem personalintensiven Fanfarenzug, der im zwanglosen Gleichschritt durch die Straßen der herausgeputzten Ortschaft gezogen war und seit Jahrhunderten überlieferte Märsche geschmettert hatte, darunter auch den weit über die Grenzen des Freistaates hinaus bekannten bayerischen Defiliermarsch. Danach war, während in einem kleinen, an den Seiten offenen Zelt das umfassende Kinderprogramm ablief, auf dem sonnenbeschienenen und von geschmückten Fachwerkhäusern umstandenen Marktplatz ein erbitterter Wettkampf im sogenannten bayerischen Triathlon ausgetragen worden. Die Konkurrenten maßen sich in Disziplinen wie Fingerhakeln, dem Dauerstemmen von vollen Maßkrügen und dem Draufhauen mit dem Holzhammer auf eine extra für den Wettkampf angefertigte und ‚Hau den Lukas‘ genannte Vorrichtung. Den eindeutigen Sieg hatte ein waschechter vierundzwanzigjähriger Wehrpflichtiger aus der nächstgelegenen Stadt errungen, der sechs Monate zuvor zu den Fahnen geeilt worden war, und sich für seinen Triumph von den frenetisch Beifall klatschenden Schaulustigen orderntlich feiern lassen.
Nun saßen die Gäste des zünftigen Volksfestes auf langen Holzbänken unter freiem Himmel, die landestypischen Kaltgetränke, den nach Hausmacherart zubereiteten Schweinebraten und die Semmelknödel vor sich auf dem Tisch. Diejenigen, die sich für Politik interessierten, warteten mit zunehmender Ungeduld auf den amtierenden bajuwarischen Innenminister Alois Hundhammer, der um 17 Uhr eine mindestens halbstündige Rede halten sollte, ehe man zum gemütlichen Teil des milden Sommerabends übergehen würde. Die anderen, eher unpolitischen Festbesucher fingen schon vorher an, sich unter der beschwingten musikalischen Begleitung einer mit Originaltrachten verkleideten Blaskapelle kräftig einen hinter die Binde zu gießen. Der Streifzug durch traditionelles deutsches Liedgut brachte sie mächtig in Stimmung.
Mit einer zwanzigminütigen Verspätung, die er dem immensen Termindruck verdankte, traf der Innenminister auf dem Marktplatz ein. Hengstenberg lag mitten in seinem Wahlkreis, sodaß es für ihn heute Abend ein leichtes Heimspiel sein würde. In Begleitung zweier weiterer Fahrzeuge, in dem vier Leibwächter saßen, lenkte sein langjähriger Chauffeur die gepanzerte und mit kugelsicheren Scheiben ausgerüstete schwarze BMW-Limousine neben der katholischen Zwiebelturmkirche auf den Stellplatz, der von der mitdenkenden CSU-Kreisleitung seit dem Morgen freigehalten worden war. Hundhammer, ein in der Wolle gefärbter Rechter, Fachmann für angewandten Populismus und heftiger Verfechter von Recht und Ordnung, spannte seine ganze Vorzeigefamilie in die Wahlkampagne ein, wenn auch nicht am heutigen Tag. Aufgrund der guten Erfahrungen, die er mit den Zivilbeamten des Bundeskriminalamtes gemacht hatte, verzichtete er auf offene Polizeipräsenz, die sein Image als Mann des gemeinen Volkes beeinträchtigen würde. Allzu martialische Auftritte schienen ihm nicht das richtige Mittel zu sein, die Herzen und Hirne noch unentschlossener Wähler zu gewinnen. Außer einigen wenigen Verkehrspolizisten, welche die Fahrzeuge der Ortsunkundigen um den abgesperrten Marktplatz herumlenkten, waren weit und breit keine Uniformierten zu sehen.
Der überaus gestreßte Minister der bayerischen Staatsregierung legte die wenigen Meter zur schmalen Seite des Marktplatzes zu Fuß zurück. Vom CSU-Ortsvorsitzenden, der über Handy von Hundhammers verspätetem Eintreffen unterrichtet worden war, angekündigt, enterte Hundhammer mit raschen federnden Schritten, die ungebrochene Jugendlichkeit beweisen sollten, die Bühne. Links und rechts davon ließen zwei ausschließlich für die Begrüßung und Verabschiedung des Festredners geholte Musikusse, deren rosig angehauchte Wangen stark durchhingen, die in der Abendsonne glänzenden Trompeten für einen kurzen Tusch erklingen. In den anfänglichen Beifall, den die mehrheitlich CSU wählenden Einheimischen spendeten, mischten sich nur wenige, zum überwiegenden Teil von Touristen ausgehende Pfiffe und Buh-Rufe. Die in dunklen Anzügen steckenden Sicherheitsbeamten, die alle einen kleinen Knopf im Ohr und schwarze Sonnenbrillen auf der Nase hatten, verteilten sich ebenfalls um die Bühne, wobei sie die vorübergehend untätigen Trompetenvirtuosen in ihrem Rücken hatten. Der konservative Hardliner benahm sich so, als stünde die Dreiviertelmehrheit der CSU bei den kommenden Landtagswahlen bereits fest, und arrangierte seine Arme in siegessicheren Posen, damit die zahlreich zum Lokaltermin erschienenen Provinzreporter etwas Verwertbares zum Schreiben und Fotografieren bekamen. Nachdem die positiven und negativen Reaktionen aus dem teilweise alkoholisierten Publikum leiser geworden waren, zog der angesehene Politiker sein nicht mehr faltenfreies Jacket aus, löste das Mikrofon von dem hohen Dreibeinständer und legte in freier Rede los, daß es eine wahre Pracht war. Seine zum zwanzigsten Mal abgespulte Standardwahlkampfrede beinhaltete die erprobte Mischung aus sachlicher Faktenhuberei und hochemotional vorgetragener Verunglimpfung des politischen Gegners SPD, der in Bayern seit Einführung des Parlamentarismus im Jahre 1948 eine eher marginale Rolle spielte. Er zog über die realitätsfremden EU-Kommissare im fernen Brüssel her, wetterte gegen den erlahmten Reformeifer der deutschen Regierung, zieh den ungeliebten Bundesumweltminister des Öko-Stalinismus und geißelte den allgemeinen Sittenverfall, der sich in sämtlichen Gesellschaftsschichten breitmachte. Nur in Bayern, dem Heimatland der Freien und Tapferen, war seiner Auffassung nach die Welt noch in Ordnung. Die mitreißende Rede, die ihn ins Schwitzen brachte und ein paar Mal zum gemusterten Taschentuch greifen ließ, wurde wiederholt von zustimmendem Gejohle und Szenenapplaus der rechts wählenden Mehrheit unterbrochen. Die Zuhörer feierten den mit vollem Körpereinsatz verbundenen Auftritt mit prasselndem Applaus.
Ehe Hundhammer das obligatorische Bad in der Menge nahm, ließ er sich erst einmal die Maß aller Dinge reichen, obwohl ihm die Bierspezialitäten der einheimischen Brauerei nicht besonders zusagten, und arbeitete sich durch die dicke Schaumschicht des schlecht gezapften Bieres an das eigentliche Getränk vor. Nachdem er etwa die Hälfte intus hatte, hörte er mit dem durstlöschenden Trinken auf, stellte das inhaltlich reduzierte Glas ab und wischte sich verstohlen mit dem Handrücken über den schmalem Mund, damit keine weißen Reste zurückblieben. Mit einer unmißverständlichen Geste signalisierte er seinen Schutzbeamten, daß er sich in Kürze unter die versammelten Bürger zu mischen gedachte. Zwei von ihnen wollten sich gerade in Marsch setzen und sich als schützende Puffer vor den, wie sie fanden, leichtsinnigen Minister stellen, als sie in ihrem Armen jeweils einen unerhört schmerzhaften Stich wie von einer Biene spürten. Sie kratzten sich reflexartig an den betreffenden Körperstellen, maßen dem Vorfall jedoch keine große Bedeutung bei - bis von einer Sekunde auf die andere starke Lähmungserscheinungen am ganzen Körper auftraten, die für eine totale Bewegungsunfähigkeit sorgten. Die beiden Kollegen registrierten nicht, daß jenen die Muskeln nicht mehr gehorchten, denn auch sie waren auf einmal von Einstichen und dem mit ihnen zusammenhängenden lähmenden Einfluß auf ihre Gliedmaßen betroffen. Alle Vier kamen nicht mehr dazu, auf das von kaputten Biergläsern bedeckte Katzenkopfpflaster niederzusinken, weil ein unerwartet stürmischer Menschenauflauf begann, der sie vollkommen einkeilte. Darob ließen die volkstümlichen Musiker, die soeben erst ihre Tätigkeit wiederaufgenommen hatten, die Konzentration schleifen. Der erste große Pulk begeisterter CSU-Mitglieder war nach einer aus Höflichkeit resultierenden Verzögerung herangestürmt und bedrängte den neuen Hoffnungsträger Hundhammer, um ihm ihren schweren Bieratem ins Gesicht zu hauchen, die verschwitzten Hände zu schütteln und sich vorgefertigte Autogrammkarten mit Live-Unterschrift abzuholen. So stand der Innenminister auf einmal ohne jeden persönlichen Schutz mitten in der Menschenmenge, die von den Rändern her weiterhin starken Zulauf bekam, und war dem unkontrollierten Ansturm hilflos ausgeliefert. Es ging drunter und drüber, und seine beschwörenden Appelle an die Umstehenden, ihn in nicht ganz so enge Manndeckung zu nehmen, fruchteten nichts. So blieb ihm in dem chaotischen Durcheinander auch verborgen, daß ihn vier Personen, welche die gleiche Kleidung wie die regulären Leibwächter anhatten, in die Zange genommen hatten. Ganz im Gegensatz zu ihren Vorgängern führten sie jedoch. nichts Gutes im Schilde. Der Politiker fühlte, daß ihm ein harter Gegenstand ins Kreuz gedrückt wurde,
„Das ist eine Pistole“, zischte eine trocken raspelnde Stimme dicht neben seinem Ohr. „Bewegen Sie sich langsam zu Ihrem Wagen, sonst zerschießen wir Ihnen das Rückgrat. Alles klar?“
Die Mündung der 9 mm Heckler & Koch P 2000 erreichte selbst durch den dicken Stoff der Sakkotasche eine ausreichende Drohwirkung. Hundhammer, nicht darauf erpicht, als Politiker ohne Rückgrat beschimpft zu werden, nickte sprachlos und straffte unwillkürlich die Körperhaltung. Blinder Gehorsam war in solchen Fällen die einzige Lösung. Die vier zwischen 30 und 35 Jahre alten, unmaskierten Täter, welche die umgeschriebenen Rollen der ausgeschalteten BKA-Beamten über- nommen hatten, nahmen ihn unter ihre Fittiche und zogen und schoben ihn Meter für Meter in die gewünschte Richtung. Die ungeduldige Menschenmasse, die von dem Aushängeschild der Partei gar nicht genug bekam, drängte beharrlich mit, was dem entführenden Quintett zunächst nicht unrecht war, konnte es doch seine bösen Absichten im dichten Gedränge so leichter vertuschen. Hundhammer und sein neuer Begleitschutz mußten bei der direkten Konfrontation mit dem Publikum einige Federn lassen, doch hatten die teuren Anzüge bisher die Zerreißprobe bestanden. Inzwischen fragte sich der Einsatzleiter der Polizei, der in der Zentrale mit seinen Leuten vor Ort Funkkontakt hielt, ob der bedrängte Minister für Inneres tatkräftige Unterstützung bei der Zurückdrängung des Menge benötigte. Zur Sicherheit beorderte er einen in der Nähe befindlichen Polizeitransporter mit acht uniformierten Beamten in Richtung Marktplatz, die gerade ausstiegen, als Hundhammers Entführer an dem kleinen Parkplatz der katholischen Kirche mit dem goldenen Wetterhahn auf dem Turm anlangten. Denen kamen die unschlüssigen Ordnungshüter gerade recht. Wenn die losgelassenen Massen ihnen noch länger auf den Fersen hockten, würden sie nicht so schnell fortkommen.
„Der Minister hat eine kleine Unpäßlichkeit,“ sagte Waldemar Knorke, der Kopf der fünfköpfigen Bande, der sich wie ein Stoßkeil als erster durch das dichte Gedränge geschoben hatte. „Helfen Sie uns, ihn von hier wegzubringen.“
Die uniformierten Polizisten, die glaubten, es mit BKA-Beamten zu tun zu haben, befolgten die Anweisung und bildeten an der Zufahrt zu der schmalen Gasse einen Kordon, der die Anstürmenden weitgehend zurückhielt. Lediglich zwei dünne Jugendliche schlüpften durch die engen Maschen und liefen an dem Einsatzwagen vorbei, den die frohe Botschaft POLIZEI. DER BERUF. SO INTERESSANT WIE DAS LEBEN zierte. Dreißig Meter weiter wartete mit geöffneten Türen der große, dunkle BMW, in dem es sich der im Wahlkampf stark geforderte Fahrer bequem gemacht hatte. Sowie er registrierte, daß die Sicherheitsbeamten während der letzten Dreiviertelstunde ein anderes Aussehen angenommen hatten, hielt er es für dringend geboten, sich zu Wort zu melden.
„Ich glaub, ich seh‘ nicht recht. Habt ihr einen fliegenden Wechsel vorgenommen, oder was ist hier los?“
„So sieht‘s aus“, beschied ihn Knorke knapp.
Ohne dem Chauffeur länger Zeit zum Nachdenken zu geben, schob er den unter Schock stehenden Minister auf die Rückbank des Wagens, stieg dann selbst ein und knallte die hintere Tür auf der Fahrerseite zu, während zwei seiner Spieß- gesellen von der anderen Seite kamen. Der eine schwang sich energisch auf den Beifahrersitz, der andere warf hinter ihm druckvoll die verstärkte Tür ins Schloß, nahm dann Platz und beendete die Auslüftung der immer wieder mit Havannazigarren vollgequalmten Limousine. Damit der Innenminister keine irreparable Dummheit beging und eventuell einen Fluchtversuch unternahm, hatte man ihn vollkommen eingekreist, und der Fahrer wußte ebenfalls, was die Abendstunde geschlagen hatte, als der neben ihm sitzende Mann ihm in Bauchnabelnöhe dezent seine Pistole zeigte.
„Tun Sie, was wir Ihnen sagen. Dann wird Ihnen nichts geschehen. Wenn Sie den Helden spielen und eine trauernde Witwe zurücklassen möchten, ist das Ihre Sache.
„Ich bin seit dem vorigen Jahr geschieden."
„Sie Ärmster. Aber Sie haben doch Kinder?“
„Ja, eine Tochter.“
„Ist sie hübsch?“
Der Chauffeur ersparte sich eine Antwort, auf welcher sein neuer Beifahrer auch nicht bestand. Jener machte gleich einen Schnelltest, ob der Nebenmann zu einer vernünftigen Entscheidung gekommen war und sich kooperativ verhielt.
„Aufi geht‘s!“
Der Leibfahrer des Ministers zögerte ein paar Augenblicke, worauf ihm der äußerst ungeduldige Entführer den langen Lauf der Pistole in die Seite stieß.
„Aufi geht‘s, oder verstehen Sie kein Hochdeutsch? Ich habe einen nervösen Zeigefinger. Sie werden doch höchstens nach BAT VIII bezahlt, oder nicht? Dem besonders armseligen Tarif. Dafür sollten Sie nicht ihre körperliche Unversehrtheit riskieren.“
Der Bedrohte, von dem logisch klingenden Argument nicht unbeeindruckt, drehte mit zwei Fingern den baumelnden Zündschlüssel nach rechts, und brummend erwachte der Motor zum Leben. Zur gleichen Zeit wurden die nicht ganz so teuren Begleitfahrzeuge startklar gemacht, an deren Steuer sich die Entführer Nummer vier und fünf gesetzt hatten. Der erste Wagen rollte los, sogleich reihte sich die Limousine des gefügig gemachten Chauffeurs hinter ihm ein, und das dritte, ebenfalls nur mit einer Person besetzte Vehikel bildete die Nachhut. Wie an der Schnur gezogen fuhr der zwölfrädrige Kleinkonvoi unbehelligt vom Wahlvolk, das immer noch von den Polizeibeamten in Schach gehalten wurde, in der entgegengesetzten Richtung davon. Während der Fahrt wurde das Entführungsopfer leichthändig abgetastet, und der Truppführer konfiszierte gleich das UMTS-taugliche Handy für den Eigenbedarf. Der Chaffeur dagegen führte keine technische Krücke dieser Art mit sich.
Kurz darauf später entdeckten die auf dem Marktplatz verteilten Sanitäter, daß es sich bei den ungesund aussehenden BKA-Beamten nicht um normale Alkoholleichen handelte. Die barmherzigen Samariter nahmen ihre Arbeit sehr ernst, und die Leistung Erster Hilfe hatte erst einmal Vorrang gegenüber der Alarmierung der örtlichen Polizei. Bis sich deren Einsatzleiter mit dem Bayerischen Innenmisterium und dem Bundeskriminalamt ins Benehmen gesetzt hatte, verstrich weitere wertvolle Zeit.
Exakt 23 Minuten nachdem das tolldreiste Entführungskommando das verrostete und kaum noch leserliche Ortsausgangsschild der Stadt Hengstenberg hinter sich gelassen hatte, lösten die zuständigen Sicherheitsbehörden eine Ringfahndung aus. Zu diesem Zeitpunkt waren Hundhammer und seine rührend um ihn besorgten Betreuer schon längst in ein anderes Fahrzeug umgestiegen. Zur Vermeidung einer Massenpanik ging das Fest wie angekündigt mit den in Dirndln und kurzen Lederhosen steckenden Schuhplattlerinnen und Schuhplattlern weiter. Niemandem fiel weiter auf, daß die beiden Fanfarenbläser, deren Einsatz von den Organisatoren des vollauf gelungenen Festes gar nicht vorgesehen gewesen war, klammheimlich ihre Klangkörper verstaut und sich mit ihren dickgepolsterten Koffern davongemacht hatten.
Die Entführer hatten die geeignetste Fluchtroute vorher erkundet und wußten ganz genau, wo sie den persönlichen Fahrer des Ministers, den sie nur am Anfang gebraucht hatten, formlos loswerden konnten. Zwischen Hengstenberg und dem acht Kilometer entfernten Florishofen hielt der Konvoi abrupt am Landstraßenrand an, an einer Stelle, wo ein zerfahrerer Feldweg abzweigte. Knorke entsprang der scharf abbremsenden Ministerlimousine und riß die Fahrertür auf.
„Aussteigen! Wir brauchen Sie jetzt nicht mehr.“
Weil der Mann der scharfen Anordnung zu langsam gehorchte, ergriff der Entführer ihn am linken Oberarm und zog ihn nach draußen.
„Das können Sie doch nicht machen“, jammerte der aus der schönen Bischofsstadt Passau stammende Fahrer. „Wir sind hier mitten im Nirgendwo. Bis zur nächsten Stadt muß ich fünf Kilometer laufen.“
Von der landesspezifischen Renitenz ein wenig aus dem Tritt gebracht, drehte Knorke den Kopf in beide Richtungen, um zu sehen, ob hier zufällig gerade ein dieselqualmender Überlandomnibus vorbeikam. In dreihundert Meter Entfernung stand ein krumm gefahrenes Haltestellenschild vor einem überdachten, mit einer Sitzbank ausgestatteten Holzhäuschen.
„Paßt scho. Nehmen Sie doch den Bus“, erwiderte er und zückte seinen schweinsledernen Geldbeutel, in dem einige wenige Euro-Münzen klimperten. „Ich bin ja nicht ganz ohne Gefühl. Reichen zwei Euro?“
„Für den Bus? Sie haben doch nicht alle Latten am Zaun. Was glauben Sie, wie oft am Samstagabend hier Busse vorbeikommen?“
Der Anführer der Entführer, der sich nicht auf eine lange Diskussion einlassen wollte, griff in das Fach für die Geldscheine und überreichte ihm einen geglätteten Zehn-Euro-Lappen.
„Na gut, dann rufen Sie sich eben ein Taxi. Der Rest ist Trinkgeld. Genehmigen Sie sich auf den Schreck einen Schluck in der nächsten Wirtschaft.
„Auf Ihr Wohl werde ich nicht trinken.“
„Damit kann ich leben“, sagte der Anführer. „Und jetzt hauen Sie ab, sonst helfe ich mit einer Kugel nach. Schönen Abend noch. Pfüat di.“
Obwohl der gutgemeinte Wunsch nicht zurückgegeben wurde, schied das Ent- führungskommando von dem vorzeitig entlassenen Mann und nahm nach mehreren Metern das rasende Tempo wieder auf. Siebzehn Kilometer hinter Hengstenberg kam das erste Hinweisschild für die Bundesstraße B 23, und der Pilot des vordersten Fahrzeugs ordnete sich sofort nach rechts ein.
Nicht einmal zehn Minuten nach dem Beginn der Fluchtfahrt rollten die Flüchtenden auf den glatten Asphalt der von Rottach-Egern nach Garmisch-Partenkirchen führenden Straße, auf der sie bloß zwanzig Kilometer lang blieben. Sie fuhren in den Ort Griessbach nicht mehr hinein, sondern hielten vorher an einer versteckten und mit Schotter bedeckten Raststelle, die zur zweispurigen Straße hin von hohen, dicht belaubten Bäumen abgeschirmt wurde. Von dort konnte man nicht ohne weiteres erkennen, daß ganz hinten neben dem Grillplatz ein für drei Fahrzeuge ausgelegter Autotransporter stand, dessen Fahrer draußen schon sehnsüchtig seiner Kumpane harrte. Neben ihm saß ein zweiter Mann, der am Lenker eines der beiden Fluchtfahrzeuge sitzen würde. Direkt daneben parkten ein weißer VW-Bus, auf dessen stählernen Dachträger sechs Surfbretter festgezurrt worden waren, und ein silbergrauer Audi A6 1,8 T mit Quattro-Antrieb. Sofort quoll die ganze Truppe heraus, inclusive Hundhammer, dem man nicht eine Sekunde lang Unaufmerksamkeit schenkte, und einer schob schon mal die Seitentür des Busses nach links. Auf dem langen Vehikel gab es drei leere Stellplätze, die man für die Ministerlimousine und die beiden Begleitfahrzeuge freigelassen hatte. Hundhammer, gerade von einem Bewacher gefilzt, staunte Bauklötze, als der Fernfahrer des Transportfahrzeugs die alten Nummernschilder im Nullkommanix gegen neue austauschte. Dann wurden die servogelenkten Nobelkarossen bayerischer Provenienz auf den knirschenden Doppelstockaufbau des Mercedes Atego gelenkt, die Männer fixierten die Handbremsen und schoben stählerne Keile als zusätzliche Transportsicherung unter sämtliche Räder.“
„Wenn die Frachtpapier alle in Ordnung sind, kannst du abfahren“, eröffnete Knorke dem Schwerlastfahrer, der bereits startbereit in seinem für drei Personen ausgelegten Führerhaus saß.
Er trat zwei Meter zurück, noch bevor der LKW-Jockey des 12-Tonners den bulligen 275-PS-Motor angeworfen hatte. Um nicht unnötig viel Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, verzichtete der Fahrer auf das durchdringende Gebrüll des hydraulischen und an einen Ozeandampfer erinnernden Signalhorns, das er sonst bei jedem Start erschallen ließ. Spritzenden Kieses setzte sich der Autozug in Bewegung und bog kurz darauf auf die weitgehend freie Bundesstraße ein, sich in Richtung Süden bewegend.
„Was passiert eigentlich mit meiner Dienstlimousine?“, fragte Hundhammer, von unpassender Neugier gepackt.
„Schönes Auto. Ein Jammer, daß wir es loswerden müssen. Wir haben dafür Abnehmer in den arabischen Ländern. Scheichs aus der zweiten Reihe haben Interesse angemeldet, die nehmen auch stark beanspruchte Gebrauchtwagen. Unser Mann fährt über die Alpen nach Genua, von dort geht es mit dem Schiff weiter in die ägyptische Hafenstadt Alexandria.“
Der Innenminister legte die tiefsten Sorgenfalten auf. Diese Art der Entwicklungs- hilfe sagte ihm nicht zu.
„Wenn Sie mich freigelassen haben, werde ich gleich den Antrag für ein neues Dienstfahrzeug stellen.“
„Über Ihren Optimismus muß ich mich doch sehr wundern.“
Der Minister schaute drein wie ein von Astro-, Kosmo- und Taikonauten aufgescheuchtes Mondkalb. Durfte er etwa nicht auf seine Freilassung hoffen, wenn die Entführer ihre unberechtigten Forderungen - welcher Art sie auch immer waren - durchgesetzt hatten? Gereizt öffnete Knorke den leergeräumten Kofferraum des Audi und befahl dem Gefangenen hineinzukrabbeln.“
„Warum denn das?“
„Sie stellen wirklich bescheuerte Fragen. Haben Sie noch nie Krimis gesehen, in denen jemand entführt wurde? Wir wollen nicht, daß Sie der Polizei später verraten können, wo wir Sie festgehalten haben.“
„Aber da drinnen ist es doch so unbequem.“
„Na und? Sie sollen sich ja bei uns auch nicht wohlfühlen“, fuhr ihn der Anführer an, holte aber doch ein dickes Kissen aus dem Wagenfond. „Und jetzt Schluß mit der leidigen Diskussion. Steigen Sie jetzt ein und verstauen Sie sich, sonst stopfen wir Sie hinein. Wenn Ihnen die Atemluft knapp wird, einfach klopfen. Wir schießen dann mit unseren Waffen ein paar gezielte Luftlöcher ins Blech. Ansonsten bitte ich mir absolute Ruhe aus.“
Die ganz gelassen vorgetragene Ankündigung bewegte den wie einen Schuljun-gen gescholtenenen Innenminister, seinen hinhaltenden Widerstand aufzugeben, und so krabbelte er in ohnmächtiger Wut in den Stauraum. Nachdem er den Kopf auf das sanfte Ruhekissen gelegt hatte, zog er die nicht allzu langen Beine an.
„Alles sortiert?“ Knorke warf eine in Zellophan eingepackte Schachtel hinein. „Lassen sie sich von dem klopfenden Motor nicht stören, das zuletzt getankte Benzin hat eine niedrige Oktanzahl. Hier sind Beruhigungstabletten, falls Sie welche benötigen. Leider müssen Sie sie trocken schlucken.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, drückte er den schweren und schwerfälligen Kofferraumdeckel ins Schloß, aber immerhin nicht so schnell, daß die schlechte Luft entwich und ein Vakuum hinterlleß. Danach erfolgte endlich die textile Umrüstung. Der erste der fünf Männer machte sich ans Umziehen, und zwei weitere folgten ihm darin. Die dunkelblauen Anzüge, die schwach gestreiften Hemden und die Krawatten flogen in eine runde Plastikschüssel im Kofferraum, die Lederhalbschuhe in eine Kiste, sodaß die Männer nunmehr in weißen T-Shirts, bunten Shorts und Socken dastanden. Hinzu kamen lediglich Baseballkappen und helle Nike-Sportschuhe, und fertig war die Maskerade, die sie als frisch aus dem Urlaub kommende Surfer ausweisen sollte.
„Wir fahren gleich los“, sagte Knorke zu den Chauffeuren der beiden Fluchtautos. „Haltet euch an das Geschwindigkeitslimit. Gesetz ist Gesetz.“
Die Angesprochenen nickten andächtig. Noch ehe sie alle abgestreiften Klamotten verstaut hatten, fuhr ein Brauereifahrzeug der in Bayern recht bekannten Kulmbacher Brauerei mit hochgeschlagener Plane im Schrittempo auf den Parkplatz. Es war gut bestückt, sowohl mit dem bayerischen Grundnahrungsmittel Nummer eins als auch mit diversen Fruchtsäften und Sprudelgetränken. Der Fahrer hatte seinen dicken Kopf aus dem Seitenfenster gestreckt und hielt nach einem stillen Örtchen Ausschau. Direkt vor dem herzhaft stinkenden Dixi-Klosett kam der Bierwagen schwerfällig zum Stehen, der Motor erstarb, und der unter dem Druck seiner Blase stehende Brauereiangestellte besetzte das unhygienische Häuschen, ohne die parkenden Fahrzeuge und dessen Passagiere richtig wahrgenommen zu haben. Der Fahrer hatte soeben den regelmäßig gewarteten Motor angelassen und die Männer waren schon am Einsteigen, als einem von ihnen noch etwas einfiel.
„Ich fürchte, wir haben nicht genug Getränke im Haus. Für eine Woche reichen sie bestimmt nicht.“
Das von den Anstrengungen der letzten Stunden gerötete Gesicht des Anführers der Truppe sprach Bände. Haarstraubende Unfähigkeit, wohin er auch blickte. Avanti dilettanti!
„Habt ihr Kindsköpfe denn gestern nicht eingekauft?“
„Doch, schon, aber wir haben nur Kaffee und Tee besorgt. Die anderen Getränke haben wir in der ganzen Hektik vergessen.“ Er wies mit dem nackten Finger auf das Brauereifahrzeug. „Laß uns das jetzt doch nachholen. Dies ist die letzte Gelegenheit, ein Überfall ist überfällig.“
Eigentlich hatten sie auf ihrem langen Weg zum Versteck schon zu viel Zeit verloren, doch da die Tante-Emma-Läden und auch die großen Supermärkte auf dem Land bereits geschlossen hatten, stimmte Knorke der verwegenen Idee zu, den Wagen zu plündern.
„Okay, holen wir uns, was wir brauchen. Zuerst müssen wir uns allerdings um den Bierkutscher kümmern.“
Der Bus setzte sich mit einem heftigen Bocksprung in Bewegung, fuhr bis zum auf kurzen Stelzen ruhenden Dixi-Klo, das auf einem vergilbten, schmutzbedeckten Rasenstück stand, und stemmte sich schnaufend gegen die Rückseite des aus Kunststoff bestehenden Häuschens. Ein heftiger Schubser, und das relativ leicht bewegliche Lokus landete mit der Vorderseite auf dem Rasen. Bevor der Fahrer zurückgesetzt hatte, hüpfte Knorke aus dem offenen Bus.
„Hilfe, Hilfe, ich komm nicht raus“, tönte es dumpf aus dem Innern des beengten Gehäuses, deren momentaner Benutzer glücklicherweise bereits den versifften Klodeckel geschlossen hatte.
„Tut mir wahnsinnig leid, daß Sie bis zum Hals in der Scheiße stecken“, gab der Bandenchef, der das erst vor wenigen Minuten erworbene Handy aus der Hosentasche zog, trocken zurück. „Allein kann ich nicht an das Schweinezimmertürchen gelangen, aber es Ihnen wird bald jemand zu Hilfe eilen.“
Zum Schein wählte er irgendeine elfstellige Nummer, damit die auf höchste Lautstärke gestellten digitalen Signaltöne den ängstlichen Eingesperrten davon überzeugten, daß man ihn nicht seinem traurigen Schicksal überließ, dann unter- brach er die Verbindung sofort wieder.
„Hallo, mein Name ist Zimmerschmied“, sprach Knorke in die leere Luft und nicht in die Muschel des zusammenklappbaren Handys .“Bin ich mit dem Technischen Hilfswerk verbunden? Gut. Ich stehe an der B 23 auf dem Parkplatz kurz vor Kiesbach. Da ist ein Mann in einem Mobilklo eingesperrt. Bitte kommen Sie schnell, ich warte hier auf Sie.“
Der durcheinandergepurzelte Insasse, dem die Befreiung nicht schnell genug ging, sah ausreichend Anlaß zum Intervenieren.
„Der Ort heißt Griessbach, du Penner!“
„Kies oder Grieß, das ist doch Jacke wie Hose.“
In der Zwischenzeit hatten drei Kollegen mit dem Umladen begonnen und verstauten nun die scheppernden Getränkekisten hinter der zweiten Rückbank. Ein Kasten Orangensaft, zwei Kästen Afri-Cola wechselten ebenso den Besitzer wie zwei Kästen stilles Wasser und ein halber Kasten Doppelbock.
„Mehr Bier!“, ordnete der Chef kurzangebunden an, nachdem er zur hart arbei- tenden Truppe herübergeeilt war.
„Dein Wunsch ist uns Befehl“, kam prompt die Antwort, und die Packer legten beim Einräumen von Kristallweizen, Pils und Hefeweizen nochmals einen halben Zahn zu.
„Hört jetzt auf mit der Plünderung!“, schloß Knorke die zeitintensive Prozedur ab. “Um das alles zu bewältigen, müßten wir Hundhammer zehn Jahre festhalten.“
Der Audi hatte sich in Marsch gesetzt und wartete kurz vor der südlichen Ausfahrt auf den VW-Bus. Schnell, kraftvoll und behende wie die Anschieber in den Viererbobs sprangen die Männer auf ihre Plätze, und der Chauffeur fuhr ab. Der verantwortungsvolle Beifahrer legte eine CD mit den größten Surfhits der Popgeschichte ein, die ihre Tarnung vervollkommneten. Mit den Songs von Interpreten, die den sogenannten Surfsound populär gemacht hatten, kamen sie nach der Auffassung ihres Chefs diesem Ziel ein ganzes Stück näher. Während ein Stück von den Surfaris die Milchkühe auf den angrenzenden Weiden erfreute, verließen die Autos den Rastplatz. Eine halbe Minute später erinnerte nur noch ein zeternder Bierkutscher daran, daß sich in Oberbayern an diesem Tag im Juli sehr merkwürdige Dinge zugetragen hatten. Etwa 45 Minuten nach dem gewaltsamen Umsturz der Toilette wurde er von einer einheimischen Kleinfamilie, die von ihren allwöchendlichen Ausflug in die Berge zurückkehrte, mit vereinten Kräften befreit.
Die Fahrt währte nicht sehr lange, aber dem mit verspannten Gliedern im Kofferraum liegenden Entführungsopfer kam sie vor wie eine kleine Ewigkeit. Seine heimliche Hoffnung, daß die Täter in eine Polizeikontrolle gerieten, war vergeblich. Nicht einmal eine Stunde nachdem sich die gut organisierte Bande des Politikers bemächtigt hatte, hatte das im Abstand von wenigen hundert Metern fahrende PKW-Duo ihr Ziel vor sich. Ein an der Peripherie der Kleinstadt Tauchstein in der Nähe von Oberammergau errichtetes Einfamilienhaus war die Endstation. Kurz darauf bog der Audi von der zweispurigen Hauptstraße ab. Der Beifahrer des Führungsfahrzeuges betätigte eine Fernbedienung, und um ein Haar wären sie gegen die langsam nach außen aufgehenden, grün gestrichenen Tore der Doppelgarage gedonnert und hätten das der Oberklasse angehörende Auto ramponiert. Die Räder waren noch nicht zum Stehen gekommen, als auch schon der nachfolgende VW-Bus einfuhr. Das Garagentor wurde hinter ihm geschlossen, und sobald das strahlende Kunstlicht angegangen war, zerrten zwei Leute den eingerosteten Politiker aus dem Kofferraum und hakten ihn unter, da er aufgrund der steif gewordenen Glieder ziemlich unsicher auf den Beinen stand.
„Sie sehen ein wenig mitgenommen aus“, flachste Knorke, der seine Leute voll unter Kontrolle hatte, doppeldeutig.
Durch einen schwach erleuchteten Verbindungsgang ging es direkt in das Unter- geschoß des einstöckigen, im traditionellen Stil erbauten Landhauses, in dem der frühere Hausherr eine kleine Souterrainwohnung eingerichtet hatte. Eigentlich hätte der Bewohner von dort freie Sicht auf die herrliche Landschaft gehabt, doch hatten die jetzigen Eigentümer eine Sichtblende aus dunkelroten Backsteinen, die das Sonnenlicht zu achtzig Prozent aussperrte, vor die breiten Fenster von Schlaf- und Wohnraum gebaut, die Hundhammer den Ausblick und zufällig vorbeikommenden Spaziergängern den Einblick verbaute. Damit der Gefangene sich nicht mittels Klopfzeichen gegen die Glasscheiben Aufmerksamkeit verschaffte, waren sie mit einer ein Meter dicken Schicht aus Styropor abgedeckt. Der Anführer gab dem Innenminister, der beim Betreten der Wohnung entsetzt dreinschaute, eine knappe Einweisung.
„Immer rein in die gute Stube. Dies ist bis auf weiteres Ihre Bleibe. Ich weiß, Sie sind von Ihrem eigenen Heim mehr Komfort gewöhnt, aber für die paar Tage bis zu Ihrer Freilassung oder bis zu Ihrem“, er machte eine Zäsur, „Tod wird es gehen. Sie dürfen alle Geräte benutzen, nur auf Ihr fernmündliches Herrschaftsinstrument müssen Sie aus Gründen, die keiner Erläuterung bedürfen, für eine Weile verzichten. Die Küche, die Sie hier sehen, können Sie unberührt lassen, wir werden in ausreichendem Maße für Ihr physisches Wohlbefinden sorgen. In zwei Stunden bekommen Sie die erste Mahlzeit eingetrichtert.“
Hundhammer stellte eine nicht ganz unberechtigte Frage, auf die Knorke schon gewartet hatte.
„Wer sind Sie eigentlich?“
„Ach stimmt, wir haben uns noch gar nicht vorgestellt. Wir sind ein Kommando der Bayerischen Armee Fraktion, dem Sie von nun an zu gehorchen haben.“
Den Politiker durchfuhr ein eisiger Schreck.
„Wie lange werden Sie mich hier festhalten?“, brachte er über die zitternden Lip- pen.
„Das kommt darauf an. Sollten sich die Dinge nicht zu unserer Zufriedenheit ent- wickeln, kann es länger dauern. Auf jeden Fall wird die Talkrunde morgen Abend bei Christiansen ohne Sie stattfinden. Aber keine Angst, wir schreiben Ihnen eine Entschuldigung. Wenn Sie sich Sorgen um die weiterlaufenden Kosten machen und uns eine schriftliche Vollmacht geben, bestellen wir Ihre Tageszeitung ab. Sollte alles wie geplant funktionieren, wird Ihnen kein Haar gekrümmt werden. Ein Mord würde nur einen unerwünschten Märtyrereffekt auslösen, an dem wir keinerlei Interesse haben.“ Als Hundhammer betreten schwieg, fuhr er fort: „Wir lassen Sie jetzt allein, doch Sie werden sich sicher nicht langweilen, denn Ihre mediale Grundversorgung ist gesichert. Die Hörfunksender haben aus aktuellem Anlaß ihr Programm geändert, also hören Sie sich im Radio die Berichte über Ihr plötzliches Verschwinden an. Ansonsten vermag ich Ihnen nur den gutgemeinten Rat zu geben, sich mit ihrer unerfreulichen Situation abzufinden. Übrigens, im Badezimmer hängt ein roter Beschwerdebriefkasten für den Fall, daß Sie mit Ihrer Verpflegung nicht zufrieden sind. Sinnvolle Verbesserungsvorschläge werden von uns mit Freude entgegengenommen, damit die nächsten Entführungen optimal ablaufen.“ Sein Tonfall wurde wieder strenger. „Falls Sie glauben, daß Sie unsere Freundlichkeit ausnutzen und Ihre Flucht betreiben können, vergessen Sie‘s ganz schnell. Die Wohnung hier unten wird elektronisch überwacht, Sie haben also keine Chance. Jeder Ausbruchsversuch wird strengstens bestraft. Wenn Sie sich selbständig machen, feuern wir eine Ladung Schrott auf Sie ab. Den betroffenen Körperteil dürfen Sie sich aussuchen.“
Trotz der Warnung überkam Hundhammer nicht das große Zittern
„Würden Sie vielleicht so gütig sein, meine Frau anzurufen und ihr zu sagen, daß es mir einigermaßen gutgeht?“
Der An- und Wortführer erklärte sich einverstanden und setzte hinzu:
„Sie sollten sich unbedingt im Bad ein wenig frisch machen. Die ungeduldigen Zeitungsredaktionen warten auf unsere Fotofaxe. Nachher werden wir ein paar Porträtaufnahmen von Ihnen knipsen, die der Öffentlichkeit beweisen sollen, daß Sie sich wirklich in unserer Gewalt befinden.“
Hundhammer konnte sich ausmalen, wie die Aufnahmen ausfallen würden. Er mit einer tagesaktuellen Zeitung in den Händen vor einer weißen Wand, an die mit dicken Ölfarben das Symbol der BAF gepinselt worden war. Ein roter, fünfzackiger Stern, in dessen Mitte ein Blütenblatt des Edelweiss zu sehen war und eine Kalaschnikow, deren Lauf nach links zeigte.
Umsichtig schritten die drei Männer, die den Politiker in dem vorübergehenden Versteck abgeliefert hatten, hintereinander hinaus, und der Letzte schloß mit einem Sicherheitsschlüssel die Tür zum Korridor. Die öde Routine nahm ihren Lauf. Als erstes schafften die Entführer, die einen halbwegs fähigen Hobbykoch in ihren Reihen hatten, die Getränkevorräte in die gemütliche Küche. Sie benahmen sich geradezu provozierend unbekümmert und unvorsichtig. Keiner von ihnen trug Handschuhe oder gar ein Haarnetz, um den Spurensicherern, falls diese eines nahen oder fernen Tages das Versteck fanden, zum Vergleich dienende Fingerabdrücke oder DNA-Spuren vorzuenthalten. Das erste Telefonat, das der Einsatzleiter der BAF-Kommandotrupps mit seinem ungeduldigen Auftraggeber über das Handy führte, bestand aus zwei kurzen Sätzen und der vorher vereinbarten Meldung.
„Es ist vollbracht. Die Katze ist im Sack.“
Dann erfüllte er sein Versprechen und rief über das Haustelefon Hundhammers Ehefrau an, die von der Polizei bereits von dessen spurlosen Verschwinden in-formiert worden war. Daß man in der Zwischenzeit eine Fangschaltung installiert hatte, hielt er nicht für ausgeschlossen, weswegen er sich bei dem Ferngespräch auf das absolut Nötigste beschränken würde.
„Hundhammer!“, meldete sich eine atemlose Frauenstimme, die mit bayerischem, aber dennoch verständlichen Akzent sprach.
„Hier sind die freundlichen Herren, die Ihren Mann in der Gewalt haben. Er ist tot und läßt Sie grüßen.“
Ein entsetzter Aufschrei kam vom anderen Ende der Leitung, sodaß sich Knorke zu einer sofortigen Korrektur bemüßigt fühlte.
„Entschuldigen Sie bitte vielmals, ich habe mich vertan. Unsere politische Geisel ist nicht tot und auch nicht beschädigt. Vielleicht ein bißchen aufgelöst, aber sonst in allerbester Verfassung. Die Entführung ist kampflos und ohne Blutvergießen abgelaufen.“
Die befremdliche Reaktion, die nun kam, hatte er nicht vorausgesehen.
„Dieser Dappschädel. läßt sich einfach kidnappen. Der kann was erleben, wenn er wieder hier ist.“
Der Anführer, der nicht daran dachte, sich mit hysterischen Weibern herumzuschlagen, machte es kurz.
„Wir melden uns wieder, wenn Sie den Schock verdaut haben.“
Er legte auf und danach den Schichtplan für die kommenden 24 Stunden fest. Während zwei Leute den technischen Zustand der beiden Fahrzeuge überprüften, ging er mit einem Kollegen daran, auf einer elektrischen Brother-Schreibmaschine die Erklärung, die demnächst in den Medien verbreitet werden sollte, zu entwerfen. Knorke fiel bereits beim Anfangssatz auf, daß sich die Fähigkeiten des zum Schreibdienst Verpflichteten nicht auf das Tippen erstreckten. Wenn es hochkam, drückte er unter Anwendung des Zweifingersuchsystems zwanzigmal pro Minute auf die schwarzen Tasten, wobei er viele Tippfehler machte. Hätte das komfortable Ratzfatz-Terminal keinen Speicher gehabt, wären ungefähr hundert Blatt Papier sinnlos verbraucht worden.
„Die Verwechslung von g und l ist mein Lieblingsschnitzer.“
„Wenn‘s bloß das wäre“, seufzte der Anführer bereits beim Schreiben des Briefkopfes. „Paß auf, daß du keinen Geschwindigkeitsrausch erleidest. Vielleicht sollte ich mir bei einer Zeitarbeitsfirma eine erfahrene Sekretärin holen. Du schreibst nach dem Partisanensystem, jeden Tag ein Anschlag. Geschulte Kräfte schaffen locker zweihundert Anschläge pro Minute.“
Dem Kollegen kam die zutreffende Behauptung nicht glaubhaft vor.
„Zweihundert Anschläge? Das bringt ja noch nicht einmal das MSE zustande.“
„Sie sollten nicht den Fehler begehen, Äpfel und Birnen miteinander zu vergleichen. Weiter im Text.“
Das Verfassen des Schreibens, vor allem des Briefkörpers, erwies sich als uner- wartet kompliziert. In jedem zweiten Satz merzte Knorke schwere Rechtschreibfehler aus, bis er davon die Nase voll hatte und den unfähigen Datentypisten in die Wüste schickte.
„Ihre Orthographie liegt unter meinem Toleranzpegel. Wie sind Sie bisher nur durchs Leben gekommen?! Holen Sie jemand anderen aus der Küche, der fähig ist, das komplizierte Tasteninstrument zu bedienen.“
Lachend entfernte sich der Mann und ging zur offenen Küche, in welcher der Chefkoch und der Küchenschwabe bereits den alkoholischen Erfrischungsgetränken zusprachen und mit fliegenden Untertassen Frisbee spielten. Kniehoch lag das zertöpperte Geschirr auf dem Boden herum.

Am Tag nach Hundhammers arg listiger Entführung kam es zu ersten Reaktionen von politischer Seite. Für die geschwollene Rhetorik, die in den Pressemitteilungen zur Anwendung kam, wurde auf die computergestützten, in vielen Jahren bis zur Perfektion entwickelten Phrasengeneratoren zurückgegriffen. Die deutsche Bundesregierung reagierte routinemäßig mit Abscheu und Empörung auf den verbrecherischen Akt, die Regierung des Freistaats Bayern mit Empörung und Abscheu.


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Kommentare  

hallo
ich finde die Geschichte sehr gut geschrieben, du beschreibst alles detailliert, schwungvoll und mit Humor.
vom Ende war ich dann aber sehr enttäuscht. Keine Pointe nichts, es verläuft einfach im Sande.
Schade vier anstatt fünf punkte


presko (17.03.2006)

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