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5 Seiten

Ein Stück Lebenserinnerung

Trauriges · Kurzgeschichten
Ich stand auf dem Dach eines sechzehn Stockwerk hohen Hochhauses, bereit, meinem Leben ein Ende zu setzten.
Mein Name ist Benjamin Fäuster und ich bin siebzehn Jahre alt. Der Wind bewegte mein braunes Haar, während meine Blicke über diese mir verhasste Welt schweiften. Ich kann nicht behaupten, dass mir die Entscheidung, hier rauf zu kommen, sehr schwer fiel, was aber auch nicht heißen soll, dass es eine Schnapsidee war. Ich erwarte ja gar kein Verständnis oder Mitleid von irgendwelchen Leuten, ich kann es nur nicht hören, wenn sie sagen ,,...aber Selbstmord ist doch keine Lösung.“ – Schwachsinn! Angenommen, Ihr Arzt diagnostiziert Ihnen Krebs oder besser AIDS, egal, Sie wissen jedenfalls dass Sie diese Krankheit elendig zu Grunde richten wird. Also, was tun Sie? Langsam dahin siechend auf ihren bevorstehenden Tod warten oder sich einen letzten Adrenalinkick geben? Vielleicht lassen Sie sich die ganze Sache vorher ja auch noch mal durch den Kopf gehen, machen womöglich eine Liste mit Pros und Contras. Bei mir hingegen gab es einfach nicht genügend Contras. Da ich aber keine tödliche Krankheit habe, könnte man sich ja fragen, was zum Teufel treibt einen siebzehnjährigen Sonntag morgens auf das Dach eines Hochhauses? Ich atmete die kühle Herbstluft ein, zündete mir eine Zigarette an und erinnerte mich zurück. Zurück an den Tag, an dem meine Lebenszeit begann abzulaufen: meine Geburt.
Ehrlich gesagt, so genau weiß ich nun auch wieder nicht was an jenem 28. Dezember geschah. Meine Eltern jedenfalls gaben mir den Namen Benjamin, weil er die biblische Bedeutung ,,Glückskind“ trägt. Die Ironie liegt eigentlich nur darin, dass wir nicht kirchlich sind und ein Name wohl kaum irgendwelchen Lebensperspektiven entsprechen kann, oder? Wie auch immer.
Meine Mutter war Anwältin und mein Vater Chef eines Konzerns. Es sollte unserer Familie also nicht schlecht ergehen, zumindest was den finanziellen Status betraf. Damals wohnten wir in einem großen Haus, am Rande Berlins. Es war ein ruhiges Viertel, von dem Leute mit normalem Einkommen nur träumten. So lange ich mich erinnern kann, hatten meine Eltern nie viel Zeit für mich. Mein Vater engagierte deshalb ein Hausmädchen, was zugleich den Haushalt führte und sich um mich kümmerte, denn Geschwister hatte ich ja keine. Im Grunde war Frau Henkelmann ganz nett. Sie war schon älter, vielleicht mitte fünfzig, hatte grau-gelockte Haare und eine stabile Figur. Mit ihr verbrachte ich wohl die meiste Zeit. Meine Mutter kam erst am späten Nachmittag nach Hause und zog sich dann zurück in ihr Arbeitszimmer. Meinen Vater sah ich oft Tage lang nicht. Er war viel auf Geschäftsreise und wenn er dann doch mal zu Hause war, saß er vor seinem Laptop oder telefonierte mit irgendwelchen Geschäftspartnern.
Nicht dass ich mich beklagen wollte,nein, denn im Grunde fehlte mir ja nichts, abgesehen vielleicht vom sozialen Umfeld. Bis zur vierten Klasse wurde ich privat unterrichtet. Herr Klettner, der Hauslehrer kam fünfmal die Woche. Er war groß, hatte eine Glatze und trug eine Brille, bei der seine Augen die Größe zweier Golfbälle zu haben schienen. Obwohl er ein guter Lehrer war, mochte ich ihn nicht. Wahrscheinlich lag das aber nur daran, dass ich sein einziger Schüler war und daher seine volle Aufmerksamkeit bekam. Wegen meinen mangelnden sozialen Kontakten zu Gleichaltrigen steckte mich mein fürsorglicher Vater schon bald in ein privates Internat für Jungen. Abgesehen von der Schuluniform, gab es strikte Regeln, die man einhalten musste. Allerdings sollte jedem, der dort seinen Abschluss schaffte, eine gesicherte und große Zukunft bevorstehen. Trotz allem, konnte ich mich nie wirklich anpassen. Die Lehrer waren sehr autoritär und die anderen Jungen...na ja, arrogante, eingebildete Schnösel trifft es wahrscheinlich am besten. Irgendwann wurde es unerträglich. Kurz entschlossen packte ich ein paar Sachen und machte mich davon. Es schien sowieso alles egal, durch einen Streich der anderen, an dem ich nicht mal beteiligt gewesen war, hatte ich ziemlichen Stress mit einigen Lehrern. Per Anhalter fuhr ich zurück nach Berlin. Meine Eltern waren wie so oft nicht zu Hause und Frau Henkelmann mehr als erfreut mich wieder zu sehen. Sie rief sogar im Internat an und entschuldigte mich für ein paar Tage. Aus den Tagen wurden jedoch Wochen und kurz darauf begannen auch schon die Sommerferien.
Es war befreiend. Endlich konnte ich selbst entscheiden welche, mir sinnvoll erscheinenden Dinge meinen Tag ausfüllten. Am liebsten fuhr ich in den Stadtpark, setzte mich auf einen Baumstumpf, welcher schnell zu meinem Stammplatz wurde, und las. Ich empfand es als eine Art Zufluchtsort aus der Realität. Eines Tages dann, versunken in einem Buch von Hermann Hesse, merkte ich zunächst nicht, wie sich ein Mädchen in meinem Alter neben mich setzte. Erst als sie mich anstupste, nahm ich die Sphären meiner Umgebung wieder war. Neben mir saß ein hübsches, blondes Mädchen. Ich sah in ihre großen, himmelblauen Augen und spürte sofort, dass sie anders war. Sie war nicht wie all die anderen Menschen, die Tag für Tag dasselbe tun, denen es nur darum geht, ihr Leben glücklich darzustellen.
Ich weiß nicht mehr genau, wie wir ins Gespräch kamen und über was wir uns an diesem Tag unterhielten. Ihr Name war Nicole. Sie hasste diesen Namen und konnte es nicht hören, wenn man sie so nannte. ,,Sag einfach Laika zu mir ’’ hatte sie gesagt. Sie lebte bei ihrem Vater, ihre Mutter war Alkoholikerin. Vom finanziellen Standpunkt aus betrachtet hätten wir nicht gegensätzlicher sein können. Ihr Vater war arbeitslos und sie wohnten in einer der billigsten Wohnungen Berlins. Für mich spielte das alles keine Rolle. Seit diesem Tag trafen wir uns fast täglich. Zu dem damaligen Zeitpunkt hätten wir es nicht einmal gewagt, die Auswirkung unserer Begegnung zu erahnen aber jede Minute mit ihr gab mir eine unbeschreibliche Genugtuung.
Einmal hat sie mich gefragt, wer wir eigentlich sind. Ich konnte ihr keine Antwort auf diese Frage geben, auf jeden Fall waren wir hier. Wir existierten, ja wir lebten und wir waren glücklich, was man von vielen anderen Menschen nicht behaupten konnte. Wir genossen jeden Atemzug und sahen die Dinge mit anderen Augen. Was bringt es, sich zu sehr in den Alltag einzufügen, sich von ihm abhängig zu machen, so, dass es fast unmöglich scheint, sich wieder davon zu befreien, aus Angst von der Wahrheit schuldig erklärt zu werden. Jedes Mal, wenn ich daran dachte, wie es sein würde, wieder ins Internat zurück zu müssen bekam ich eine Gänsehaut. In jeder Minute ohne Laika umfing mich eine kalte und zugleich glühendheiße Sehnsucht. Und um so mehr Gedanken ich mir darüber machte, sie missen zu müssen, umso mehr Angst bekam ich auch vor dem Tod. Ich hatte regelrecht Angst zu sterben, denn jetzt wo ich sie gefunden hatte, bekam ich einen unglaublichen Tatendrang und Lebensdurst. Ich erzählte ihr von meinen Ängsten. Wir lagen nebeneinander im Gras und beobachteten die Wolken ,,...aber Tod sein heißt doch nicht, dass wir nicht mehr existieren. Wir leben nur nicht mehr“, sagte sie. ,,Also sind Leben und Existieren zwei Grundverschiedene Dinge?“ Daraufhin warf sie mir einen kurzen nachdenklichen Blick zu. ,,Sieh mal Benjamin, wenn man lebt besitzt man nicht nur ein Bewusstsein oder eine Seele, sondern auch einen Körper. Ohne unseren Körper könnten wir nicht leben, aber existieren. Ich glaube, wir werden immer existieren, wenn wir einmal gelebt haben. Das Bewusstsein der Menschen kann nicht einfach verschwinden, genau so wenig, wie das gesamte Universum einfach verschwinden kann.“
Die Zeit verstrich und über uns funkelten die Sterne. Wir redeten über das, was war, was ist und vielleicht einmal sein soll. Wir hörten uns zu und haben etwas seltenes und beschützenswertes gefunden. Eine vertraute Seele. Jede Minute...jeder Blick, jedes Wort hatte Bedeutung und brachte uns von einem Ort, einem Gedanken zum anderen durch unsere selbst geschaffene, einzigartige Unendlichkeit.
Wir haben uns voneinander abhängig gemacht, doch es war eine andere Abhängigkeit, als diese die mich im Internat mit angeblichen Freunden verband.
Manchmal diskutierten wir stundenlang über Gott und die Welt.
,,Wenn wir diskutieren, dann denken wir dialektisch, das heißt ein neuer Gedanke wird zumeist auf der Grundlage anderer, früherer Gedanken vorgetragen. Der Gedanke widerspricht dem Alten, so entstehen zwei entgegengesetzte Denkweisen.“
Es war alles so berauschend. Ich gab ihr meine Gedanken, meine Assoziationen und sie malte Bilder in mein Gedächtnis. In den letzten Jahren habe ich viel Zeit mit Laika verbracht. Manchmal mag es besser sein bestimmte, wundersame Erfahrungen nie zu machen, weil der Verlust eine unheilbare Wunde hinterlassen würde. Ich hingegen bereute nichts. Selbst, wenn ich mich damals voller Ungewissheit, was mich erwartet, auf der Türschwelle zwischen Leben und Tod hätte entscheiden müssen, hätte ich das Leben gewählt, gleich auf welchem Fleckchen Erde ich es fristen würde. Der Grund, weshalb ich heute hier stehe und eine andere Welt betreten will, ist Laika.
Es ist jetzt zwei Wochen her, als es passierte. Wie jeden zweiten Sonntag im Monat, besuchte sie ihre Mutter. An diesem Abend hatte ihre Mutter wieder getrunken und nahm ihre Umgebung kaum noch wahr. Durch einen Unfall und einen Streit stürzte Laika die Treppe im Haus hinunter. Der Arzt sagte, sie sei an einem Genickbruch gestorben.
Ich habe es versucht, doch ohne Laika macht das alles keinen Sinn mehr. Nun bin ich allein in dieser Welt, umgeben von all den Leuten, die mich nicht verstehen und mit denen ich nicht reden kann. Ich griff in die Hosentasche und zog ein Stück Papier raus. Ein letztes mal las ich es.
Die Sehnsucht umfängt,
greift mit nur einer Hand,
kalt und unausweichlich.

Du gingst fort, ließest mich
Mit meinen Gedanken allein,
wo bist du?

Eine kleine Hoffnung verbleibend,
du entkamst dem Ozean des Vergessens,
ohne dich schleicht sich
die Finsternis der Einsamkeit an

Allein auf dein Licht wartend,
dass es mich bald wieder begleite,
die Dunkelheit fernhalte.

Nacht und Nebel über mir,
flüstere ich sanft nach dir
und vielleicht bin ich bald wieder bei dir.


Ich hob den Kopf und während meine Blicke im Horizont verharrten, zerriss ich es.
Der Wind trug die kleinen Papierfetzen spielend fort.
Es ist nicht schwer dem Tod zu entgehen, man muss nur fortlaufen. Schwieriger ist es der Schlechtigkeit zu entgehen, denn sie läuft schneller als der Tod. Ich wollte mein Vorhaben nicht zum Scheitern bringen, also wollte ich es tun, solange ich noch den Mut dazu hatte. Ich ging fünf Schritte zurück und schloss die Augen. `Vergangen, aber nicht Vergessen` schoss es mir durch den Kopf. Ich dachte an ein Zitat von Goethe: ,,Wer nicht von dreitausend Jahren, sich weiß Rechenschaft zu geben, bleib im Dunklen unerfahren, mag von Tag zu Tage leben.“
Dann nahm ich Anlauf und sprang…
 
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Kommentare  

SEHR GUT

UNAM (01.08.2006)

nicht gut

manu (01.08.2006)

und schrieb diesen text, nachdem ich schwer verletzt im krankenhaus aufgewacht war ... (???)
wenn dein protagonist am ende selbstmord begeht, solltest du die geschichte in der gegenwart schreiben, sonst wirkt das ende unfreiwillig komisch.

finde die geschichte ansonsten nicht schlecht geschrieben. nur hier und da etwas komische formulierungen. z.b. "Durch einen Unfall und einen Streit stürzte Laika die Treppe im Haus hinunter."
Das "Durch den Streit" passt dort nicht, finde ich. Zum Ende hin werden mir außerdem die Beschreibungen der Gefühle von Benjamin zu knapp. Du schreibst nur noch: "Ich habe es versucht, doch ohne Laika macht das alles keinen Sinn mehr."
Das hättest du ruhig noch weiter ausführen können. Schön finde ich die Beschreibung der Gespräche der beiden und Laikas Gedanken zum Tod.

lg nausicaä


Nausicaä (28.05.2006)

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