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3 Seiten

Angstlos (Teil 2)

Romane/Serien · Trauriges
© Middel
„Angst und Liebe sind unmittelbar verbunden.“
(Graham Greene)

Für mich hatte die Angst in meinen Phantasien immer etwas weibliches. Warum kann ich nicht wirklich erklären. Vielleicht ist es ganz einfach und hängt mit dem Artikel zusammen, schließlich sagt man „die“ zu ihr. Aber wahrscheinlich ist es eher so, dass ich Frauen von jeher als etwas empfunden habe, in das ich mich nicht wirklich hineinversetzen kann. Sie haben für mich etwas magisches und oftmals nicht nachvollziehbares und gerade das macht sie so faszinierend. Als ich begriff, dass es Angst war, die mir fehlte und ich versuchte mir vorzustellen wie es wäre sie zu empfinden, war es fast so, als wenn ich versuchte nicht mehr ich zu sein, sondern eine Frau.
Auf meine Annoncen meldeten sich viele Verrückte, leider verrückt in einem anderen Sinne, als ich es mir erhofft hatte. Männer und Frauen, die sich einerseits einen Spaß daraus machten, einen „Freak“ wie mich zu verarschen, andererseits Menschen, mit denen ich nichts anfangen konnte, weil sie „krank“ im Sinne von krank waren. Ich hatte vorsichtshalber ein Postfach einrichten lassen und musste diesbezüglich keinen dieser Spinner persönlich ertragen, es ärgerte mich trotzdem, weil es mich keinen Schritt weiterbrachte auf meinem Weg zu ihr: Der Angst

Als ich es dann fast schon aufgegeben hatte jemanden zu finden, der mir weiterhelfen konnte, trat SIE in mein Leben. Anastasia.
Sie war so ziemlich das Gegenteil von mir, hatte Angst vor allem und jedem und hatte lediglich in der Hoffnung auf meine Anzeige geantwortet, jemanden zu finden, der ihr die Furchtsamkeit nehmen könnte. Bei ihr lag der Grundstein ihrer Ängste weit zurück in ihrer Kindheit vergraben. Damit hatte sie mir eines voraus, sie wusste woher ihr „Benefit“ an Angst kam (Sie nannte es ironischerweise so). Genau wie Marlene nahm sie Drogen, sie bekam sie vom Arzt verschrieben, weil sie sonst „handlungsunfähig“ war, wie sie sagte. „Meine Medizin“, „Mein Lebenselexier“, Diazepam war da noch das Harmloseste.
Die ersten drei Monate unserer Bekanntschaft fanden ausschließlich über Briefverkehr statt. Sie schilderte ausführlich, was sie im Leben schon alles durchlitten hatte und wie es ihr dabei physisch und vor allem psychisch ergangen war. Im heutigen Russland aufgewachsen, als Kind missbraucht, später mit dem Onkel nach Bosnien, Kriegserlebnisse, die falschen Männer, Mord, Todschlag, selbst ein Flugzeugabsturz kam in ihrer Lebensgeschichte vor. Alles war so echt, so hautnah beschrieben, dass die Gedanken an einen Fake für mich nicht in Frage kamen. Meine Wege zum Postfach wurden zu Pilgergängen. Es war wie eine Sucht, eine süchtigmachendes Ritual. Ich verzehrte mich nach ihren Briefen und wollte mehr, immer mehr, ich wollte, nein: MUSSTE sie treffen. Ich begann mich in ihre Geschichte zu verlieben und damit, eher beiläufig, auch in sie. Da sie Russin war, gab ich ihr in meiner Phantasie einen neuen Namen: strach. Russisch für Angst.

Ich kannte das Wort Angst in nahezu allen Sprachen. Konnte es perfekt aussprechen und über seine Geschichte, also seinen Ursprung, hätte ich Seminare halten können. Nur war es weiterhin für mich nicht greifbar. Eine Worthülse ohne Inhalt, ein Bild ohne Konturen.
Anastasia hatte natürlich ein weiteres Motiv für ihre Briefe gehabt. Ich schickte ihr einen nicht zu verachtenden Betrag für ihre Schilderungen, für eine russische Einwanderin, die schon fast alles durchgemacht hatte, leicht verdientes Geld. Was mich ein wenig verwunderte waren ihre, wenn auch nicht in lupenreinem Deutsch geschriebenen, aber dennoch jederzeit verständlichen und lebhaften Erzählungen. Ich fragte sie danach und sie versicherte mir zwar arm und durchs Leben schwer gezeichnet zu sein, aber keinesfalls unintelligent, geschweige denn dumm.
Ich schämte mich fast für meine Frage, wollte sie aber dennoch unbedingt sehen. Meine Absichten ließ ich immer deutlicher in meinen Briefen durchscheinen und drohte unterschwellig mit der Einstellung meiner großzügigen Zahlungen, sollte sie sich auch weiterhin weigern sich mit mir zu treffen. Schließlich willigte sie ein.
Schon Tage vor unserem Treffen konnte ich weder schlafen noch richtig essen. Ich war aufgeregt, wie ein kleines Kind. Wir verabredeten uns in einem öffentlichen Lokal und ich war schon lange vor unserem vereinbarten Zeitpunkt dort und wartete sehnsüchtig auf sie. Ich malte in Gedanken strach in die Luft. Es dauerte eine Zeit, aber sie kam. Wir sahen uns an, sprachen erst kein Wort. Es war eine Mischung aus Verlegenheit und Neugierde. Wer würde das Eis brechen, zuerst etwas sagen? „Hattest du keine Angst, dass ich nicht komme?“ Wir mussten beide lachen. Sie war hübsch, sehr hübsch und jünger, als ich sie mir vorgestellt hatte. Vor allem in Anbetracht der Tatsache, was sie alles schon erleben musste.
Wir unterhielten uns bei einem Kaffee. Es war belanglos, aber nicht uninteressant. Es kam weniger auf das an, was wir sagten, sondern was wir wussten. Wir taxierten uns und wollten mehr wissen, ohne mehr zu verlangen – vorerst.
Wir reagierten also beide zögerlich und ließen uns Zeit. Zum Teil aus den genannten Gründen, wir hatten aber beide auch ganz unterschiedliche Motive für unser reserviertes Auftreten. Bei mir war es vor allem der Wille sie nicht zu vergraulen und alles aufs Spiel zu setzen, bei ihr war es simpler, sie hatte Angst.
 
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Kommentare  

gut. schlicht gut!

darkangel (09.09.2007)

... auch bei mir ist es simpel: ich bin beeindruckt. Sehr schön, wie du mit deiner art der beschreibung einer begegnung hinter der bloßen wahrnehmung im leser die empfindungen erweckst. jetzt wird mir auch deutlich, wie du mit dem vorangestellten zitat das zwischen den zeilen wesende ins wort bringst. gefällt mir sehr gut!
lg
ursula


kalliope-ues (15.04.2007)

Hallo Middel,
das scheint mal eine wirklich interessante Geschichte zu werden. Angst als elementare Reaktion auf Situationen, Personen und Objekte, die wirklich gefährlich für sind oder erscheinen, ist ein gesunder Schutz, der schon seit Urzeiten in der Menschheit verankert ist.
Phobien dagegen sind die Angst vor einem Objekt oder Situation, die eigentlich keinen realen Hintergrund hat. Einem Phobiker ist es durchaus bewusst, dass diese "Phobie" weit übertrieben oder unangemessen ist. Trotzdem reagiert er mit Panik. Diesen Unterschied wollte ich nochmal erwähnen. Wie gesagt, die Geschichte bietet einiges an Spannung.
LG
CC


CC Huber (14.04.2007)

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