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5 Seiten

wenn es regnet

Trauriges · Kurzgeschichten
© El El
Ihre Finger trommeln nervös auf dem Fensterrahmen herum. Sie schaut hinaus. Der Himmel ist durchzogen mit grauen Wolken. Es regnet. Die Landschaft ist in ein seltsames grünes Licht getaucht. Ein unheimliches Licht. Ich mag es nicht, wenn es dunkel wird und die Häuser und Bäume sich in grässliche Ungeheuer verwandeln. Alles nur Hirngespinste. Ich brauche keine Angst zu haben. Sie sei ja da. Aber ich habe es doch. Diese Angst, wenn die Sonne untergeht. Dann ziehe ich die Vorhänge zu und zünde alle Lichter im Zimmer an. Stromvergeudung, sagt sie mir oft genug und ich mache es doch.
Sie starrt mit wachen Augen aus dem Fenster und beobachtet die Bäume im Garten, die leicht im Wind hin und her schwanken. Mit der einen Hand immer noch auf dem Fensterrahmen, mit der anderen in ihren Haaren. Sie hasst diesen Ort und ich weiss es. Aber ich kann nicht anders. „Kommst du Mira?“ Sara ruft mich zu sich. Ich steh auf und drehe ihr den Rücken zu. Ich spüre ihre Augen in meinem Nacken. Ich schaue nicht zurück. Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken.
Sara begleitet mich in ihr Zimmer. Ich setze mich. „Willst du Kaffee?“ Ich nicke. Sie geht hinaus. Ich warte. Das Zimmer ist nicht gross. Zwei Stühle, ein Tisch und das Übliche. Papiere, Bleistifte und eine Pflanze. Ich liebe Pflanzen. Wie sie. Plötzlich zucke ich zusammen. Kaum habe ich an sie gedacht ist sie schon da. Kommt angeschlichen. Sie setzt sich neben mich auf den Tisch. Komm bitte hier raus. Ich will nicht, dass du hier bist, flüstert sie. „Bitte verschwinde!“ Sie tut, was ich sage und Sara kommt herein mit zwei Tassen Kaffee.
„Mit wem hast du gesprochen? War sie das etwa?“
„Ja.“
„Was wollte sie?“
„Nichts.“
„Du musst es mir schon sagen, sonst kann ich dir nicht helfen.“
„Musst du auch nicht.“
„Du denkst, du wirst alleine mit ihr fertig?“
Ich sage nichts.
„Ich kann dir helfen von ihr loszukommen.“
„Du verstehst das nicht.“

Sie sitzt nun kerzengerade auf dem Stuhl. Sie schaut wütend in Saras Gesicht. Sara hatte doch keine Ahnung, sie nicht. Sie würde niemals gehen, sie würde Mira niemals verlassen. Sie brauchte sie doch. Wie konnte sie nur so etwas sagen. Mira und sie. Sie gehörten zusammen. Für immer. „Hast du gehört, Sara? Wir werden niemals auseinandergehen! Niemals!“

Der Regen prasselt gegen die Scheibe des Dachfensters, als würden hunderte von Fingern gegen die Scheibe klopfen. Wir sitzen beide auf dem roten Teppich in unserem Zimmer. Sie sitzt ein wenig abseits von mir und doch kann ich ihr Gesicht deutlich sehen. Ich sehe es deutlich vor mir, jedes Fältchen auf ihrer Stirn, jedes Härchen auf ihrer Haut, ihre funkelnden Augen. Die Wut auf ihrem Gesicht. Das sind die Tage, an denen ich mich am liebsten in eine Ecke verkriechen möchte, an denen ich mich vor ihr fürchte. Ich weiss nicht warum sie mir das antut, warum sie mich nicht einfach in Ruhe lässt. Ich weiss nicht warum sie da ist, aber ich weiss es doch. Ich kenne sie kaum. Und doch kenne ich sie genau. Und sie kennt mich. Sie ist die einzige, die mich kennt. Die einzige. Sie ist viel stärker als ich und sie beschützt mich vor allen, die nicht wissen, wer wir sind. Sie ist immer für mich da. Ich brauche sie. Und eigentlich will ich nicht, dass sie geht.

Und Sara? Sara versucht mir zu helfen. Obwohl ich nicht genau weiss womit. Sie will, dass ich selbstständig werde. Ich sei abhängig von ihr. Vielleicht bin ich das auch. Und sie bringt mich manchmal in Schwierigkeiten. Aber Sara versteht das nicht. Ich verstehe es ja selbst nicht.

Die Sonne scheint oft, wie auch heute. Wir sitzen dann draussen unter der Linde im Garten und lauschen dem Wind. Er tanzt zwischen den Ästen auf und ab und lässt ihre Blätter erzittern. Ein Geräusch, als würden hundert Klapperschlangen in den Bäumen sitzen und manchmal, wenn der Wind um Ecken schleicht tönt es, als würden sie dabei ein leises Liedchen singen. Ich liebe den Wind, das Wetter. Das Wetter ist wie wir. Die Sonne kann den ganzen Tag scheinen und dann aus heiterem Himmel braut sich ein Gewitter zusammen. Die grauen Wolken türmen sich auf, es wird kalt, der Wind bläst stärker und es regnet in Strömen. Und plötzlich ist es wieder vorbei.

Der grosse Speisesaal ist noch fast leer. Es riecht nach Tomaten. Ich setze mich an einen freien Platz am Ende eines langen Tisches. Ein wenig entfernt sitzt eine junge Frau mit langen schwarzen Haaren, wie ich sie habe. Ihre Augen sind eingefallen und Blutunterlaufen. Sie hat anscheinend geweint. Sie sitzt da, isst nicht, spricht nicht. Am gleichen Tisch sitzt ein Mann in einem schwarzen Anzug, Krawatte und Aktenkoffer. Er nimmt diesen Aktenkoffer überall mit. Er nimmt ihn mit auf Spaziergänge, mit ins Bett und wie man sagt, sogar mit in die Badewanne. Verrückt, ein verrückter, alter, einsamer Mann. Aber sie, sie war nicht einsam. Ich war nicht einsam. Was suchte ich eigentlich hier? Ich weiss es selbst nicht.
Die Tomatensuppe ist gut. Das Dessert noch besser. Eine süsse, saftige Cremeschnitte mit einer rosa Glasur überzogen. Ich sollte eigentlich nicht, sie hat es mir verboten. Aber ich kann nicht widerstehen, nur dieses eine Mal. Sie wird es nicht merken. Ich schliesse die Augen. Der Duft steigt mir in die Nase. Zu gut. Nur ein Biss. Noch nie zuvor hatte ich dieses Gefühl auf meiner Zunge, diesen Geschmack. Ich lasse ihn genüsslich auf der Zunge zergehen. Ein süsser, eleganter Geschmack. Zu hause durfte ich nie süsses essen. War schlecht für die Zähne. Macht dick. Hör auf damit! Hör sofort auf damit! Schreit sie mich an. Auf einmal kommt es über mich. Dieses Gefühl von Leere und Wut. Und dann ist sie da. Ich sehe ihr Gesicht, wutverzerrt. Sie wirft meine Gabel quer über den Tisch, packt meine Cremeschnitte mit beiden Händen und zerdrückt sie, zerquetscht sie mit beiden Händen, so dass sie zwischen den Fingern durchsickert. Den Brei klatscht sie zurück auf den Teller, kein schöner Anblick. „Ich hasse Cremeschnitten! Die sind nicht gut für dich!“ Sie packt den Teller samt Brei und schmettert ihn mit voller Wucht zu Boden, dass er in hunderte kleine Scherben zerspringt. Sie drückt ihre Hände auf die Ohren und verlässt mit grossen Schritten den Saal. Und draussen hat es zu regnen begonnen.

Ja, die Sonne scheint oft, aber manchmal, da regnet es auch wieder.

Ich habe es nie verstanden.

Ich hatte sie schon gekannt, als ich noch ein Kind war. Zuerst hat sie mich nur hin und wieder besucht, dann kam sie immer öfters. Erst hatte ich Angst. Aber sie kam, um mich zu trösten, wenn ich weinte oder alleine war. Sie war immer für mich da, wenn ich sie brauchte, damit ich keine angst mehr hatte. Sie war da, um mich zu beschützen. Sie wollte nur das Beste für mich. Und sie hat mir versprochen, mich nie alleine zu lassen, nie. Sie ist wie eine Schwester für mich.

Sara sitzt in ihrem Büro, an ihrem Pult, vertieft in einen Berg von Notizen. Ihre Brille auf der Nase. Sie seufzt. Sie weiss nicht weiter, sie weiss nicht was sie noch tun kann.
Sie hat lautlos den Raum betreten, ist durch das Zimmer gehuscht und erst als sie sich auf den Stuhl setzt schreckt Sara auf. „Oh, hallo. Ich habe dich nicht erwartet.“
„Ich möchte mit Ihnen sprechen.“
„Aha. Gut. Und worüber?“
„Ich möchte, dass Sie Mira in Ruhe lassen.“
„Tut mir Leid, ich verstehe nicht ganz.“
„Ich will, dass Sie uns endlich in Ruhe lassen. Mich und Mira. Ich halte das nicht länger aus, verstanden? Verschwinden Sie aus unserem Leben. Es tut ihr nicht gut, wenn Sie immer in ihrer Nähe sind. Sie machen ihr Angst. Ich bin für sie da, wenn sie etwas braucht.“
Sie steht auf, rennt aus dem Zimmer und lässt Sara mit verdutztem Gesicht sitzen.

Vielleicht ist sie auch wie eine Mutter für mich. Eine Mutter, die ich nie hatte.

Sie rennt davon. Die Treppe hinunter. Ihre nackten Füsse klatschen hart auf dem kalten Steinfussboden auf. Sie stürzt. Sara holt sie ein. „Mira, was ist los?“ Sie schaut Sara an, ihr Gesicht ist mit Tränen überströmt. „Mein Name ist nicht Mira!“ Sie richtet sich auf. Ihre Beine zittern. Sie läuft davon.
„Aber wer bist du dann.“ murmelt Sara vor sich hin.

Die Sonne scheint durch die roten Blätter der Linde auf mich hinab. Die Wunde an meinem Knie ist noch frisch. Das Blut glitzert in der Abendsonne. Ich streiche mir die Haare aus dem Gesicht. Die Schlangen haben wieder angefangen zu singen, eine seltsame Melodie, aber ich höre sie gern.

Sie sagt mir oft, dass das hier nicht der richtige Ort für uns sei. Sie sagt sie ertrage das nicht mehr. Sie werde uns hier weg bringen, fort von all den Leuten, die keine Ahnung hatten, wer wir waren. Die Menschen, die uns sagten was wir zu tun hatten, die dachten, sie wüssten alles über uns.. Ich mochte sie auch nicht. Nein, ich konnte sie nicht ausstehen. Aber ich habe mich nie getraut fortzugehen. Das alles hinter mir zu lassen, einfach zu gehen. Aber jetzt werde ich gehen.

Und sie geht. Geht durch den Garten, an der Linde vorbei, durch das grosse Tor, vorbei am Speisesaal, Saras Büro, Sara. Sie geht und öffnet das Fenster.
Der Wind kommt mir schon entgegen. Er ist wärmer als sonst, er umhüllt mich wie eine warme Decke. Er streicht über meine Wangen und trocknet meine Tränen. Unter mir liegt der Garten. Die untergehende Sonne hat ihn in ein gelbes Licht getaucht, das die Blumen und Blätter hell aufleuchten lässt. Der Wind lässt von mir ab und schleicht leise hinab in Garten. Ich sehe ihn, wie er durch das hohe Gras kriecht, das sich einmal auf die eine Seite, einmal auf die andere Seite biegt. Er wirbelt die Blätter auf. Sie tanzen zum Rhythmus der Melodie der raschelnden Bäume. Er schlängelt sich um den Stamm der Linde, wo er sich in den dichten Ästen und Zweige verfängt und sich verbissen durchkämpft ins Freie und bis hinauf in den Himmel entflieht. Den weiten Himmel, wo er sich in der Unendlichkeit des Blaus verliert und verschwindet.

Den Wind werde ich vermissen, den Wind in seiner unbeschreiblichen Schönheit. Sie schliesst die Augen. Ich meinte eine Träne aufleuchten zu sehen, aber sie weinte nicht, ich hätte geweint, sie nicht. Mira? Ja? Es tut mir leid. Hast du Angst? Ja. Du brauchst keine angst zu haben. Ich werde dich nicht verlassen.
Und sie ist gesprungen. Aus dem Fenster des zweiten Stocks. Und ich mit ihr. Ja, ich mit ihr, nicht sie mit mir. Nein, ich hätte nie den Mut aufgebracht aus einem Fenster im zweiten Stock zu springen. Sie war immer die Mutigere von uns gewesen.

Sie haben uns dann unter der alten Linde hinter der Klinik im Garten vergraben. Wir liegen unter der alten Linde im Sommer, im Herbst, im Winter und im Frühling. Und es kommen die Sonne, der Regen, der Wind und Sara. Sie kommt und pflanzt jeden Frühling einen Strauss Vergissmeinnicht auf unser Grab und murmelt dann irgendetwas wie „Ach, meine arme, kleine Mira.“
 
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Kommentare  

hallo el,
deine story gefällt mir sehr gut. am anfang ziemlich verwirrend, aber irgendwann macht es klick;) ich hoffe bald mehr von dir zu lesen! du bist erst seit ein paar tagen dabei wenn ich mich richtig ans datum erinnere...:)
lg darkangel


darkangel (01.05.2007)

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