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12 Seiten

Die Tänzerin - Ein Experiment mit dem Marionettenmotiv

Trauriges · Kurzgeschichten
© darkangel
Der Raum schien gänzlich aus Spiegeln zu bestehen. Der Boden spiegelte, die Decke spiegelte, und auch die Wände warfen das spärliche Licht und das Bild der Marionette klar zurück. Sie war ganz in weiß gekleidet, weiße Nadeln und Spangen hielten das kunstvoll hochgesteckte, von einer einzigen weißen Seidenschleife gezierte Haar zurück.
Weiße Seide schmiegte sich an weiße Schultern, weiße, lange Beine stachen unter einem kurzen, weißen Rock hervor. Einzig ihre Augenpartien waren violett, die Adern zeichneten sich gut sichtbar ab. Überall schimmerten blaue Äderchen durch ihre weiße Haut. Ruhig stand sie in der Mitte des verspiegelten Raumes, den Blick nach vorn ins Nichts gerichtet. Dann klärte sich ihr Blick. Sie hob den Kopf zur Decke, streckte die Arme langsam zur Decke, begann, in grazilen, mal langsamen, mal ruckartigen Bewegungen, zu einer Melodie, die nur sie hören konnte, zu tanzen. Jede Drehung, jede Bewegung wurde sechsfach zurückgeworfen, jede Stoffbahn um ihren Körper versechsfachte sich bei ihrem stummen Tanz.
Sie vollführte eine letzte Drehung, ihre ausgestreckten Arme senkten sich wieder, und sie stand da wie zuvor.


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Ein Sonnenstrahl strich über Ruths Gesicht und sie öffnete die Augen. Endlich wieder ausschlafen, wie sie das vermisst hatte! Eigentlich hatte sie gar keine Lust aufzustehen. Aber schließlich gab es in den Ferien so viele schöne Dinge zu tun! In Schlafsachen ging sie in die Küche und öffnete das Fenster. Gesprächsfetzen, Kinderlachen, Motorengeräusche wehten mit einer milden Brise herein.
Ruth holte sich ein Brötchen aus der Tüte. Heute mussten die alle werden, sonst würden sie trocken und pappig! Zufrieden kauend saß sie kurz darauf am Küchentisch. Die Sonne malte Kringel auf die weiße Beschichtung. Mal wieder tun und lassen können was sie wollte… Was sollte sie unternehmen?
„Erst mal mache ich einen Spaziergang“, beschloss sie, „den schönen neuen Tag begrüßen, und danach werde ich schon eine Beschäftigung finden. Ab nach draußen, die Sonne lacht!“
Nach dem Essen, den Abwasch verschob sie auf später, zog sie sich an. Nach einem kurzen Blick in den Spiegel, auf ihre roten Haare und die sommersprossige Nase, ging sie aus dem Haus. Ihr Ziel war ein kleiner Park, der ganz bei ihr in der Nähe lag. Vogelgezwitscher begrüßte sie, die Forsythien standen in voller Blüte. Ruth genoss die Sonne auf ihrem Gesicht und spazierte eine Weile kreuz und quer durch den Park, dann setzte sie sich beim Springbrunnen in der Mitte des Parks auf eine Bank und betrachtete die glitzernden Wassertropfen. Irgendwann lehnte sie sich zurück, schloss die Augen und döste vor sich hin, während ihr der laue Wind übers Gesicht strich.
Dann spürte sie, wie die Bretter der Bank leicht erbebten, als jemand sich darauf niederließ. Ruth öffnete die Augen. Neben ihr hatte eine hübsche junge Frau Platz genommen und betrachtete den Springbrunnen. Dann bemerkte sie Ruths Blick. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen.
„Schön, nicht wahr?“, fragte sie mit einer wohlklingenden, melodischen Stimme. Auch Ruh musste lächeln.
„Ja, ich habe selten einen so schönen Ferienanfang erlebt.“
„Ferien? Dann gehst du sicher noch zur Schule?“ Ruth nickte.
„Wurde gerade in Stufe 13 versetzt. Was machst du denn?“
„Ich tanze.“ Ruth erinnerte sich an ihren Traum. Neugierig fragte sie nach:
„Du tanzt?“ „Ja, Tanz, Schauspiel, Gesang.“
„Noch in Ausbildung?“ Die junge Frau bejahte.
Sie unterhielten sich noch eine Weile und Ruth fand heraus, dass sie Cosima hieß, gerade 20 geworden war und eine besondere Vorliebe für türkische Pizza, Nightwish und lange Videoabende mit schnulzigen Liebesfilmen hatte.
Dann setzte Cosima sich auf.
„Du, ich muss los, aber sollen wir uns morgen wieder hier treffen?“
„Gerne“, war Ruths Antwort. Sie mochte Cosima auf Anhieb. Sie verabredeten sich für dieselbe Zeit am nächsten Tag beim Springbrunnen.
Auf dem Weg nach Hause war Ruth außergewöhnlich gut gelaunt, sie hatte eine Melodie im Kopf und summte leise vor sich hin. „Angels Fall First“ von Nightwish. Sie schloss summend die Haustür auf und ging erst einmal schnurstracks für eine Dusche ins Badezimmer. In Schlafsachen, eingewickelt in eine Decke und neben sich einen Teller mit den restlichen zwei Brötchen, setzte sie sich vor den Fernseher. Es lief „Drunken Master“ mit Jackie Chan. Eine Weile schaute sie zu, verzog jedoch immer weiter das Gesicht und schaltete schließlich den Fernseher aus. Anders als seine meisten Filme Chans war dieser mehr brutal als lustig. Dennoch ging Ruth recht zufrieden ins Bett. In ihrem Kopf spukte eine Melodie …


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Die Tänzerin stand ruhig da. Die Seide floss über ihre Porzellanschultern und tanzte schon jetzt in einer unhörbaren Melodie. Der weltfremde Blick der Marionette blieb, doch sie drehte langsam den Kopf zur Seite. Ihr Arm hob sich zur Seite und sie stellte sich auf die Zehenspitzen und begann wieder zu tanzen. Ihr Gesicht zeigte volle Konzentration. Die violett umrandeten Augen blickten starr ins Leere, die Kiefermuskeln waren verkrampft.
Die Spiegel reflektierten ihre geschmeidigen Bewegungen, sie tanzte zusammen mit ihren Spiegelbildern. Sie tanzte den Tanz ihres Lebens. Eines Lebens in Ketten, gebunden durch unsichtbare Fäden aus den Lichtbündeln der Spiegelbilder. Sie tanzte mal geschmeidig, mal ruckartig, mal floss sie selbst wie die Seide davon, dann wurden ihre Bewegungen hart und wütend. Doch schließlich wurden ihre Bewegungen wieder weich und sie ließ ihr zur Decke gerecktes Bein los, langsam senkte es sich zum Boden, zusammen mit ihrem Blick, und sie erstarrte.


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Ruth erwachte ausgeruht und voller Tatendrang. Nach dem Frühstück erledigte sie pflichtbewusst den Abwasch und ging in den Park. Obwohl sie zu früh war, saß Cosima schon auf der Bank und sonnte sich. Außer ihnen war an diesem schönen Sonntagmorgen keine Menschenseele im Park und es war nichts zu hören außer dem Wasserplätschern und dem Gezwitscher der Vögel. Ruth setzte sich.
„Hallo“, begrüßte sie Cosima. Diese öffnete die Augen kaum einen Spalt breit und antwortete mit einem müden Blinzeln:
„Hallo, Ruth! Ich wünschte ich hätte Ferien wie du und könnte mich jeden Tag hier auf der Bank sonnen!“
„Tja“, grinste Ruth, „das ist leider uns Schülern vorbehalten!“
Eine Weile saßen sie einfach nur da und jeder ging den eigenen Gedanken nach. Ein paar Meisen badeten im Springbrunnen und ein altes Pärchen setzte sich auf eine Bank in der Nähe. Die alte Frau schaute mit einem Lächeln auf dem faltigen Gesicht den Meisen zu, der Mann blickte sichtlich glücklich in die Ferne. Es war wirklich ein schönes Bild. Nach einiger Zeit sagte Cosima:
„Mann, hab' ich Hunger!“
„Sollen wir zum Bäcker und dann zu mir gehen?“, schlug Ruth vor. Sie willigte ein, also schlenderten sie zusammen zum Bäcker, der sonntags natürlich geschlossen hatte. Ruth lachte über ihre Dummheit und sie gingen direkt zu ihr, um ein bisschen ihre Vorräte zu plündern.
„Warum wohnst du eigentlich allein?“, fragte Cosima drinnen und schaute sich neugierig um.
„Meine Eltern wohnen nicht in Hamburg“, antwortete Ruth. Sie sprach nicht gerne darüber, aber es kam ihr nicht so vor, als würde Cosima dumme Bemerkungen machen. Sie hatte Recht. Cosima fragte nach dem Grund und gab sich damit zufrieden.
„Tut mir Leid für dich“, sagte sie noch. Ruth nickte nur. Sie hatte kein besonders gutes Verhältnis zu ihren Eltern gehabt, eigentlich war ihr der Umzug schon ganz Recht gewesen. Dass ihre Eltern ihr die Möglichkeit gelassen hatten, in eine Jugendwohnung zu ziehen, zeigte zwar nicht gerade ein perfektes Verhältnis, aber Ruth war froh darüber. Seit mehr als einem Jahr wohnte sie jetzt allein und hatte kein Problem damit.
Die Zeit mit Cosima verging wie im Flug. Sie spielten Karten, unterhielten sich, stellten fest, dass sie beide keine Überraschungen mochten und dann war es wieder so weit. Cosima blickte auf die Uhr und sagte:
„Du, ich muss los. Morgen muss ich um fünf aufstehen.“
„Oh nein, du Arme!“ lachte Ruth. Sie brachte Cosima noch zur Tür.
„Hast du Lust, mich morgen abzuholen? Wir könnten türkische Pizza essen gehen!“, fragte diese zum Abschied.
„Ja, klar, gerne, wo soll ich dich denn abholen?“, antwortete Ruth. Schnell klärten sie Uhrzeit und Ort.
„Wenn du zu früh da bist, komm ruhig noch rein und guck zu!“, sagte Cosima und ging die Treppe hinunter. Ruth schloss die Tür und räumte die Küche auf.


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Der Raum mit den vielen Spiegeln sah noch dunkler aus als sonst. In der Mitte stand sie, den Blick zu Boden gerichtet, und wartete auf ihren Auftritt. Ihren Auftritt vor den Spiegeln. Gelöste, nylonähnliche Strähnen hingen der Tänzerin in die Stirn, weiße Stoffbahnen umhüllten ihren feingliedrigen Körper. Auf ein nur für sie erkennbares Zeichen hin hob sie den Kopf, bis ihr Blick geradeaus auf ihr Spiegelbild gerichtet war. Sie hob die Arme seitlich, in einer kreisförmigen Bewegung, über den Kopf.
Dünne, rosafarbene Striche verunzierten ihre dünnen, weißen Unterarme. Ihre Augenringe schienen tiefer, die Adern deutlicher, die Augen starrten, wenn auch blicklos, voller Anspannung auf ihr Spiegelbild. Sie begann den Tanz zu ihrer ganz eigenen Melodie, ohne einen einzigen falschen Schritt. Als sie den Kopf zurückwarf, flog ihre weiße Haarschleife durch die Luft und schwebte sehr, sehr langsam zu Boden. Als die Schleife den Boden berührte, stand die Tänzerin reglos, den Blick nach vorn gerichtet.


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Ruth reckte sich müde. Der Schlaf war nicht sehr erholsam gewesen. Sie schaute auf den kleinen Funkwecker auf ihrem Nachttisch: 10:37 Uhr. Heute stand vor ihrem Treffen mit Cosima noch Einkaufen auf dem Plan. Erst einmal schlurfte Ruth gemütlich in die Küche, zog nach kurzem Überlegen die Schachtel Cornflakes aus dem Regal und füllte eine Schale. Jeweils mit einer Hand öffnete sie den Kühlschrank und das Fenster, nahm sich die Milch und setzte sich damit an den Tisch. Während sie ihre Cornflakes löffelte, blickte Ruth aus dem Fenster.
Es war immer noch schön sonnig, aber die Brise, die zum Fenster hereinwehte, war schon ein bisschen kühler. Sie zog einen Zettel und einen Kugelschreiber zu sich und machte einen Einkaufszettel. Kurz darauf ging sie sich anziehen und wenig später zog sie schon die Tür hinter sich zu und machte sich auf den Weg. Ihr Weg führte sie durch den Park, am Brunnen vorbei und zum nah gelegenen Edeka. Sie holte sich einen Einkaufswagen und schob diesen entspannt summend hinter zwei alten Damen, die sich über Hundefutter unterhielten, an den Regalen entlang. Diese Ferien fingen einfach zu perfekt an! Na gut, sie schlief nicht so gut, aber man konnte ja nicht alles haben.
Schnell war alles eingekauft und sie machte sich auf den Weg zurück nach Hause. Jetzt ging es an eine ihre Lieblingsbeschäftigungen: Pizza backen. Wer machte sich in dieser Zeit noch die Mühe, selbst den Pizzateig zu kneten, gehen zu lassen, dann auszurollen und mit den verrücktesten und farbenprächtigsten Kombinationen zu belegen, wo man auch einfach eine Tiefkühlpizza aus dem Eisfach holen konnte, die viel schneller zubereitet war und mit ihren „natürlichen Aromen“ auch super schmeckte? Ruth machte sich gern die Mühe, es entspannte sie und machte ihr Freude, etwas Selbstgemachtes zu essen.
Die nächsten zwei Stunden verbrachte sie in der Küche, summend, Teig knetend und Gemüse schnippelnd. Als die Pizza im Ofen eine goldbraune Färbung bekam und der Duft sich in der Wohnung ausbreitete, stellte Ruth mit einem Blick auf die Uhr enttäuscht fest, dass sie keine Zeit mehr haben würde, ihr Kunstwerk zu kosten. Sie nahm sich noch die Zeit, schnell zu duschen und fuhr dann mit der Bahn los zur Joop van den Ende Academy, deren Adresse Cosima ihr gegeben hatte.
Dort angekommen, erfuhr Ruth, dass Cosima noch Ballettunterricht hatte.
„Wenn Sie möchten, können Sie aber hineingehen und von der Bank aus zuschauen. Dann müsste ich Sie aber um Ruhe bitten!“ Das versprach Ruth gerne, sie war gespannt darauf, Cosima beim Tanzen zuzuschauen.
Sie betrat eine kleine Halle, gut ausgeleuchtet und mit Spiegeln an den Wänden versehen, in der sich eine kleine Gruppe Schülerinnen und eine sehr große und gut aussehende Lehrerin aufhielten. Unter den Tänzerinnen erhaschte sie einen Blick auf Cosima. Es gab keine Musik, die jungen Frauen schwitzten. Sie trugen nicht besonders hübsche, zweckmäßige, weiße Kleidung und hatten rote Gesichter. Ruth beobachtete Cosima. Sie hatte Talent, das sah man sofort. Ihre Bewegungen waren elegant und sahen trotz der Anstrengung leicht und unbeschwert aus. Ruth setzte sich bequem hin und betrachtete Cosima durch die halb geschlossenen Augen.
Mit einem Mal dachte Ruth, sie befände sich in dem Raum, den sie aus ihren Träumen kannte. Cosima war die schöne Tänzerin und die anderen waren ihre Spiegelbilder. Doch reflektierten die Spiegelbilder nicht Cosima. Sie musste sich konzentrieren, um mit ihnen mithalten zu können. Schneller und schneller tanzten sie, doch Cosimas Gesicht blieb ausdruckslos, die Lippen fest zusammengepresst, die Augen starr.
Das Klatschen der Lehrerin riss Ruth aus ihren Tagträumen.
„Wir sind fertig! Sie können sich umziehen!“ Cosima kam auf Ruth zu. Sie lächelte.
„Na, wie geht es dir? Hat das zuschauen Spaß gemacht?“ Automatisch nickte Ruth.
„Gut. Wir treffen uns gleich draußen, okay?“ Schon war sie an ihr vorbeigerauscht.
Ruth saß auf einem Stuhl neben einer Plastikpflanze und wartete, als Cosima aus der Umkleide kam. Ihre Haare waren noch nass und sie lächelte.
„Und, wie sieht unser Programm aus? Türkische Pizza kaufen, herumschlendern…?“
„Oh nein, das hatte ich ja total vergessen! Ich habe Pizza gemacht, dann kann ich jetzt gar keine Lahmacum essen! Kann ich dich stattdessen zu mir nach Hause zum Pizzaessen einladen?“ Das Angebot nahm Cosima gerne an. Mit der Bahn fuhren sie zu Ruths Wohnung.
„Ich wärme nur schnell die Pizza auf, mach es dir bequem, von mir aus mach den Fernseher an!“ Gut gelaunt ging Ruth in die Küche und stellte den Backofen noch einmal an. Als sie in ihr Zimmer zurückkehrte, hatte Cosima den Fernseher angeschaltet und saß auf ihrem Bett.
„Läuft voll der spannende Krimi!“, sagte sie, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden. Ruth grinste. Sie stellte Gläser und eine Flasche Wasser neben das Bett und ging dann wieder in die Küche, um die Pizza zu holen. Kurz darauf saßen sie beide, gefesselt vom Film und an der Pizza kauend, vorm Fernseher und bemerkten kaum, wie die Zeit verging.
Um 22:40 Uhr war der Krimi zu Ende. Die Protagonistin hatte sich von einer Brücke gestürzt. Cosima schaute Ruth an.
„Der war jetzt mal echt gut“, sagte sie, „und wahnsinnig traurig!“ Ruth nickte. Langsam kehrte sie wieder in die Wirklichkeit zurück. Jetzt grinste Cosima.
„Ohne einen anständigen Selbstmord geht gar nichts mehr, könnte man meinen!“ Gähnend schaute sie auf die Uhr und erschrak:
„Schon halb elf?! Wenn ich jetzt noch nach Hause fahre, bleiben mir gerade mal fünf Stunden Schlaf!“ Schnell stand sie auf.
„Du kannst auch hier schlafen“, bot Ruth ihr an. Cosima schaute sie an.
„Wirklich? Danke! Das wäre wirklich praktisch. Kann ich von hier aus bei mir zu Hause anrufen? Ich wohne nämlich noch bei meinen Eltern.“ Ruth holte das Telefon und Cosima sagte ihren Eltern Bescheid, während Ruth ein paar Isomatten und Decken holte.
„Ich schlafe auf dem Boden und du bekommst mein Bett“, beschloss sie.
Sie gingen so schnell wie möglich schlafen und Ruth betrachtete noch eine Weile Cosima, die die Augen geschlossen hatte, jedoch nicht zu schlafen schien, bis ihr selbst die Augen zufielen und sie sanft in das Reich der Träume hinüber glitt….


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Die Marionette stand starr. Unter ihre Augen hatten sich noch tiefere Ringe gegraben. Ihr Porzellanrumpf war dünn, fast zu dünn. Die Lippen waren schmal, ein blassvioletter Strich. Auf das unhörbare Kommando, nach dem sie sich richtete, hob sie den Kopf zur Decke und schaute ihrem Spiegelbild in die gefühllosen Augen, während sie die Arme vorm Körper hob, um ihren Tanz zu beginnen.


Das Bild verschwamm.


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Verwundert öffnete Ruth die Augen. Was war das? Sie hörte ein Schluchzen aus der Dunkelheit. Sie blickte hinüber zum Bett, doch da lag niemand. Cosima stand am offenen Fenster, Ruths langes Nachhemd wehte um ihren dünnen Körper.
Sie weinte.
Ihr Blick verlor sich draußen in der milden Nacht. Um sie herum zitterte der Vorhangstoff in einer kühlen Brise. Cosima hob den Kopf und sah zum Sternenhimmel.
Lange stand sie so da.
Ruth wusste nicht, was sie tun sollte. Sie beobachtete, wie die stummen Tränen über Cosimas Wangen rannen. Sollte sie zu ihr gehen? Etwas sagen?
„Cosima?“ Ihre Stimme klang dünn.
Cosima zuckte zusammen. Wie ertappt drehte sie sich um.
„Cosima, was ist los?“
Cosima schloss das Fenster. Sie ging zum Bett zurück und hüllte sich in die Bettdecke. Ruth setzte sich neben sie.
„Kann ich dir helfen?“
Ruth betrachtete besorgt das schöne, schmale Gesicht, das noch bleicher war als gewohnt, die roten, verweinten Augen.
„Was ist los?“
Machte sie etwas falsch? Was war los?
„Soll ich mich wieder hinlegen und dich in Ruhe lassen? Ich lege mich jetzt einfach wieder hin, okay?“
Was sollte sie sonst tun? Es tat ihr weh, Cosima so traurig zu sehen, aber sie wusste nicht, was sie ihr sonst anbieten sollte. Ruth stand auf und ging zurück zu ihrer Isomatte.

„Warte“

Sie drehte sich um. Cosima starrte immer noch zum Fenster, aber ihre Lippen bewegten sich. Sie schien Worte zu suchen.
„Sie erwarten so viel.“
Ein verweintes, hohes Flüstern. Cosima wendete ihren Kopf Ruth zu.
„Sie setzen so viel voraus.“
„Wer?“ Ruth setzte sich wieder aufs Bett.
„Wer, wer? Alle! Alle wollen sie, dass ich funktioniere und schlafe und esse und dann tanzen gehe und irgendwann berühmt werde!“
„Willst du das denn nicht?“
Cosima schaute sie an. Ihr Blick war so tief, dass Ruth das Gefühl hatte, direkt in ihre Seele zu blicken.
„Früher, als ich klein war, habe ich zum Spaß getanzt, Ich habe gesungen, was ich wollte, und beim Tanzen gelacht. Jetzt sagen sie mir, was ich singen soll, und dass ich beim Tanzen nicht lachen darf. Und alle erwarten sie, dass ich perfekt bin!“
„Wolltest du denn gar nicht diese Musical-Ausbildung machen?“
„Zuerst schon. Aber dann … ich habe gesagt, ich schaue mich um und überlege es mir. Aber sie waren so begeistert … Sie sahen mich schon vor sich, wie ich die Bühnen und die Herzen der Zuschauer erobere … Mir gefiel es nicht.“
„Hast du das nicht gesagt?“
„Sie wollten es nicht hören. Meine Eltern dulden keinen Widerspruch. Sie wollen, dass ich mich ganz auf meine Ausbildung konzentriere, dass ich andere Ziele haben könnte, ist ihnen egal. Du bist die erste, die ich seit langem vielleicht sogar Freundin nennen könnte! Sie denken, Kontakte schaden meiner Karriere. Ich soll mich auf eine Sache zur Zeit konzentrieren.“
„Aber die anderen Schülerinnen?“ Ruth war erschüttert. Keine Freunde, Essen, Schlafen, Ausbildung, das sollte ein Leben ausmachen?
„Sie halten mich für arrogant und wollen um jeden Preis besser sein als ich. Mein Vater hat meiner Lehrerin seine Prinzipien erklärt und seitdem ist sie total begeistert von mir!“ Die letzten Worte spuckte sie geradezu aus:
„Ich hasse es! Ich hasse meine Lehrerin und die Schülerinnen! Ich hasse meine Eltern, für die ich nur ein Statussymbol bin!“
Weinend sank Cosima zusammen. Ruth nahm sie in den Arm. Sie konnte es nicht glauben, Cosima war ihr so fröhlich, so aufgeschlossen vorgekommen… Sie fühlte den von Schluchzern bebenden, schmalen Körper in ihre Armen wie den eines kleinen Vogels. Sie spürte Cosimas flatternden Herzschlag an ihrer Brust, als sie sie an sich drückte. ‚Ich werde dich beschützen, kleiner Vogel’, dachte sie.
Als Cosima keine Tränen mehr hatte und sich erschöpft an Ruths Schulter lehnte, schliefen sie Arm in Arm ein.


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Wie ein Spiegelbild auf dem Wasser klärte sich das Bild wieder. Die Tänzerin fuhr mit ihrer Bewegung fort und fing sich bald wieder in ihrem ganz eigenen Tanz, der ihr und den Spiegelbildern die Kraft geben würde, den nächsten Tag zu überstehen. Sie wand sich zu der unhörbaren Melodie wie eine Schlange, glitt dahin wie ein Schwan, doch der weißen Seide konnte sie kein Leben einhauchen. Sie blieb ein toter Schleier, der sich um sie schlang, die Fäden vor ihr verbarg und sie in ihren Bewegungen verwirrte.
Keinen Blick verschwendete die schöne Marionette auf die Haarschleife, die auf dem Boden lag, und als sie den Fuß darauf setzte, war es zu spät. Sie rutschte aus, ihr rechter Fuß setzte unsanft auf dem Spiegelglas auf. Ein dumpfes Grollen erklang und mit einem leisen Knistern fraß sich ein dünner Riss durch das Glas. Noch ehe das Geräusch verklungen war, stand die Porzellanfigur wieder regungslos.


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Als Ruth die Augen öffnete, dämmerte es bereits. Ein Blick auf die Uhr bestätigte ihre Befürchtungen: 06:34 Uhr. Cosima lag neben ihr und schlief selig. Ruth rüttelte sie wach.
„Cosima! Wir haben verschlafen! Wir haben den Wecker nicht gehört!“ Cosima schreckte hoch.
„Was ist? Verschlafen? Ruth!“ Ruth hielt ihr den Wecker hin.
„Halb sieben! Um fünf wollten wir aufstehen!“
„Nein!“, entfuhr es Cosima. Dann blickte sie Ruth ruhig an.
„Würdest du mich krank melden, bitte?“
Natürlich! Ruth gab sich als Cosimas Mutter aus. Danach schien es Cosima besser zu gehen. Ruth frühstückte, während Cosima nur einen Tee hinunterbrachte. Um sieben Uhr Verabschiedete sie sich.
„Jetzt ist für ein paar Stunden niemand zu Hause. Ich habe mir etwas überlegt, ich glaube, es ist alles richtig so. Ich habe dir schon heute Nacht gesagt, dass du seit langem wieder eine richtige Freundin für mich warst. Du hast mir bei meiner Entscheidung geholfen, ich sage dir, heute Abend ist alles gut. Mach dir keine Sorgen um mich.“
Das klang sehr abschließend, doch Ruth hatte Vertrauen in Cosima. Sie klang so sicher, sie würde einen Ausweg finden, da war Ruth sich sicher. Als Cosima gegangen war, schaltete sie ihren CD-Player an und legte das Album „Angels Fall First“ ein. Als die ersten Klänge von „Elvenpath“ durch das Zimmer wehten, kuschelte sie sich auf Ihrem Bett zusammen, um noch eine Weile zu schlafen.


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Das Grollen war verklungen, nur der Riss erinnerte an die ungeschickte Beendung des letzten Tanzes. Heute stimmte von Anfang an etwas nicht. Klänge durchfluteten den Raum, wurden wie das Licht und die Tänzerin selbst von den Spiegeln zurückgeworfen, verwoben sich wie seidene Fäden. Und die Tänzerin verwob sich mit ihnen. Das erste Mal seit langen war sie wieder eins mit der Musik und tanzte aus purer Überzeugung.
Sie weinte beim Tanzen und tanzte blind weiter. Der salzige Regen plätscherte auf den Spiegel zu ihren Füßen und verschwand durch den feinen Riss.
Doch der Tanz weilte nicht lange. Die Tänzerin stoppte mitten in einer Drehung, die weiße Seide erstarrte kurz in der Luft, bevor sie wieder an ihr herunterfiel. Mit einer geschmeidigen, endgültigen Bewegung trat sie mitten auf den Riss und der Spiegel zersplitterte. Als ihre Füße durch den Boden brachen, verfärbte sich der Saum ihres Kleides rot. Sie ergriff eine der Spiegelscherben und Blut floss über ihre Hand. Nun war sie sie selbst, keine Puppe aus Porzellan, sondern eine Person aus Fleisch und Blut, deren Kleid sich schon bis zur Taille rot gefärbt hatte. Sie liebkoste mit der Spiegelscherbe ihre Arme, die Haut am Hals. Das Blut tränkte ihr Kleid und sickerte an ihr hinab, in Richtung Taille. Mit geschlossenen Augen schleuderte sie die Scherbe gegen die Decke. Der Spiegel über ihr zersplitterte. Tausende kleiner Spiegelscherben schossen auf sie zu, mit ihnen ihre eigenen Tränen.
Als ihr Kleid vollkommen rot war und der schillernde Regen sie traf, Schrie sie alle Angst und allen Schmerz aus sich heraus. Der Schrei ließ die letzten vier Spiegel bersten und ihr gläsernes Gefängnis stürzte zusammen und begrub sie unter sich. Die Spiegelscherben beschlugen und färbten sich rot.



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„Cosima!“ Ruth hörte sich selbst schreien.


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Cosima, die Tänzerin, hatte eine Lösung gefunden.


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Angels fall first

An angelface smiles to me
Under a headline of tragedy
That smile used to give me warmth
Farewell - no words to say
Beside the cross on your grave
Angels And those forever burning candles

Needed elsewhere
To remind us of the shortness of your time
Fall Tears laid for them
Tears of love tears of fear
Bury my dreams dig up my sorrows

First Oh Lord why
The angels fall first?

Not relieved by thoughts of Shangri-La

Nor enlightened by the lessons of Christ

I'll never understand the meaning of the right
Ignorance lead me into the light

Needed elsewhere...

Sing me a song
Of your beauty
Of your kingdom
Let the melodies of your harps
Caress those whom we still need

Yesterday we shook hands
My friend
Today a moonbeam lightens my path

My guardian

(“Angels Fall First” von Nightwish aus dem gleichnamigen Album)


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Diese Story ist ein an meine schon veröffentlichte Story "Die Tänzerin (Angels Fall First)" anknüpfendes Experiment. Das Marionettenmotiv fasziniert mich, seit ich Destinys Story "Zwischenwelt" gelesen habe:

http://www.webstories.cc/stories/story.php?p_id=108305
 
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Kommentare  

Das ist ein wirklich gelungenes "Experiment". Stilistisch sehr schön mit wunderschönen Adjektiven.

Margaretha (31.12.2007)

Ach, man hat ja nicht immer Zeit, also mach dir keine Sorgen. Schönes We. Lg Sabine

Sabine Müller (07.12.2007)

nicht dass ihr denkt ich igoriere euch, also mal wieder ein dankender kommentar von mir...:P

darkangel (07.12.2007)

Hallo darkangel,

die Geschichte gefällt mir. Du hast alles sehr schön beschrieben und man kann es sich somit gut vorstellen.
Besonders der Teil, in dem die Spiegel zerbrechen.
Traurig, aber schön - so wie auch Doska bereits vermerkt hat.

Lg Sabine


Sabine Müller (07.12.2007)

Hallo und Danke für deinen Kommentar zu meiner Geschichte! Sehr nett! Hab leider noch nichts von dir gelesen, werd ich aber nachholen. Man liest sich,
lg Christian Hoja


Chrstian Hoja (30.11.2007)

Eine traurige - jedoch wunderschöne Geschichte.

doska (16.10.2007)

hm... laut euren kommentaren gibt es ja nichts mehr zu verbessern... nennt ihr sie damit perfekt oder wisst ihr bloß nicht, was zur perfektion fehlt?^^
danke, bettina, auch für deinen kommentar:P
lg darkangel


darkangel (08.09.2007)

Deine Geschichte hat mir gut gefallen, sie ist poetisch geschrieben, wenn auch sehr traurig.
Eine gute Idee finde ich, daß die Träume von Ruth in die Seele von Cosima sehen lassen.

Schöne Grüße von Bettina


Bettina Lege (06.09.2007)

hallo, danke für den kommentar und den hinweis, habs gleich verbessert;)

lg darkangel


darkangel (10.08.2007)

Klasse darkangel, die Geschichte klingt wirklich gut und ist sehr ergreifend. Hier mußt Du noch eine Kleinigkeit verbessern.

„Soll ich mich wieder hinlegen und ich in Ruhe lassen? Ich lege mich jetzt einfach wieder hin, okay?“


Stefanie Rifaat (09.08.2007)

danke dir! soo jetzt hat die story auch ein paar mehr absätze.
lg darkangel


darkangel (03.08.2007)

Ich bin begeistert. Besonders die Beschreibung der Träume hat mir gut gefallen.

Tintenkleckschen (03.08.2007)

hallo rosmarin, danke für den hinweis, ich werde das wohl heute noch in die hand nehmen...
das bewertungssystem bleibt mir verschlossen, ich kann nämlich nicht bewerten;) aber das kommt ja vllt noch, werden wir dann sehen:)

lg darkangel


darkangel (03.08.2007)

so, liebes schwarzes engelchen, mal sehen, ob das mit dem neuen bewertungssystem klappt.
deine geschichte gefällt mir inhaltlich und stilistisch sehr gut. allerdings solltest du bei jeder neuen wörtlichen rede eine neue zeile beginnen und auch einige absätze mehr einbauen, also, immer wenn ein neuer gedanke oder eine neue handlung beginnt, damit das ganze etwas übersichtlicher wird.
gruß von rosmarin


rosmarin (02.08.2007)

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