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2 Seiten

Ein ganz normaler Tag

Trauriges · Kurzgeschichten
© Middel
Langsam zählt er die Schritte, die er macht. Er hat sie auswendig gelernt, es sind genau 48. 48 Schritte bis zur Ampel. Seit über 40 Jahren ist er nun blind und kommt ohne fremde Hilfe zurecht. Zwischenzeitlich hatte er mal einen Hund, so einen Blindenhund, der ihm eine Unterstützung sein sollte. Aber er kann Hunde nun mal nicht ausstehen, zudem ist er lieber allein, sein eigener Herr. „23 ... 24 ... 25“, er zählt immer halblaut, damit er sich hundertprozentig sicher sein kann, dass er keinen zu viel und keinen zu wenig geht. Schließlich ist die Straße vielbefahren und er hört auch nicht mehr so gut seit einiger Zeit. Man sagt ja, dass die anderen Sinne schärfer werden, wenn man einen verliert und das kann er nur bestätigen, aber wenn man über 60 ist, dann werden auch diese anderen Sinne langsam schwächer. Früher einmal, als seine Sinne noch alle tadellos funktionierten, war er sehr beliebt bei den jungen Damen. Heute sprechen sie ihn höchstens noch an, um ihm über die Straße zu helfen. Aber ein Dickkopf und Eigenbrödler wie er nun mal einer ist, lässt sich nur ungern helfen. Selbst wenn sie auch noch so eine süße Stimme haben und verführerisch duften. Nein, diese Zeiten sind längst vorbei, spätestens, seit seinem Unfall damals, der ihn schon mit 26 zum Krüppel werden ließ. Auch wenn die Anderen es nicht sagen, so hört er doch in ihren Stimmen, ganz versteckt im Unterton, dass sie genau das meinen. Ausnahmslos alle, bis auf die Kinder. Mit denen redet er gerne, weil sie so unbefangen sind. „36 ... 37 ...“
„Du Onkel ...“ Er ist verwirrt, es ist immer schwierig auszumachen, ob Andere ihn meinen, seit seine Ohren nicht mehr so wollen. „Ja?“, fragt er verlegen. Die Stimme scheint zu einem kleinen Mädchen zu gehören, vielleicht fünf, höchstens sechs Jahre alt. „Ich hab meine Mama verloren.“ Jetzt bemerkt er auch den traurigen Tonfall des Kindes. Hilflos bleibt er stehen. „Wann hast du sie denn verloren?“, fragt er in die Richtung, in der er die Kleine vermutet. Doch noch ehe sie antworten kann, hört er von weiter hinten eine Stimme: „Kati ... Kati.“ „Mama!“ Freudig entfernt sich das eben noch völlig aufgelöste Mädchen und lässt ihn stehen. „Bin wohl doch nicht der einzige Hilflose hier“, grummelt er verschmitzt und setzt seinen Weg fort. „45 ... 46 ...“ BOOOOM. Ein riesiger Knall erschüttert die Hengstenbergstraße, als eine Mutter und ihre kleine Tochter Zeugen eines dramatischen Verkehrsunfalls werden. Ein älterer Herr mit Stock läuft geradewegs auf die vielbefahrene Straße und wird von einem Laster erfasst. Geistesgegenwärtig hält die Frau ihrem Kind die Augen zu und zieht sie ganz nah zu sich heran. Sekundenlang herrscht Stille, dann fragt die Kleine: „Ist dem netten Mann etwas passiert, Mama?“
 
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Kommentare  

Stimmt, das ist die Hauptsache, dass uns die Geschichte gefallen hat. Und du hast Recht: unheilbare Krankheit, schmerz und depression können ein Grund sein, dass ein Mensch sich das Ende des Lebens wünscht und gehören in eine andere Geschichte. Ein etwas älterer, Blinder jedoch "sieht" bestimmt noch mehr im Leben als den raschen Tod. Wenn der Mann auch einsam ist und sich hilflos fühlt. Wenn er den Tod schon früher gewollt hätte, hätte er sich die Schritte nicht so genau eingeprägt.
Aber ich höre ja schon auf. Wollte dich auch nicht missverstehen oder so, aber es kam so rüber als ob Alter und Behinderung ein Grund wären, sich rasch auf das Lebensende zu freuen. Lg Sabine


Sabine Müller (11.04.2008)

Éinfach einschlafen - wenn das Alter es möchte - ganz ohne Schmerz - das stelle ich mir als schönen Tod vor. Aber Jeder hat wohl halt eine andere Vorstellung von schönem Tod.
Klar, dass der Mensch dann nichts mehr mitbekommt, wenn er tot ist, aber wirklich gerne sterben tut sicherlich niemand.


Sabine Müller (11.04.2008)

Was für eine Aussage: "der Mann ist schließlich mindestens 66, blind"? Hat man dann und deswegen keinen Spaß mehr am Leben?! Klar - der Tod gehört zum Leben dazu, das akzeptiert man eben und "traurig" ist auch Ansichtssache. Aber dem Rest stimme ich nicht so ganz zu. 66 ist doch noch kein Alter. Und es gibt sicherlich auch einen schöneren Tod als von einem Laster dem Erdboden gleich gemacht zu werden.
Es geht aus der Geschichte aber auch nicht unbedingt hervor, ob der Mann gestorben ist, ich nehme es aber mal stark an. Das würde in das Muster der Geschichte passen, weil er immer aufgepasst hat und dann passiert was, ein tragischer Unfall, Laster. Ich denke, er ist gestorben.


Sabine Müller (10.04.2008)

Eine traurige Sache. Aber wie der Name schon sagt "Ein ganz normaler Tag". Überall auf der Welt passiert etwas, dass Menschen von einer Sekunde zur Anderen sterben, ihnen etwas Schlimmes passiert. Manchmal sind es Bekannte, manchmal Fremde. In dieser kleinen Geschichte steckt Tiefsinn drin. Der Mann versucht dem Kind zu helfen, eine Begegnung, ein kurzes Gespräch und dann der Unfall. Die Begegnung ist selbst an dem Kind nicht einfach vorbeigegangen, wie der letzte Satz zeigt.
Nebenbei hast du die Gedanken und die Lebensweise des Blinden sehr gut geschrieben. Wir kennen ihn nicht, aber er bekommt einen Charakter, man macht sich ein Bild. Das ist dir gut gelungen. Ein trauriges Schicksal aber.


Sabine Müller (10.04.2008)

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