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13 Seiten

Mari und der Amokläufer im Roggen (Dialogroman - 2. Akt)

Romane/Serien · Nachdenkliches
© Jan N.
Am nächsten Tag steigt Samy mit einem großen Instrumentenkoffer an der Endstation aus. Mari wartet dort bereits auf ihn.
„Hey.“
„Hey. Komm mit.“
Samy folgt ihr. Mari bemerkt, dass er sich mit dem schweren Koffer abmüht und packt mit an. Dabei berühren sich ihre Hände und ihre Blicke treffen sich. Mari lächelt. Samy schaut schüchtern zu Boden.
Nach einer Weile erreichen sie ein Reihenhaus und gehen die Treppe zum Kellereingang hinunter. Mari schließt die Tür auf. Sie betreten eine ehemalige Kneipe, die zu einer Wohnung umfunktioniert wurde. Der Sitzbereich dient als Essecke, die Theke als Küche. Auf der Bühne befinden sich Schlagzeug, Bass, Mikrofon und zwei E-Gitarren. Gegenüber der Bühne steht ein Sofa. Davor ein Fernsehapparat, auf dem gerade ein Anime (ein japanischer Zeichentrick) läuft.
Ein Mädchen – zehn Jahre alt - schaut von dem Sofa auf.
„Hi, Mari.“
„Hi.“
„Du bist Samy, stimmt's?“, fragt die Kleine Samy interessiert.
„Ja.“
„Ich bin Maya. Hi.“
„Hi.“
„Ist da dein Keyboard drin?“, sie deutet auf den Koffer.
„Ja.“
„He he“, sie nimmt ihm den Koffer ab und schleppt ihn zur Bühne.
Ein zirka dreißigjähriger Asiate, kommt durch die Tür, die zum hinteren Bereich führt. Er trägt feminine Kleidung und hat - auch für einen Asiaten - ungewöhnlich weibliche Gesichtszüge.
„Hey, Shin. Samy ist da“, ruft Maya ihm zu.
„Hallo“, Shin mustert Samy ausführlich. „Du wirst also unsere Texte schreiben?“
Samy schaut Mari fragend an.
„Ach ja, das wollte ich ja noch fragen“, erklärt Mari verlegen. „Wäre echt toll, wenn du das machen würdest.“
„Weiß nicht. Ich bin nicht besonders gut darin.“
„Doch, bist du. Ich weiß es“, sie blickt ihn lieb an. „Bitte.“
„Ja, bitte“, bestärkt Maya.
Samy zuckt mit den Schultern. „Ich kann’s ja versuchen.“
„Yeah“, Maya macht eine Siegerfaust.
Samy holt einige Notenblätter aus seinem Koffer.
„Deine Songs? Zeig mal“, Maya nimmt ihm die Blätter ab und begutachtet sie gemeinsam mit Mari und Shin.
„Der hier gefällt mir“, Mari deutet auf eins der Songtexte.
Mari nimmt ihre Gitarre zur Hand und spielt die Melodie des ausgewählten Stückes an. Samy betrachtet sie dabei und schaut erneut schüchtern weg, als sie seine Blicke bemerkt und mit einem Lächeln honoriert.
Ein Mann mittleren Alters betritt in Lederkluft die Kneipe. Maya zeigt ihm den Liedtext.
„Hi, Michael! Sieh mal.“
Samy baut sein Keyboard auf. Maya setzt sich ans Schlagzeug. Shin nimmt den Bass zur Hand, Michael die Rhythmusgitarre und Mari stellt sich mit ihrer E-Gitarre ans Mikrofon. Sie üben den Song ein. Nach einer Weile sagt Michael:
„Ich glaube, jetzt haben wir’s. Noch mal von vorne.“
Mari beginnt zu singen:
„Auf Drogen gesetzt, konnte ich nicht sein was ich war.
Das Kind wurde schlafen gelegt, Widerstand war undenkbar.
Einst mal vertraut, wurde es zu einem Fremden, einem Feind.
Der Versuch es wecken, wäre verzogen, brächte Leid.
Und so steh ich hier, fürs Schuften programmiert.
Das Herz bestochen und mit Lügen verwirrt.
Die Todessehnsucht in jede Zelle injiziert,
habe ich mich in ein Zombiedasein verirrt.
Zombie.“
Es ist spät geworden. Maya gähnt.
“Lasst uns für heute Schluss machen“, schlägt Shin vor.
Sie legen die Instrumente zur Seite. Maya schaltet den Fernseher ein und legt sich aufs Sofa. Samy beobachtet, wie ihr die Augen langsam zufallen.
„Um wie viel Uhr muss sie immer zu Bett gehen?“
„Das entscheidet sie selbst“, erwidert Shin.
„Ich will jetzt. Trägst du mich?“, fragt Maya Samy und streckt ihm ihre Arme entgegen.
„Okay“, er nimmt sie auf den Arm.
„Brüderchen, he he.“, sie kuschelt sich an ihn heran.
„Komm“, sagt Mari. „Ich zeig dir, wo sie schläft.“
Mari führt Samy in den hinteren Wohnbereich. Der hintere Bereich besteht aus drei Schlafzimmern und einem Badezimmer. Mari führt Samy in ihr und Mayas gemeinsames Schlafzimmer. Dort legt er Maya ins Bett. Mari zieht ihr die Schuhe aus und Samy deckt sie zu. Er schaut auf die Uhr.
„Ich muss los. Die letzte Bahn fährt gleich.“
„Schlaf doch hier“, erwidert Mari lieb.
„Wirklich?“
„Klar. Das hintere Zimmer ist noch frei.“
„Okay. Ich sag nur gerade zuhause bescheid.“
„Ja.“
Samy geht zurück in die Kneipe und ruft seine Mutter über sein Handy aus an. Als er in den hinteren Bereich zurückkehrt, macht Mari gerade das Bett im hintersten Zimmer.
Sie lächelt: „Erst gestern frisch bezogen.“
„Danke. Wie lange lebt ihr hier schon so?“
„Weiß nicht“, sie hält inne. „Mir kommt’s vor, als wären wir schon immer hier. Im Bad ist ne Zahnbürste für dich. Schlaf gut.“
„Du auch.“
Mari lächelt ihm noch einmal zu und verlässt das Zimmer. Samy legt sich schlafen.
Am nächsten Mittag decken Mari, Shin und Michael den Frühstückstisch. Samy kommt verschlafen aus dem hinteren Bereich. Maya wendet sich ihm zu.
„Hallo, Brüderchen. Wir haben Brötchen geholt.“
„Hey“, begrüßt Mari ihn.
„Hey“, Samy nimmt sich ein Brötchen und belegt es. Maya zeichnet nebenher an einem Mangabild.
„Heute ist sehr schönes Wetter“, merkt Shin an.
„Stimmt“, erwidert Mari und fragt Samy: „Sollen wir gleich etwas raus gehen?“
Samy nickt.
„Oh, ich komme mit“, sagt Maya selbstbestimmt. Sie zeigt Samy die Zeichnung an der sie gerade arbeitet.
„Schau mal.“, die Zeichnung wirkt wie von einem Profi gezeichnet.
„Krass“, erwidert Samy. „Das sind wir, ne?“
„Hehe, genau.“
Nils und seine Freundin Julia stehen vor einem Hauseingang und knutschen.
„Lass uns reingehen“, bittet Julia zitternd. „Mir ist kalt“.
„Ne, hab’ keinen Bock auf deine Alte“, winkt Nils schroff ab.
Er versucht sie erneut zu küssen. Julia will ihn necken und dreht jedes Mal den Kopf weg, wenn Nils versucht ihr die Zunge in den Mund zu stecken.
„Was soll der Scheiß?“ Nils ist genervt.
Julia lacht amüsiert. Nils packt ihren Kopf und stopft ihr ruppig die Zunge in den Mund. Julia kitzelt ihn daraufhin an der Seite. Nils zuckt zusammen und schuppst sie zurück.
„Du Schlampe!“
Mari, Maya und Samy sind indessen auf ihrem Spaziergang und kommen auf ihrem Weg an Nils und Julia vorbei. Nils grüßt Samy beiläufig. Samy grüßt unsicher zurück.
„Was macht denn die Tusse da bei ihm?“, fragt Nils leise - mehr sich selbst als seine Freundin. „Der ist doch schwul.“
„Keine Ahnung, ey“, erwidert Julia gleichgültig. „Ist vielleicht seine Schwester.“
„Der hat doch gar keine Geschwister.“
„Ist doch scheiß egal!“, keift Julia und wird ärgerlich. „Warum grüßt du den überhaupt? Bist jetzt auch zu so ’nem Homo geworden, oder was?“
Nils schlägt ihr augenblicklich mit der Faust ins Gesicht. „Sag das noch einmal und ich bringe dich um, du Fotze! Ist das klar?“ Er packt sie am Kragen. „Ob das klar ist?“
„Ja“, antwortet Julia entsetzt und kleinlaut.
Er lässt von ihr ab und sie sackt weinend zu Boden.

Samy und die beiden Mädchen haben von all dem nichts mitbekommen und spazieren weiter durch das Wohngebiet.
Maya deutet auf etwas.
„Ey, ein Eichhörnchen!“ Sie pirscht sich an das Tier heran.
Mari wendet sich währenddessen Samy zu. „Der Song gefällt mir total gut. Ich wusste, dass du das kannst.“
„Danke“, erwidert er schüchtern.
„Du hast viel durchgemacht, oder?“ Er zuckt mit den Schultern. Sie nimmt seine Hand.
Maya deutet auf einen Kinderspielplatz und signalisiert, dass sie dort hin geht. Mari und Samy folgen ihr und machen es sich auf den Schaukeln bequem, während sich Maya auf dem Klettergerüst amüsiert.
„Hast du immer noch Todessehnsucht?“, fragt Mari nach einer Weile vorsichtig.
„Manchmal“, erwidert Samy und blickt auf den Boden. „Aber eigentlich will ich nur weg von allem. Irgendwie neu anfangen. Herauszufinden, was für mich gut ist und so.“
Er beginnt mit dem Fuß im Sand unter ihm zu graben. „Ich weiß nur nicht wie. Bisher habe ich immer nur das getan, was mir gesagt wurde.“
Als er wieder hoch schaut, steht Mari vor ihm. Sie beugt sich zu ihm hinunter und sagt mit vertrauensvoller Stimme: „Wir helfen dir dabei“. Schließlich küsst sie ihn zärtlich auf den Mund.
Maya, die das vom Gerüst aus beobachtet hat, kichert. Sie rennt zu den beiden hinüber und umarmt sie.
„Proben wir jetzt weiter?“
Am nächsten frühen Morgen in der Kneipe. Samy steht vor den anderen auf. Im nächsten Zimmer liegt Maya zwischen Shin und Michael im Bett. Ein Zimmer weiter schläft Mari. Er betrachtet sie eine Weile und geht schließlich nach vorne in die Kneipe. Dort setzt er sich mit Papier und Bleistift aufs Sofa und beginnt einen neuen Song zu schreiben.
Kurz darauf wird auch Mari wach und setzt sich zu ihm aufs Sofa. Sie liest, was er bisher geschrieben hat und gibt ihm einen Kuss. Samy erwidert den Kuss. Sie setzt sich auf seinen Schoß und liebkost ihn zärtlich. Schließlich gehen sie in ihr Zimmer und schlafen miteinander.
Im Bett liegend nimmt Mari eine Hand von Samy und streicht über die Fingernägel. „Was ist deine Lieblingsfarbe?“
„Hm…“, er überlegt. „Dunkelblau.“
“Okay“, sie steht auf und zieht Samy aus dem Bett. „Komm mit.“
Kurz darauf färben Mari und Maya Samy’s Haare dunkelblau. Shin lackiert Samys Fingernägel währenddessen ebenfalls in einem ähnlichen Blauton..
Am Nachmittag geht die Band gemeinsam ins nahegelegende Eikaufszentrum. Dort läßt sich Samy beim Piercer ein Ohrpiercing stechen und beim Optiker Kontaktlinsen anpassen. Schließlich klappern sie die Klamottenläden ab und verpassen Samy einen typischen Visual Kei Look.
Nachdem Samys Verwandlung abgeschlossen ist, posiert die Band zusammen bei einem Fotografen und lässt Promotion-Fotos von sich schießen.

Am nächsten Tag in der Schule. Samy betritt in seinem neuen Look das Schulgebäude. Er ist nervös. Sofort wird er von verschiedenen Leuten angegafft. Zwei Mädchen kichern. Ein Lehrer runzelt die Stirn. Ein Punk grüßt ihn. „Krasse Haarfarbe!“
Zwei weitere Mädchen tuscheln und lächeln ihn an.
Er erreicht schließlich das Klassenzimmer. Als er Nils und seine Kumpels erblickt, ballt er schnell seine Hände zu Fäusten, um seine lackierten Fingernägel zu verbergen. Hassan entdeckt ihn und bricht lachend zusammen. „Ey, Alter! Zu krass!“
Nun lachen auch Johan und Jens. Nur Nils hält sich zurück.
„Ey, hast du den Ohrring von deinem Lover, oder was?“, prustet Hassan laut durchs Klassenzimmer.
„Hat er ihm bestimmt zur Verlobung geschenkt“, ergänzt Johan. Der Lehrer kommt in Begleitung von Tamara ins Klassenzimmer. „Ruhe bitte!“
„Es hat noch nicht geklingelt“, beschwert sich Johan.
„Ich weiß“, entgegnet der Lehrer in einem sanften Ton. „Ich bitte euch trotzdem. Eure Schülersprecherin möchte euch etwas sagen.“
„Ähm, hallo“, Tamara wartet bis Ruhe eingekehrt ist. „Ihr wisst ja, nächsten Monat ist unser Sommerfestival.“
Einige Schüler jubeln, einige stöhnen.
„Wir suchen noch eine Band, die dort auftreten möchte.“
„Tamara-Baby, zieh’ dich aus!“, unterbricht Hassan sie. Die Schüler lachen. Der Lehrer blickt böse in die Runde.
„Ha ha…“, Tamara wird verlegen. „Also, wer Interesse hat, kann sich ja bei mir melden“, sie lässt ihren Blick unsicher durch den Raum schweifen. „Ja… das war’s auch schon. Danke.“
„Schade, doch kein Strip“, sagt Hassan leise zu Johan.
Nach der Stunde geht Samy hinunter zur Schülervertretung und erzählt Tamara von seiner Band. Tamaras Vertreterin Tanja sitzt hinter ihnen an einem Pult und belauscht sie.
„Oh, es freut mich, dass du doch noch eine Sängerin gefunden hast“, sagt Tamara und versucht erfreut zu wirken. „Ähm… ist eure Band denn schon gut genug für einen Auftritt?“
„Auf jeden Fall“, erwidert er – dabei bemüht seine Unsicherheit zu verbergen.
„Aber…“, sie versucht die richtigen Worte zu finden. „Werdet ihr etwa diese Texte von dir singen?“
“Ja, schon“, antwortet er und rechnet im selben Moment schon fest mit einer Absage.
„Hm, ich weiß nicht“, Tamara schaut skeptisch und überlegt einen Augenblick. „Machen wir es so. Meldet sich bis nächste Woche keine andere Band mehr, seit ihr dabei, okay?“
„Okay“, erwidert Samy mit einem schizophrenem Gefühl aus Hoffnung und Enttäuschung und verabschiedet sich.
„Ich sage dir dann bescheid“, ruft sie ihm nach als er den Raum verlässt.
Nachdem sie sich vergewissert hat, dass Samy ausser höhrweite ist, beginnt Tanja zu gackern. „Hast du seine Fingernägel gesehen?“
„Allerdings!“, Tamara beginnt ebenfalls zu gackern.
„Du willst den doch nicht wirklich auftreten lassen, oder?“
„Ich glaube, mir wird nichts anderes übrig bleiben. Das Programm ist schon so mager. Und so eine Karaoke-Show wie letztes Jahr ist mir einfach zu peinlich.“
„Na, hoffentlich wird’s mit dem nicht noch peinlicher.“
„Das hoffe ich auch nicht“, Tamara spielt sie würde weinen.
„Oh, du Armes!“, Tanja tröstet sie theatralisch. „Mit was für Freaks du dich immer rumschlagen musst.“
„Ja! Warum tue ich mir das nur immer wieder an?“
„Na ja. Hast du es erstmal zur Bildungsministerin gebracht, kannst du es ihnen allen heimzahlen.“
„Ja! Als erstes werde ich dann an allen Schulen ein Nagellackverbot für Jungs durchsetzen.“
Das Gelächter der beiden hallt durch die ganze Schule.
Am Nachmittag kommt Shin zurück in die Kneipe. Der Rest der Band ist bereits dort und wirkt aufgeregt. Maya stürmt auf ihn zu.
„Ey, Shin! Weißt du was?“, sie ringt nach Luft. „Wir haben nächsten Monat einen Auftritt.“
„Nur vielleicht.“, betont Samy.
„Aber ich wette es wird klappen.“, erwidert sie siegessicher.
„Ich auch.“, stimmt Mari zu. „Am Besten wir fangen gleich damit an, noch ein paar Songs einzustudieren.“
„Ja, genau. He he.“
„Und wir sollten unsere Homepage endlich einrichten.“, sagt Michael „Samy, du wolltest doch deinen Laptop mitbringen?“
„Stimmt.“, erwidert Samy. „Ich hole ihn am Besten jetzt gleich. Muss mich eh mal wieder zuhause sehen lassen.“
Als Samy zusammen mit Mari bei sich zu Hause aneintrifft, kommt sein Opa kommt gerade aus dem Badezimmer.
„Guten Tag, Samuel.“
„Hallo.“, erwidert Samy knapp.
Der Opa mustert Mari: „Guten Tag.“
Mari erwidert mit einem zaghaften Nicken.
„Guten Tag!“, wiederholt der Opa diesmal lauter und fordernder.
„Guten Tag.“, sagt Mari schließlich gezwungen und folgt Samy schnell in dessen Zimmer. Der Opa geht kopfschüttelnd in die Küche, in der sich auch Samys Mutter aufhält und meckert vor sich hin: „Nicht zu glauben.“
„Was denn?“, fragt die Mutter sich angesprochen fühlend.
In seinem Zimmer angekommen, holt Samy den Laptop aus dem Schrank und packt ihn in eine Tasche. Mari entdeckt die Hülle von dem Ballerspiel und betrachtet sie.
„Magst du solche Spiele?“
„Manchmal.“, erwidert er während er das Zubehör zusammensucht und mit in die Tasche packt.
„Ich find die so brutal.“
„Hilft mir halt Aggressionen abzubauen.“
„Bist du oft wütend?“, fragt sie mit ernster Miene. Samy nimmt sie daraufhin in die Arme und küsst sie zärtlich.
„Nicht mehr seit ich dich kenne.“
„Gut.“, erwidert sie und kichert als Samy eines ihrer Ohrläppchen liebkost. Dann nimmt er ihr die Hülle ab und verstaut sie demonstrativ in der hintersten Ecke des Schrankes.
„He he.“, sie küsst ihn auf den Mund und umarmt ihn.
Doch dann ruft die Mutter ihn aus der Küche zu sich. Genervt löst er sich von Mari und geht hinüber.
„Lange nicht gesehen.“, sagt sie vorwurfsvoll. „Wie läuft’s in der Schule?“
„Wie immer.“, antwortet Samy knapp.
„Aber was ist damit passiert?“, sie deutet auf seine dunkelblauen Haare.
„Getönt halt.“, antwortet er und füllt zwei Gläser mit Orangensaft auf.
„Du siehst aus wie ein Paradiesvogel.“, spottet der Opa.
Die Mutter lacht plötzlich laut auf. Der gehässige Ton in ihrem Gelächter trifft Samy tief ins Herz. Er verliert für eine Sekunde die Orientierung, stützt sich an der Arbeitsplatte ab und verschüttet dabei etwas von dem Saft.
„Dass du ihm das erlaubst.“, sagt der Opa vorwurfsvoll.
„Na ja“, die Mutter geht in Defensivstellung. „Es ist wahrscheinlich gerade in Mode sich die Haare zu färben.“
„Ach, Trend“, der Opa winkt ab. „Als ich mich noch um seine Erziehung gekümmert habe, hatte er nie solche Flausen im Kopf.“
Samy wischt hastig den verschütteten Saft auf. Er will nur schnell weg von dort.
„Die Psychologin riet mir ihm mehr Freiheiten zu lassen“, verteidigt sich die Mutter weiter. „Das ist doch nur eine Phase, die sich schon bald wieder geben wird.“
„Na, hoffentlich.“, erwidert der Opa. „Sonst wären ja alle meine Bemühungen umsonst gewesen“, er klingt wie ein Politiker, der der Opposition die Schuld an der Fehlentwicklung seiner Reformen gibt. „Hast du dieses seltsame Mädchen bei ihm gesehen?“
Die Mutter schüttelt geschlagen den Kopf.
„Ist auch so’n Paradiesvogel.“
Samy nimmt die Gläser und eilt aus der Küche.
„Nimm dir lieber wieder deine Mutter zum Vorbild, hörst du?“, ruft der Opa ihm nach, als er bereits in seinem Zimmer angekommen ist.
„Was ist los?“, fragt Mari, als sie Samys gestressten Gesichtsausdruck bemerkt.
„Ach, die gehen mir auf die Nerven.“, er stellt die Gläser ab und geht zum Schrank. „Ich brauche das Spiel doch noch mal.“, sagt er scherzend und tut so als wolle er an den Schrank.
Mari stürmt zu ihm hinüber und hält grinsend die Schranktür zu. „Nein, nicht! Küss mich lieber.“ Sie albern herum und küssen sich.
„Lass uns schnell wieder von hier verschwinden.“, bittet Samy.
“Ja, gehen wir nach Hause.“, erwidert Mari.

Das Schulfestival ist im vollen Gange. Mitten auf dem tristen Schulhof ist eine Bühne aufgebaut, auf dem der Chor gerade eines seiner Lieder performt. Hinter ihm sind bereits die Instrumente der Band aufgebaut. Samy und der Rest der Band warten hinter der Bühne.
„Wie lange singen die denn noch?“, fragt Maya nervös.
Mari schaut in ein Programmheft. „Ich glaube, das ist ihr letztes Lied. Dann sind wir dran.“
Als der Chor sein Lied beendet hat kommt ein Ansager auf die Bühne.
„Und nun folgt ein wenig Visual Kei, eine aus Japan adaptierte Jugendkultur. Hier ist die Band Mari-tachi.“
Von spärlichem Applaus und Buhrufen begleitet, betritt die Band die Bühne und setzt sich an die Instrumente.
„Oh nein, ey!“, Johan steht mit Hassan und Nils mitten in der Zuschauermenge. „Seht mal wer da ist.“
„Ach du Scheiße, Alter!“, Hassan prustet los. Nur Nils wirkt sichtlich interessiert.
Die Band beginnt ihren ersten Song zu spielen:

“Schon die, die mich als Kind behüten sollten.
Zwangen mir auf was immer sie wollten.
Ich selbst zu sein wurde mir stets verboten.
Sie definierten mich nach Alter, Größe und per Noten.“
Während er am Keyboard steht und seine Noten spielt, schaut Samy zwischendurch in die Zuschauermenge und beobachtet enttäuscht die Reaktionen aus dem Publikum. Viele der Schüler verziehen die Gesichter, viele andere lachen.
„Und so hatten sie mich an den Rand der Verzweiflung getrieben.
Fantasien alle wegzuballern, waren mir nur noch geblieben.“
Ein Lehrer blickt spöttisch zu ihnen rauf.
„Doch dann erwachte ich aus diesem Alptraum des Selbstbetrugs.
Und erkannte, dass ich den harten Weg zur Freiheit in mir Trug.
Freiheit.“
Als die Band nach ungefähr 20 Minuten mit ihren Songs durch ist und die Bühne wieder verläßt, klatschen einige Zuschauer verhalten. Unter ihnen auch Nils. Dafür erntet er von Hassan einen verwunderten Blick und erhält einen Schubser von ihm.
Die Band verteilt vor der Bühne die Flyer an die Zuschauer. Samy reicht den Flyer einer Schülerin. Doch diese lehnt demonstrativ ab: „Was soll ich damit?“
Auch der nächste Schüler lehnt ab und schlägt Samy den Flyer aus der Hand: „Behalt den Scheiß!“
Genervt drückt Samy Mari seine restlichen Flyer in die Hand.
„Hier, ich muss mal!“ Er geht zu den Toiletten.
Nils hebt von den anderen unbemerkt den Flyer vom Boden auf und steckt ihn ein.

Samy steht vor einem Pissoir und verrichtet sein Geschäft. Außer ihm ist niemand dort. Doch dann steht Nils plötzlich hinter ihm. „Hey, Sammyboy.“
Samy erschrickt und zieht schnell seinen Hosenschlitz zu.
„Keine Angst, ich habe l e i d e r nichts gesehen.“, spottet er und grinst. „Krasse Mucke eben.“, fährt er mit nun ernsterem Ton fort. „Besonders der Text. Ist der von der Kleinen?“
„Von mir.“, erwidert Samy undeutlich.
„Echt?“, Nils Begeisterung scheint ehrlich zu sein. „Geil!“
Doch als ein weiterer Schüler in die Toilettenräume kommt, schreckt Nils auf und schließt sich schnell in eine der Kabinen ein.
Am nächsten Tag geht Mari mit Samy einen neuen Song durch. Maya sitzt währenddessen am Schlagzeug und übt.
„Wie wäre es hier mit einer Subdominanten?“ fragt Mari ihn.
„Was?“, Samy ist in Gedanken und wirkt lustlos. „Achso, weiß nicht.“
„Was ist los? Keine Lust?“
Samy zuckt mit den Schultern. Michael und Shin kommen mit mehreren Mikrofonen in die Kneipe.
„Wofür sind die?“, fragt Maya verwundert.
„Mit denen können wir unsere Songs aufnehmen.“, antwortet Shin.
„Ich dachte, es wird Zeit ein Demotape zu machen.“, ergänzt Michael.
„Woah, super Idee!“, Maya hüpft herum.
„Ja, echt!“, stimmt Mari ihr zu.
„Außerdem können wir dann auch ein paar Songs ins Netz stellen.“, fährt Michael fort. „Vielleicht schaffen wir's ja sogar in die Charts auf my-musica.de“
„Gut, was?“ Mari strahlt Samy an. Doch dieser wirkt nicht sehr begeistert. Sie streichelt daraufhin seine Hand und schaut ihn fragend an.
„Für deine Gitarre.“, Shin reicht Mari eines der Mikrofone. Sie nimmt es und hält es Samy hin. „Hilfst du mir es anzuschliessen?“. Sie setzt einen sehr süßen, bettelnden Blick auf, der Samys schlechte Stimmung sofort umschlagen lässt.
„Okay.“, erwidert er und macht sich daran, den anderen dabei zu helfen, alles für die bevorstehende Aufnahmesession vorzubereiten.
Nachdem die Aufnahmen aller Songs zu aller Zufriedenheit gelungen ist, beginnt Samy sie auf CD zu brennen.
„Wie viele Kopien brauchen wir?“
„Ich habe ne Liste gemacht.“, erwidert Michael und holt einen Zettel hervor. „Mit allen Labels, die in Frage kommen.“
„Die hier sind alle okay.“, sagt Mari, nachdem sie die Liste genaustens studiert hat. „ Aber Miram-Records? Die sind doch gar nicht mehr wirklich Independent, seit die von diesem Majorlabel geschluckt wurden.“
„Versuchen können wir’s ja trotzdem bei denen.“
“Wenn du meinst.“, gibt sie nach und wendet sich an Samy. „Dann brauchen wir insgesamt sieben Kopien.“
Einige Tage später. Schulschluß. Samy macht sich auf den Weg nach Hause. Nils folgt ihm.
„Warte mal.“, ruft er ihm leise hinterher und zieht ihn in die nächste Seitenstrasse. „Besser es sieht mich keiner mit dir. Hab’ keinen Bock auf die Sprüche.“, er schaut sich um und vergewissert sich, dass sie keiner gesehen hat. „Ich habe eure anderen Songs im Internet gehört. Die sind einfach zu geil!“
„Danke.“, erwidert Samy und weiß nicht so recht was er davon halten soll.
„Du hast es echt drauf, was die Texte angeht.“, lobt Nils ihn, während sie ihren Weg fortsetzen. „Sprechen mir echt aus der Seele!“
Nach einer Weile des Schweigens, deutet er auf Samys Fingernägel. „Nur deinen Look finde ich seltsam. Aber auch mutig irgendwie.“ Er fühlt sich sichtlich unwohl bei diesem Geständnis. „Ist die Sängerin eigentlich deine Schwester, oder wer?“, lenkt er schnell ab.
„Meine Freundin.“, antwortet Samy.
„Freundin.“, Nils betont das Wort besonders. „Aber nicht Geliebte, oder?“
„Doch.“
„Will…“, er korrigiert sich. „… äh… kann ich irgendwie nicht glauben.“
„Ist aber so.“
„Hm.“, Nils wirkt plötzlich leicht verärgert. „Bist wohl doch nicht so mutig, wie ich dachte.“
„Was meinst du?“, Samy kapiert nichts mehr.
„Schon gut, Sammyboy.“, er nimmt wieder seine typische, soveräne Haltung ein. „Ich versteh’ das nur zu gut.“
Nach einigen Metern erreichen sie einen Basketballplatz auf dem gerade einige Jungs spielen. Als Nils diese Jungs erblickt, serviert er Samy hastig ab. „Verpiss dich jetzt lieber.“
Er lässt Samy stehen und geht zu den Jungs herrüber.
Samy sitzt im Arbeitszimmer seiner Mutter und surft im Internet. Er schaut sich die Charts auf my-musica.de an. Ihr Song „Zombie“ ist um 10 Plätze auf Platz 599 gefallen. Enttäuscht klickt er die Seite weg und pfeffert die Maus zur Seite. Im gleichen Moment kommt seine Mutter ins Zimmer.
„Was machst du hier?“
„Surfen. Mein Laptop ist noch bei Mari.“
„Deswegen musst du meinen PC aber nicht beschädigen.“, erwidert die Mutter verärgert. „Übrigens, als ich letztens mit der Psychologin sprach, sagte sie mir, du seiest zu keiner einzigen Sitzung bei ihr erschienen. Was ist los?“
„Nichts. Ich habe nur keinen Bock darauf.“
„Warum nicht?“
„Ich weiß nicht was ich da soll.“
„Ich halte ja auch nicht viel von der.“, erwidert sie leicht resigniert. „Sie wollte dir ja nicht mal was verschreiben. Aber ich weiß sonst nicht wie ich dir helfen soll.“
„Das musst du ja auch nicht.“, Samys Laune sinkt durch dieses Gespräch noch weiter in den Keller.
„Ich kann dir nur immer wieder raten, konzentrier’ dich auf deine berufliche Karriere.“, fährt die Mutter fort. „Mich zumindest hat das von allen Problemen abgelenkt damals.“
„Ja, Mama! Ich weiß.“, zu seiner Erleichterung klingelt das Telefon und er nimmt den Hörer ab. „Ja?“
„Samy?“, fragt Mari aufgeregt durchs Telefon. Auch Maya ist zu hören: „Lass mich erzählen! Du Samy, es ist was ganz tolles passiert!“
Die Band sitzt an einem Konferenztisch. Sie ist bei einem Vorstellungsgespräch beim Label Miram-Records. Ihnen gegenüber sitzt der A&R-Manager mit einigen Kollegen.
„Es freut uns sehr, dass ihr gekommen seid.“, begrüßt sie der Manager. „Also, zu allererst muss ich sagen, eure Spieltechnik ist phänomenal!“
„Danke.“, sagt Mari.
Der Manager schaut zu der kleinen Maya herüber. „Ich kann kaum glauben, dass eure Schlagzeugerin erst zehn Jahre alt sein soll.“
„Doch, das bin ich wirklich.“, sagt Maya bekräftigend.
„Ja. Das sollte auch überhaupt kein Hindernis sein, mein Schatz.“, fährt er fort. „Was allerdings ein Hindernis werden könnte, sind die Texte. An denen müsst ihr noch was machen.“
„Wie bitte?“, Mari ist verblüfft.
„Versteht mich nicht falsch, sie sind gut geschrieben. Sie sind inhaltlich nur zu – wie soll ich sagen“, er sucht nach dem richtigen Wort. „Na ja, zu speziell halt.“
“Wir sind uns sehr sicher, dass sich gerade mit diesen Texten eine große Fangemeinde finden lassen wird.“, wendet Micheal ein.
„Nun, vielleicht.“, erwidert der Manager in stereotypischer Kaufmannspose. „Vielleicht aber auch nicht. Wir sind zwar ein Independentlabel und haben uns auch dem traditionellen Weg verschrieben, eine Band erstmal von klein auf zu begleiten und aufzubauen. Aber auch wir müssen dabei immer auf den Markt achten. Und da wäre dann schon eine gewisse Kompromissbereitschaft eurerseits von Nöten. Neben harter Arbeit ist das eine Grundvorraussetzung besonders in diesen Zeiten.“
„Die Texte sind aber die Seele unserer Musik.“, wendet Mari ein.
„Das mag ja sein. Sie machen das Risiko für uns aber einfach unkalkulierbar.“
“Also dann…“, Mari holt verbittert nach Luft „… dann können wir nicht ins Geschäft kommen.“
Bis auf Samy, stimmen ihr alle anderen aus der Band zu. Sie stehen vom Tisch auf.
„Seid ihr euch wirklich sicher? Ihr verpasst hier eine einzigartige Gelegenheit“, sagt der Manager.
„Ja, wir sind uns sicher.“, erwidert Michael.
„Schade. Wirklich sehr schade.“, der Manager drückt ihm eine Visitenkarte in die Hand. „Falls ihr es euch noch anders überlegt, ruft uns an.“
Frustriert verlässt die Band den Konferenzraum. „Ich wusste es doch.“, flüstert Mari Michael beim rausgehen zu.

Samy läuft durch den Märchenwald. Er erreicht einen Sarg, der in dem Kleeblattbeet aufgebart ist. Dieser ist geschlossen. Er hört hinter sich jemanden schluchzen und dreht sich um. Seine Mutter steht dort in Schwarz gekleidet und weint. Er wendet sich wieder dem Sarg zu und klappt den Deckel langsam hoch.
„Oma?“, kommt es aus ihm heraus.
„Nein, ich bin hier.“, hört er jemanden hinter sich sagen. Als er sich erneut umdreht, erblickt er seine Oma. Auch sie weint. Die Mutter hat sich in ein kleines Mädchen verwandelt und ist an der Hand der Oma.
Samy dreht sich aufgeregt zum Sarg um und schaut hinein. Dort liegt Mari. Sie ist tot. Er erwacht.
Samy liegt im Bett neben Mari. Er steht auf und geht in die Kneipe. Auf dem Tisch liegt eine Zeichnung von Maya. Sie zeigt ein Mädchen in einem Sarg. Samy packt seine Sachen zusammen.
Mari erwacht ebenfalls und kommt zu ihm in die Kneipe.
„Was hast du vor?“, fragt sie.
„Ich verschwinde.“, erwidert er. „Ich steh’ euch nur im Weg.“
„Das stimmt doch nicht. Du bist ein Teil von uns.“
„Ja. Der Teil, der euch daran hindert erfolgreich zu sein.“
„Darauf kommt es doch nicht an. Außerdem gibt es noch andere Labels.“
„Die werden das gleiche sagen.“, er geht zur Wohnungstür.
„Samy.“, sie will ihm nachgehen.
„Bitte folg’ mir nicht. Ich will jetzt alleine sein.“
Er lässt Mari stehen und verlässt die Kneipe.
Samy steht vorm Spiegel in seinem Zimmer und schneidet sich selbst die Haare mit einer gewöhnlichen Haushaltschere kurz. Er entfernt den Nagellack von den Fingernägeln, wechselt die Klamotten gegen schlichtere und ersetzt das Piercing durch ein Ohring mit Totenkopfmotiv. Schließlich nimmt er seinen MP3-Player und verlässt die Wohnung.
 
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Immer noch sehr spannend.

doska (17.10.2009)

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