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5 Seiten

Schatten der Vergangenheit

Schauriges · Kurzgeschichten
© Middel
Jetzt oder nie. Entweder er klingelt jetzt an dieser gottverdammten Tür und geht der ganzen Sache auf den Grund oder er lässt es und verschwindet in die schwarze Nacht, aus der er gekommen ist. Noch mal zehn Minuten wird er jedenfalls nicht vor dieser Tür verbringen und versuchen, seine inneren Ängste in den Griff zu bekommen. Eigentlich gehört Hartmund Schwier ja sowieso nicht zu den Mutigsten, schon zu Schulzeiten haben ihn die Anderen immer ausgelacht, wenn er mal wieder vom Dreimeterbrett herunterkletterte, anstatt todesmutig, wie die coolen Jungs, mit dem Kopf voran ins Wasser zu springen. Dass er nicht gerade der Typ war, auf den die Mädchen stehen, hatte aber noch ganz andere Gründe. Er war einfach viel zu schüchtern damals und ein Einser in Mathematik war auch kein Garant für eine Verabredung mit dem anderen Geschlecht. Interessant war er immer nur kurz vor wichtigen Arbeiten, wenn die Mädchen ihn um Nachhilfe geradezu anflehten. Auch wenn er wusste, dass bei dieser Art „Verabredung“ die Chance eines romantischen Tête-à-têtes bei unter einem Prozent lag, so genoss er diese kurzen Momente der Aufmerksamkeit.
Sein Finger umspielt die Klingel, während er so in Gedanken versunken all die Gesichter der Mädchen noch einmal durchgeht, die er während seiner Schulzeit und später an der Uni unterrichtet hat. Für ihn war es weit mehr als Nachhilfe gewesen. Jede Umarmung zur Begrüßung, jede klitzekleine Berührung während zwei Hände gleichzeitig nach ein und demselben Taschenrechner, Lineal oder Radiergummi greifen, jede kurz erhaschte Aussicht auf allzu spärlich bedeckte Haut und jeder sanft parfümierte Augenblick mit diesen anbetungswürdigen und gleichzeitig so unerreichbaren Geschöpfen ließ ihn für einige Zeit vergessen, dass er für sie nur eins war: ein Freak.
Wenn eines der Mädchen bei ihm war, war sie ihm gegenüber freundlich, aufgeschlossen und so wunderbar normal. Das selbe Mädchen, dass ihn dann am gleichen Abend auf irgendeiner Party im besten Fall ignorierte und im ungünstigsten mit einer angetrunkenen Armee von Freundinnen verspottete. In seiner Phantasie jedoch lief die Geschichte etwas anders ab. Er hatte mit jedem dieser jungen Frauen eine sexuelle Beziehung. Annika, Sonja, Melanie, Birgit, Angelique, Nadja, Sophie, Ann-Kathrin und wie sie alle hießen waren ganz verrückt nach ihm und standen nicht auf Muskeln, hippe Kleidung oder Sportwagen, sondern auf Intellekt, Charme und Esprit und er hatte all dies – zumindest in seiner kleinen Welt.
Der Wind, der durch den Hinterhof pfeift und einige Herbstblätter über den Asphalt treibt, reißt ihn ganz unverhohlen zurück in die Gegenwart. Sollte jemals ein Name auf der Klingel gestanden haben, so wird er schon seit geraumer Zeit nicht mehr lesbar sein. Viel zu verwaschen und undefinierbar ist das, was auf dem Klingelschild nurmehr als grauschwarzer Rest zu erkennen ist. Hartmunds Finger scheint nun mit der Klingel verwachsen zu sein. Völlig ruhig liegt er auf dem schwarzen Knopf, der wie eine Verlängerung des Mittelfingers wirkt. Und als sich der Knopf langsam bewegt, scheint es für Hartmund eher so, als würde das ganze Haus mit dem dazugehörigen Klingelknopf in Richtung seiner Hand vorrücken und er müsste nichts weiter tun, als bewegungslos warten, was nun weiter passiert.
Innerlich zählt er die Sekunden: Eins ... zwei ... drei ... vier, der Summer geht und bevor er einen greifbaren Gedanken erreicht, öffnet er mechanisch die Tür des alten Mehrfamilienhauses. Der Hausflur ist dunkel und erstaunlich kalt, bis auf den treibenden Wind ist es nicht viel angenehmer als vor der Tür. Was nun? Diese Frage, die er sich schon seit drei Tagen stellt, scheint nun wieder wie eine imaginäre Leuchtreklame vor seinem inneren Auge zu erscheinen. In großen, grellen Lettern prangt sie vor ihm und lässt ihn unruhig nach Antworten verlangen. Antworten auf Fragen, die ihn seit diesem mysteriösen Anruf vor nunmehr über 70 Stunden wie kleine Nadelstiche jede Sekunde begleiten, mal mehr mal weniger intensiv, aber in jedem Augenblick stechend und unangenehm. Gegen diese Akupunktur von innen ist jeder Zahnarztbesuch ein Drei-Sterne-Wellnesstag.
Zweiter Stock, sagt Hartmund sich innerlich, während er überlegt, wann seine Phantasien zu Obsessionen wurden. Irgendwann an der Uni muss es gewesen sein, als ihm das bloße Phantasieren nicht mehr reichte. Er wollte nicht mehr der sein, der ausgenutzt und dann vergessen wurde, er wollte die Frauen, die was von ihm wollten bezahlen lassen und zwar nicht mit Geld, von dem er dank reicher Eltern sowieso genug hatte, sondern mit etwas sehr viel wertvollerem. Die Erste, die er nicht mehr einfach so hatte gehen lassen war ein Mädchen namens Lana, der er Nachhilfe in Physik und Mathematik gegeben hatte. Lana mit dem süßen Apfelpo, Lana mit der perfekten Haut, welche sie auch gekonnt perfekt zu Schau stellte. Ihre Brüste waren nicht zu groß und nicht zu klein, aber fest, wie er später feststellte. Ihr Bauchnabelpiercing hat er heute noch. Er entscheidet sich die Treppe zu nehmen, das erscheint ihm sicherer, zudem zieht er sich die Kapuze tiefer ins Gesicht. Nicht, dass ihn hier einer sieht, man weiß ja nie, was noch passieren wird. Er steckt die Hände in die Jackentaschen und mit der rechten umfasst er die P80. Sein Herz schlägt schnell, sehr schnell.
Erster Stock, Hartmund bleibt stehen und atmet tief ein. Er ist sich ziemlich sicher, dass es eine Frauenstimme war, die ihn vor ein paar Tagen so unerwartet angerufen hat. Eventuell eine der Frauen, die er hat laufen lassen? Aber die hat er doch immer gut bezahlt für ihr Schweigen. Vielleicht soll das hier heute auf eine Erpressung hinauslaufen, das hat er sich schon mehrmals vergegenwärtigt, deshalb auch die Pistole. Ihm fällt auf, dass die beiden Wohnungen hier im ersten Stock unbewohnt sein müssen, die erste hat kein Namensschild, an sich nichts Ungewöhnliches, aber an der Tür fehlt zudem die Klinke und die Tür sieht auch sonst sehr mitgenommen aus. Bei der zweiten Wohnung fehlt die Tür komplett. Aus der leeren Wohnung am Ende des Ganges scheint kein Licht. Wenn in der ersten Wohnung eventuell noch jemand leben könnte, so ist die zweite definitiv unbewohnt. Überhaupt macht das ganze Haus einen sehr maroden Eindruck. Noch ein Grund mehr den Aufzug zu meiden, wer weiß, wann der das letzte Mal gewartet wurde.
Während der nun sehr vorsichtige Mann nun langsam in Richtung zweiter Stock geht, schweifen seine Gedanken abermals zu längst Vergangenem. Das letzte Mädchen, dem er Nachhilfe gegeben hatte, war eine süße blonde 17jährige namens Marie. In sie hatte er sich gleich ein bisschen verliebt und mit ihr war er auch sehr vorsichtig gewesen. Trotzdem fing sie an zu weinen, so wie fast alle vor ihr. Dabei hatte er sich alle Mühe gegeben, es auch für sie schön werden zu lassen. Leider nahm alles ein hässlichen Ausgang und nachdem er ihren Körper in der darauffolgenden Nacht weggeschafft hatte, schwor er sich, so etwas nie wieder zu tun. Und daran hat er sich bis heute gehalten, ganze 23 Jahre lang. Hartmund bemerkt, dass sein Glied alleine bei der Vorstellung an Marie hart geworden ist. Er schämt sich ein bisschen und versucht an etwas anderes zu denken. Sollte wirklich eine der Frauen nach so langer Zeit noch Geldforderungen stellen, so würde er sie einschüchtern und zwar richtig. Auch wenn Geld für ihn auch heute keine große Rolle spielt, schließlich verdient er als Professor mehr als genug, zudem hat er großzügig geerbt, so darf man nichts einreißen lassen. Wenn er sich für eine der Damen als Goldesel entpuppt, so wird ihn diese garantiert nicht mehr in Ruhe lassen.
Auf der letzten Treppe vor dem zweiten Stock ruft er sich den Anruf mit verzerrter Stimme noch einmal ins Gedächtnis zurück: „Hartmund Schwier? Hören Sie mir genau zu! Kommen Sie allein und ohne die Polizei einzuschalten am 24.6. zu folgender Adresse ...“ Was, wenn die ganze Sache nichts mit dem zu tun haben sollte, was damals passiert ist? Schließlich hat er seit jener Zeit nichts mehr davon gehört. Ja, damals war die Polizei bei ihm gewesen wegen eines verschundenen Mädchen Namens Mareike, aber er konnte ihnen ein lupenreines Alibi vorweisen und damit hatte sich die Sache. Von den meisten andern Mädchen hatte es nie eine Spur zu ihm gegeben, zu schlau und vorsichtig war er vorgegangen.
Die vordere Wohnung scheint wieder nicht bewohnt zu sein, zumindest ist sie verschlossen und als Hartmund sein Ohr an die Tür hält, vernimmt er keinen Laut. Langsam geht er zum Ende des Flurs und ist nun festentschlossen dem Spuk ein Ende zu bereiten. Mittlerweile hat er schließlich eine Frau und eine wunderbare Tochter. Er wird sich doch nicht alles zerstören lassen, wegen ein paar Jugendsünden. Als er zur zweiten Tür gelangt, bemerkt er, dass sie nur angelehnt ist. Die rechte Hand fest um die Waffe geschlossen, öffnet er die Tür mit dem Fuß. Nichts zu sehen. Angst umgibt ihn. Was, wenn sich jemand rächen will? Was, wenn hier Einer oder Eine mit einer Waffe auf ihn wartet? Sein Herz schlägt schnell und laut, er meint es wie einen Donnerschlag hören zu können. Es ist so laut in seinen Ohren, dass er das Knarren der Tür nur hinter einer Donnerwand vernimmt. Ganz leise flüstert er: „Hallo?“ Er blickt sich um und versucht es erneut: „Hallo? Ist hier jemand?“ Ein leises Knarzen von recht. Er dreht sich um, nimmt die Pistole aus der Tasche und blickt ins Dunkel, an das sich seine Augen langsam gewöhnt haben. Da, ein Schatten ... Er geht in die Richtung des Schattens, die entsicherte Waffe jederzeit schussbereit. Seine feuchte Hand umfasst den Kolben der Waffe und Hartmund fürchtet sich, wie nie zuvor in seinem Leben. Da wird plötzlich das Licht angemacht und irgendetwas springt hervor. Er schießt. Ein Schrei. Blut.

Die zwölf Jahre, die er für den unerlaubten Besitz der Schusswaffe und das Töten, wenn auch im Affekt, eines anderen Menschen bekommen hat, sind nicht das, was Hartmund Schwier, Mathematikprofessor und gut situierter Ehemann der Rechtsanwältin Ina Meiwardt-Schwier sowie ehemals Anwärter auf den Posten des Bürgermeisters in den Wahnsinn trieb. Auch seine verpfuschte Politikkarriere, seine sofortige Entlassung aus der Universität oder die Tatsache, dass seine Frau niemals mehr ein Wort mit ihm geredet, geschweige denn seine Verteidigung übernommen hat, waren nicht Schuld daran, dass der Fünfzigjährige sich in seiner Zelle erhängte. Schuld war einzig und allein die Tatsache, dass er am 24. Juni 2006, einen Tag vor seinem 50. Geburtstag, um genau 19:36 Uhr seine eigene Tochter mit einer halbautomatischen Pistole der Firma Glock erschossen hat. Während sie die wahrscheinlich größte Überraschung ihres Lebens geplant hatte, nämlich sämtliche Freunde und Bekannte ihres Vaters in ein altes kurz vor dem Abbruch stehendes Haus zu lotsen, um ihrem über alles geliebten Daddy eine Überraschungsfete zu seinem fünfzigsten Ehrentag zu schenken, hat dieser an eine vermeintliche Racheaktion aufgrund seiner düsteren Vergangenheit geglaubt und in einer seelischen Verfassung zwischen Todesangst und Überlebenstrieb abgedrückt. Und auch wenn niemand jemals etwas von dieser Vergangenheit erfahren wird, können einige Frauen, die von Hartmunds Tod aus der Zeitung erfahren haben; nun ein bisschen besser schlafen.

Middel 2009
 
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Kommentare  

Diese Geschichte erscheint am 15.6.11 im „Aurora Magazin".

http://aurorabuchverlag.de/


Middel (11.06.2011)

Toller kleiner bitterböser Krimi.

Petra (10.05.2009)

Spannende Story mit einem überraschenden Ausgang. Gut gemacht.

doska (13.02.2009)

Mal wieder eine böse, dunkle, garstige Geschichte. Und immer müssen die armen Frauen und Mädchen dran glauben. Aber letztendlich haben sie ja ihre Ruhe.

Mit der Geburstags Ü-Party das ist allerdings sehr dumm gelaufen.

Ich finde die Kurzgeschichte sehr spannend erzählt. Sehr bildlich vor allem.

Ein wenig stört mich das Klischee: Streber, "Lusche" = keine Frau = Vergewaltiger.
Das mit dem Nachhilfelehrer ist mir einfach ein wenig zu platt. Das hat man schon zu oft gehört.

Aber ansonsten gut gelungen.

Gruß Sabine


Sabine Müller (03.02.2009)

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