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10 Seiten

DIE GELBE GEFAHR

Trauriges · Kurzgeschichten
© FRP
28.03.2010

DIE GELBE GEFAHR

Take care of all your memories, said Mick / for you cannot relive them / and remember when you're out there tryin' to heal the sick /
that you must always first forgive them...
Bob Dylan, Basement Tapes, „Open The Door, Homer“, 1967



Mit der Farbe Gelb; der kaiserlichen Drachen-Farbe der Mandschu-Dynastie; verbinden wir Europäer spätestens seit den Tagen von Puccinis „Madame Butterfly“ und der taktierenden, militärisch armselig ausgefallenen Gegenwehr der Chinesen gegenüber den britischen Invasoren, die sich mit nur einem Kriegsschiff den „Gelben Fluß“ in Richtung Peking vorkämpften und mit ihren Kanonen Tod und Verderben auf Menschen und Paläste entlang der Ufer speiten,- seither assoziativ Gefühle des Neids und der Feigheit. Auch die Anglophilen bezeichnen einen Feigling noch heute als „yellow“. Feige und heimtückisch erscheinen uns auch Krankheiten, denen wir ausgeliefert sind. Mitunter sind wir dies auch einem schlechten Menschen, der seine körperliche Überlegenheit mißbraucht.

Am Anfang war das Gerücht. Dann der Test. Worin genau er bestand erinnere ich heute nicht mehr. Eine Blutabnahme vielleicht; oder eine Urinprobe? Jedenfalls war er schnell vergessen. Immer mal wieder hörten wir: Diese, oder jener. Abgeholt. Wichtiger derzeit war uns ein Test gänzlich anderer Art: Die fälligen Halbjahres-Schulzeugnisse würden bald ausgegeben werden in der Aula unserer Schule; vor versammelten Schülern, Lehrern und Eltern. Ich wußte genau, dass mir die abverlangte
Leistungssteigerung nicht nur versagt geblieben, sondern gänzlich mißlungen war; und ein deutlicher Leistungsabfall war nun - schwarz auf weiß -, wie es so schön heißt, als bezeugende Quittung akut zu befürchten.

Traditionell mußte für die Zeugnisausgabe von den Schülern ein sogenanntes Kulturprogramm vorgeführt werden; bestehend aus Pionier-Liedern, gespielten Märchen und aufgesagten Gedichten. Ich sollte den Kaufmann in einer Kurzgeschichte namens „Der Hufnagel“ spielen und hatte bei den Proben viel Beifall für meine exzessive Interpretation der Rolle bekommen; wurde aber von der Klassenleiterin für die Aufführung ermahnt, mich daselbst stark zu mäßigen und mich an den Text zu halten. Bei den Proben wurde einem Mitschüler plötzlich speiübel. Eine halbe Stunde später wurde uns mitgeteilt, er sei nunmehr im Krankenhaus. Seine Rolle mußte eilends umbesetzt werden. Erstmals tauchte das Wort „Gelbsucht“ unter uns Schülern der dritten Klassenstufe auf. Augen, Urin und Stuhl würden sich gelb färben, hieß es, - daher der Name. Am Tage der Zeugnissausgabe; abends, fehlten in der Aula dann bereits zwei weitere Mitschüler, die am Morgen, bei den Proben, noch zugegen waren. Einer von ihnen war mein bester Freund; Olaf, der ebenfalls im „Hufnagel“, als mein Widerpart mitspielen sollte. Auch seine Rolle wurde kurzfristig umbesetzt. Text zu lernen gab es da ohnehin nicht viel; und bei den Proben war die gesamte Klasse stets
zugegen, so das seine Rolle ohne große Mühe adaptiert werden konnte.

Wir brachten die Sache dann viertelwegs anständig auf die Bühne;
und naturgemäß waren meine Eltern mit meinen - nur von der Brilanz im Fache Deutsch gemilderten - dürftigen Leistung, vor allem meinem gänzlichen Versagen in der Mathematik, alles andere als zufrieden; und Einschränkungen meiner Lebensqualität; zum Beispiel das Kofferradio oder die Benutzung des Smaragd-B-20 Spulentonbandgeräts wurden mir angekündigt. Oh je, dachte ich; was, wenn im Radio die lange Fassung von Tommy James' „Crimson and Clover“ gespielt werden würde oder gar „Firebrigade“ von The Move und ich die Titel nicht mitschneiden dürfte? Nicht nur deshalb wurde mir entsetzlich schlecht, was meine Eltern natürlich erst einmal für eine Fortsetzung meiner hochapplaudierten schauspielerischen Leistungen des frühen Abends hielten. Sie steckten mich dann, mit einer elektrischen Heizdecke versehen, ins Bett; die dann von ihnen nach 20 Minuten, wegen der Brandgefahr, wieder entnommen wurde.

Am nächsten Morgen; dem ersten Ferientag, begann ich endlich ein Buch über die erste Amerika-Fahrt des Columbus, dass ich der Georg-Maurer-Bibliothek entliehen hatte, zu lesen; aber bald darauf verschlimmerte sich mein Zustand. Immer wieder wurde mir schlecht; driftete ich weg; wußte nicht mehr, was ich soeben gelesen hatte. Oft war ich nahe daran, dass Bewußtsein gänzlich zu verlieren; also begab ich mich taumelnd ins Wohnzimmer und alarmierte meine Eltern. Wir dachten sofort an die besagte Seuche; und meine Mutter verfuhr nach den Richtlinien der Schule und begab sich in selbige zwecks Information der zuständigen Stellen, denn über ein Telefon verfügten wir, ebenso wie die meisten anderen unserer Bekannten, im Jahr 1971 noch lange nicht.
In der Zwischenzeit packte mein Vater mir den Koffer mit den für einen Krankenhausaufenthalt notwendigen Dingen; Zahnputz- und Waschzeug, Handtücher, Schlafanzügen; Büchern und mit meinem kleinen, gerade erst zum Geburtstag erhaltenen roten Mini-Radio mit integrierter Uhr. Auch meine Ost- und West-Comics sollten mit, das bat ich mir erfolgreich aus. Es verging noch einige Zeit, bis der Krankenwagen bei uns vorfuhr; und ich wälzte mich immer stärker und mit Schaum vor dem Mund im Bett; wohl auch deswegen, weil ich wieder einmal ins Krankenhaus mußte. Die anderen Kinder hatten Schulferien; ich absolvierte meinen alljährlichen Krankenhausaufenthalt. Besonders tragisch, weil mir in 2 Jahren, soviel wußte ich bereits, eine wirklich lange, internierte Zeit mit einer komplizierten Operation bevorstand, auf die ich seit fünf Jahren wartete; denn die Termine waren absolut knapp. Aber Wiederholungen schwächen bekanntlich ab; 1969 und 1970 hatte ich ja auch in verschiedenen Krankenhäusern gelegen; es war für mich also der vertraute, sogenannte Normalfall. Gerade noch rechtzeitig zu meinem Abtransport war meine Mutter aus der Schule zurück und berichtete mir noch; mein Freund Olaf wäre auch bereits schon „da“; - wo immer dieses „da“ auch sein möge, dachte ich noch; dann driftete ich endgültig für längere Zeit in die Regionen der schwarzen Stille hinter den Augenlidern.

Das „da“ meiner Mutter war dann das dritte mit Hepatitis-Patienten belegte Haus des St.-Georg-Klinikums; und, wie es in meinem Leben nicht anders sein kann, war ich der erste Insasse eines neu eröffneten Saals, - was eine Begegnung mit meinen Mitschülern zu meinem Ärger völlig ausschloß. Dies verbitterte mich; als ich es realisierte beziehungsweise meinem Wunsche nach Umquartierung meiner Person natürlich nicht entsprochen wurde. Dafür, zum einzigen Trost, konnte ich mir das Bett in diesem neu eröffneten Raum aussuchen; und ich wählte jenes, welches in der Reihe hinten, links, direkt am Fenster lag. Das Zimmer hatte je zehn Betten entlang der beiden längsseitigen Wände. Ich legte mich hinein und schlief gleich ein. Wach wurde ich wahrscheinlich erst wieder infolge der dicken Spritze, gefüllt mit Penicillin; welche mit der langen Kanüle und mit voller Wucht direkt in meinen Hintern gerammt wurde.

Vor dem Einschlafen blickte ich direkt vom Bett in die Sterne am
Himmel und dachte an die erst kürzlich von meinem Vater gesprochenen Worte über die Mutmaßung, dass einige von jenen, die wir da oben erkennen, bereits lange schon nicht mehr existent wären und dies eine Folge der langen Zeit sei, die ihr Licht brauche, um bei uns anzukommen. Von Milliarden von Lichtjahren und unvorstellbaren Entfernungen in den Weiten des Weltalls sprach mein Vater zu mir. Am nächsten Morgen gab es den ersten Besuch der Ärzte, die sogenannte Visite durch die Zimmer und den Halt vor jeden einzelnem Bett, verbunden mit einem gegenseitigen Austausch über den darin Liegenden, aber höchst selten beseelt mit Worten an ihn. Da ich immer noch der einzige Patient im Zimmer war, hatten sie hier nun wenig Mühe. Penicillin, mehrmals gespritzt am Tage; verbunden mit strikter Bettruhe und einer strengen Diät sei der Weg zur Heilung; so die Ärzte. Der Weg zur Heilung oder die sogenannte halbe Miete dahin; so dann auch die Schwestern, sei die absolute, möglichst völlig unbeweglich einzuhaltende Bettruhe; auf dass die angegriffene Leber sich erhole und die Produktion des gelben Farbstoffs einstelle, der mir das Blut vergifte. Darauf solle ich achten; darauf werden sie achten, so die Schwestern. Die Diät bestand nun aus einer allmorgendlich verabreichten Milchsuppe. Am Mittag gab es dann entweder Milchreis, Erbsen-, Linsen-, oder Griessuppe. Selten einmal eine Abwechslung. Obst. Wurstbrote zum Abend.

An den nächsten Tagen füllte sich der Raum mit anderen, mehr oder weniger jungen Jungs; aber nicht mit Mädchen. Geschlechtergetrennte Unterbringung; so hieß es. Die personelle Erweiterung blieb zunächst unproblematisch, bis sich das letzte Bett, vorne, links, mit einem Achtzehnjährigen füllen sollte, dem Ältesten unseres Zimmers. Er wirkte auf mich zunächst sehr symphatisch; so stellte ich mir einen großen Bruder vor, der wirklich einer war – mein wirklicher, älterer Bruder war ja eher mein Gegner; leider – und umgekehrt. „Mit mir wird’s lustig, Jungs“, versprach uns der Älteste prophetisch; denn er sollte, auf eine makabere Weise, Recht behalten. Es dauerte dann auch nicht mehr lange, bis er uns explizit offenbarte, was genau er unter „lustig“ verstand. Und ich sollte sein ganz besonderer Liebling werden. Ich vermag nicht zu sagen, ob er sich die Macht durch seine Autorität als Zimmerältester einfach anmaßte und infolge seiner körperlichen Überlegenheit einfach errang, oder ob ihn die Schwestern von Anfang an in die Überwachung der alltäglichen Abläufe mit einbezogen hatten. Wahrscheinlich war es eine Mischung aus beidem. Die Hepatitis breitete sich rapide aus; immer neue Gebäude und Baracken des St.-Georg-Klinikums füllten sich mit Kranken; und es kam sehr schnell zu einem großen Personalmangel, wodurch immer weniger Schwestern die Arbeit ihrer an die anderen, neubelegten Geäuden abgegebenen Kolleginnen übernehmen mußten und damit natürlich total überlastet waren. Es war ein legitimes Mittel, die älteren Jugendlichen in die Überwachung der Kinder einzubeziehen; konnte man doch da erwarten, dass Vernunft und guter Wille vorhanden wären. Überwacht und kontrolliert haben diese Schwestern ihre Entscheidungen dann aber nie mehr, und damit begann mein Leidensweg. Denn nicht also herrschten Vernunft und guter Wille beim „Ältesten“ unseres Zimmers.

Die Einladung, seine Autorität gegenüber den Jüngeren einzusetzen mußte man ihm nicht ein zweitesmal überbringen. Er errichtete sofort eine Art paramilitärisches Angst- und Terror-Regime; wofür er die seinem Alter am nächsten kommenden Jugendlichen zu mitverschworenen Unterführern machte. Er war ab sofort mit „Ältester“ anzureden; seine Lakaien mit „Zweitältester“, „Drittältester“ -und so weiter. Die Kinder zwischen 10 und 16 Jahren waren dann die sogenannten „Halbhunde“. Am Ende der Kette waren dann die Jüngsten; die sogenannten „Spunte“,zu denen auch ich; als wiederum deren Ältester, gehörte. Von Anfang an weigerte ich mich jedoch, in der Hierarchie des „Ältesten“ eine jenem ihm in seinem perversen Sinne dienliche Funktion zu übernehmen; im Gegenteil versuchte ich, immer mehr Kinder zum passiven Widerstand zu überreden; aber, bedingt durch die körperliche Überlegenheit der „Ältesten“ war dies von Vornherein zum Scheitern verurteilt.

Somit hatte der „Älteste“ nun sein System von Befehlsausteilern und Befehlsempfängern errichtet; und er vergab harte Strafen für alles, was er als Fehlverhalten und Ungehorsam bezeichnete. Die Jüngeren hatte ihm und seiner Clique de facto alle unangenehmen Dinge zu verrichten, zu deren Erledigung sie keine Lust hatten. Dazu gehörte das sofortige dauerhafte Überlassen eines jeden privaten Eigentums; das alltägliche Überlassen der Nachspeisen der Mahlzeiten; das Reinigen aller bei Ihnen zu reinigenden Dinge, das allabendliche Aufhängen nicht nur der eigenen-, sondern auch der der Ältesten-Clique gehörenden Waschlappen und Handtücher zum Zwecke des Trocknens an den Bettenden; das Strammstehen vor ihren Betten; das demütigende Entblößen einzelner Körperteile, das Unterhalten der Ältesten mit Witzen und Geschichten und nicht zuletzt das Peinigen der eigenen Kameraden durch den Befehl des Ältesten; einer Sache, der sich viele unterwarfen; ich jedoch nicht. Gleich von Anfang an hatte der Älteste es auf mich abgesehen. Mein Ungehorsam bestand zuerst und hauptsächlich darin, dass ich mich weigerte, ihm mein Eigentum, bestehend aus meinem schon erwähntem kleinem Radio und zahlreicher Literartur, kampflos zu überlassen.

Da mein Vater als Buchbindermeister bei der Druckerei Interdruck angestellt war, hatte ich zahlreiche Bücher und Comic-Hefte zur Verfügung; die einem „normalen“ DDR-Kind unerreichbar blieben; zum Beispiel den begehrten und seltenen DDR-Comic „Mosaik“ nebst den Buchbinder- Muster- Exemplaren der Westausgaben von Comics wie „Lucky Luke“, „Arthur, das Gespenst“, „Totoche“ und „Davy Crockett“ - in allen nur vorstellbaren Sprachen; -Französisch, Dänisch, Schwedisch, Norwegisch; jedoch niemals in Deutsch. Das regte die Phantasie beim Lesen aber eher noch an. Man versuchte, aus dem unverstanden gelesenen Wort und dem Bild einen Zusammenhang zu konstruieren; die gelesenen Worte diesbezüglich darin einzuordnen und sich ihre vermutete Bedeutung dann dauerhaft einzuprägen. Im Krankenhaus hatte ich dafür reichlich Zeit; und das nicht nur bei dieser Gelegenheit. Im fortgeschrittenen Stadium stellte ich neunjähriger Knirps
vergleichende Betrachtungen zwischen den skandinavischen Sprachen Dänisch, Norwegisch und Schwedisch an; denn ich verfügte über mehrere Exemplare des Lucky-Luke-Comics „Die Postkutsche“ in verschiedenen Sprachen. „Norwegisch bevorzugt“ -teilte ich dann meinem Vater mit, und: „Bitte keine Finnen und Schweden mehr“, -wenn's auch dänisch ginge. Besonders stolz bin ich heute auf zwei sehr seltene Hefte des DDR-Comics „Mosaik“ in finnischer Sprache; über deren Beispiel eines nicht einmal die von mir besichtigten Mosaik-Ausstellungen verfügen. Natürlich hatte und habe ich alles bislang Erschienene des „Mosaik“ - damals wie heute - auch in der Original-Ausgabe in deutscher Sprache.

Durch meine permanenten Weigerungen, dass Spiel des „Ältesten“
mitzuspielen und ihm mein Eigentum an sein Bett zum Verfahren damit nach seinem Schlecht-Dünken zu überbringen und zu überlassen war ich natürlich, neben der gewaltsamen Entwendung desselben; sofort vorgesehen für eine Bestrafung. Der "Älteste" stahl mir meinen Set, bestehend aus 36 superbunten West-Filzstiften (in der DDR gab es derer höchstens in acht verschiedenen Farben), meine Comics und mein Radio; beziehungsweise machte er sich selbst damit nicht die Hände schmutzig, sondern wies diese Arbeit anderen Kindern an; - vorzugsweise jenen, mit denen ich mich gerade erst angefreundet hatte. Wann immer ich von einem Besuch der Toilette oder aus einem der Behandlungszimmer zurückkehrte, fehlte etwas von meinen Dingen aus dem kleinen Schränkchen seitlich an der Bugseite des Bettes. Das Einbeziehen befreundeter Kinder in die Strafaktionen tat mir besonders weh. Wieder einmal sollte ich, wie später dann beinah immer, in einer aufgezwungenen Gemeinschaft absolut vereinzelt bleiben. Besonders enttäusct war ich vom „Zweitältesten“, einem Subjekt von 16 Jahren; der dem „Ältesten“ genau gegenüber lag und, - genau wie ich - Rainer mit Vornamen hieß. Er wäre der einzige gewesen, der dem „Ältesten“ hätte Paroli bieten können. Wegen seiner Vorliebe für die in der DDR gerade angelaufenen Olsenbande-Filme wurde er alsbald „Rainer von der Olsenbande“ tituliert. Was mir heute normal und vertraut ist; - dies erfuhr ich in der Kindheit mit der Wucht der damit verbundenen Enttäuschung bezüglich meiner Sehnsucht nach Freundschaft und Nähe zu anderen Menschen. Und ich wurde beinah immer von ihnen gründlich, und unrevidierbar, auf das Bitterste enttäuscht.

Der „Älteste“ verhöhnte mich dann vor seinem Bett aus; meine „Lucky-Luke-Comics“ in seinen mit den Fett- und Speiseresten des Abendbrots verschmierten Händen triumphal hochhaltend und empfahl mir; meinen Vater, wenn ich hier nicht eine allabendliche „Senge“ erhalten wolle, sofort um Nachschub für seine Unterführer anzuschreiben. Und natürlich war ich am Abend, - verursacht durch meine erfolglose Gegenwehr - auch noch für das „Auspeitschen“ vorgesehen. Dieses erfolgte, nachdem die Nachtschwester das Licht löschte; und der „Älteste“ es nach einiger Zeit wieder eingeschaltet hatte. Jetzt flochten alle Kinder Knoten in ihre noch von der Abendwäsche nassen Handtücher und nahmen, also damit bewaffnet, kniend oder sitzend an den Heckseiten ihrer Betten Aufstellung.

Der vom „Ältesten“ allabendlich jeweilig benannte Delinquent oder deren mehrere, - auf jeden Fall aber und mit ziemlicher Sicherheit allabendlich ich -, mußten dann langsam an den beiden Bettreihen unter Beibehaltung einer ungeschützten Körperhaltung entlang marschieren. Das vom Ältesten festgesetzte Strafmaß entschied darüber; ob dieser Vorgang bei einem einmaligen Hin- und Zurück verbleiben sollte oder mehrmals wiederholt werden musste. Die Handtuch-Schläge der Kinder erfolgten natürlich nach der jeweiligen Sympathie oder Antipathie mehr oder weniger kräftig. Wer sich weigerte, mitzumachen, oder nach Meinung des „Ältesten“ zu lasch zuschlug, war selber mit dem Spießrutenlaufen dran und wurde brutal aus seinem Bett gezerrt und unter Tritten durch die Reihen getrieben. Wehrte der Delinquent sich, - oder die Schläge ab -, wurde der Vorgang ebenfalls wiederholt. Durch die Nässe bekamen die Knoten in den Handtüchern eine ungeheuere Wucht. Das man eigentlich strengste Bettruhe zu halten hatte, interessierte den „Ältesten“ nicht; aber auch dafür erfand er eine das Versäumte „ausgleichende“ Abhilfe. Er gab die Anweisung; unbotmäßige Spunte wie mich mit Stoffgurten an die Betten zu fesseln; so daß man tagsüber in liegender Stellung verbleiben mußte. Diese Stoffgurte waren, krankenhausseitig, einem jeden Bett genau zu diesem Zwecke beigegeben, allerdings nur für den delirenden Tob- und Notfall und natürlich nur nach Anweisung durch die Ärzte anzuwenden. Zuerst bat ich die Schwestern um Abhilfe; und zu ihrer teilweisen Ehrenrettung muß ich sagen, dass sie mir anfangs zur Rückgabe meines Eigentums verhalfen; aber das mit den Gurten beließen sie so; denn es war ihrer Arbeit ja dienlich und würde ja unserer Heilung dienen. Das hatte sich der Älteste gut ausgedacht: Er antizipierte stets, auch unter Zuhilfenahme meiner Radio-Uhr;
wann die Schwestern den Raum betreten könnten und versprach mir die Rückgabe meines Eigentums, wenn ich vor sein Bett treten würde und ein Loblied auf sein Wohlergehen singen sollte. Als ich dies tatsächlich anging, denn mein Eigentum war mir dann doch endlich wichtiger als meine Ehre, erwischten mich die Schwestern außerhalb des Bettes und unterstützten den „Ältesten“ in seinen diesbezüglichen Überwachungsbestrebungen beziehungsweise ließen sie ihn gewähren. Vor den jeweiligen Mittwochs- und Samstags-Visiten der Ärzteschaft banden sie uns aber wieder rechtzeitig los. Einmal schafften sie es in meinem Falle nicht, so dass ein Arzt bemerkte, dass ich angegurtet war. Die daraufhin befragte Schwester bedeutete ihm, es gäbe da halt so schwere Fälle...Ich protestierte erfolglos und konnte dem ungläubigem Arzt einige wenige Worte über das Terrorregime des „Ältesten“ vermitteln. Er aber schüttelte nur ungläubig mit dem Kopf...Da resignierte ich endgültig...

Und natürlich bezeichnete mich der „Älteste“ danach als Verräter-Sau und ließ mir mein Eigentum in aller Ruhe wieder entwenden. Den Toilettgang erlaubte er den gefesselten Kindern zweimal täglich, unter kräftigen Flüchen seiner Unterführer, die das Ab- und Wiederangurten zu erledigen hatten. Die Eltern konnten auch nicht helfen; denn, bedingt durch die Ansteckungsgefahr; war ein Besuch unmöglich; man sah sie jedoch ab und an durch eine Milchglasscheibe oder sie riefen vom Hof und man konnte zum Fenster kommen, wenn man denn frei war, es zu tun. Ich nicht. Meine Schwester war Leiterin einer Kaufhalle; Supermarkt, würden wir heute sagen, in Leipzig-Möckern; und sie organisierte für mich stets seltenes, normalerweise in der DDR nicht zu habendes Obst wie Bananen und Orangen; frische, hochwertige Äpfel und Birnen. Dieses Obst wurde dann von den Schwestern in den Küchen „sozialistisch“ auf alle Kinder verteilt; unter Beibehaltung eines kleinen Bonus' für den jeweiligen Spender. Soweit war das okay und ich hatte nichts einzuwenden. Aber, unnötig zu erwähnen: Mein Bonus, wenn nicht überhaupt mein gesamtes verbliebenes Obst, ging allabendlich an den „Ältesten“ und seine Spießgesellen. Und die Eltern riefen umsonst unter meinem Fenster. Obgleich ich am Fenster lag, hatte ich keine Chance, mich im Bett aufzurichten oder gar aufzustehen.

So lag ich dann ungefähr vier Wochen angeschnallt im Bett und hatte viel Zeit zum Denken und Träumen. Die alltäglichen verbalen Beschimpfungen und Demütigungen dieses mehr als nur in einer Hinsicht kranken Idioten und seiner Unterführer waren bitter, aber auszuhalten. Die gefürchtete „Punktion“; ein Einstich einer mit einem kleinen Widerhaken versehenen Kanüle zum Zwecke des Herausziehens eines Stückchen Gewebes aus der Leber bei vollem Bewußtsein des mit örtlicher Betäubung versehenen Betroffenen, blieb mir zum Glück erspart. Die „Gelbe Gefahr“ war gebannt. Ich war, nicht zuletzt auch dank der "besonderen" Art des Langzeit-Ruhens, tatsächlich der erste, der aus unserem Saal als geheilt nachhause entlassen wurde. Eine gute Rekonvaleszenz und eine harte Schule für das Leben; was mich auch, nicht zuletzt dank des „Ältesten“, zum Philosophieren und Schreiben gebracht hatte. Anbiederung bei Idioten, dies verblieb mir auch als Essenz dieser Zeit, sollte ich tunlichst vermeiden. Lieber frei sein im Denken, Fühlen, Träumen und Sinnieren als gemeinen Schurken dienstbar. Am Ende meiner Zeit im St. Georg wurden mir zirka sechzig Prozent meines Eigentums vom „Ältesten“ zurückgegeben. Natürlich hatte der Kerl die Uhr meines Radios überzogen und somit ihr Werk zerstört. Mein Vater nahm mir dies sehr übel, da ich, unfähig; meinen Eltern von all diesen Dingen zu berichten, die Schuld dafür auf mich nahm. Eine lebenslange schwierige Befindlichkeit der Leber sollten mir von dieser Krankheit als untrügliche Erinnerung verbleiben - nebst einer relativ schnellen, reziproken Reaktion auf die Begießung meines Magens mit Alkohol. Wenn der „Älteste“noch lebt - er müßte heute so am Rand der der magischen Sechs-Null sein - und das hier zufällig liest, kann er sich gerne auf ein Glas Wein bei mir melden. Danach aber werde ich mit ihm - auf meine
Art und Weise - „Post- oder Retour-Kutsche fahren“; auf das er sich auch ganz genau des "Lucky Luke" und all jener Dinge entsinne und ihm Fernes nicht gar entfalle; wie Hagen dereinst zu Siegfried - bei Wagner - sagte. Hat jemand diesbezüglich taugliche Vor-Schläge?


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