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7 Seiten

Becker (Teil 1)

Romane/Serien · Nachdenkliches
© Middel
Becker

(Prolog)
Ich bin nun 43 Jahre. Wenn man großzügig rechnet, habe ich jetzt die Hälfte meines Lebens auf der Habenseite. Schlussfolgernd bedeutet das für mich, dass mir noch einmal so viel Zeit bleibt, wie bisher. Aber was heißt das schon? Der größte Teil meines Lebens wurde von Demütigung und Unterdrückung bestimmt. Ich musste lange Zeit für einen Fehler büßen, den ich in meiner Jugend begangen habe. Also bleibt die Frage, ob ich das überhaupt möchte. Ich weiß es nicht, ehrlich. Zu vieles ist geschehen in meinem bisherigen Leben, als das ich an eine rosige Zukunft glauben kann. Mir würde ehrlich gesagt schon eine Zukunft reichen, in der es weniger schwarz gibt.
Der zweite Teil meines Lebens wird bedeutend besser sein, als der erste, das habe ich mir fest vorgenommen. Und normalerweise stehe ich zu meinem Wort. Wenn ich mir etwas vornehme, dann halte ich mich daran, egal was kommen mag. So habe ich vor langer Zeit mein Wort für jemanden gegeben, den ich sehr geliebt habe. Heute weiß ich, dass Liebe blind macht, doch so weise war ich damals noch nicht. Vieles lernt man auf die harte Tour im Leben und mein Leben war hart, sehr hart.
Warum ich gerade jetzt davon anfange? Ich weiß es nicht. Vielleicht aus Sentimentalität? Vielleicht, weil Morgen ein neuer Abschnitt meines Lebens beginnt? Aber am Wahrschein-lichsten ist, dass manche Geschichten einfach irgendwann erzählt werden müssen. Für diese hier scheint mir die Zeit gekommen.
(1)
Wir hatten die Kontrolle verloren. Das wurde uns in dem Moment bewusst, als ein Mensch starb. Blutend lag er vor unseren Füßen und selbst Fisch, der sonst nie um einen markigen Spruch verlegen war, schwieg. Mir wurde heiß und kalt zugleich. War das wirklich geschehen? Hatten wir das wirklich getan? Um mich herum begann die Welt zu wanken, mein Puls raste und vor meinen Augen flimmerte es. Er war tot. Er war tatsächlich tot. Unser Lehrer Achim Becker lag mit offenen Augen vor uns auf dem Küchenboden seiner Wohnung und atmete nicht mehr – nie mehr!
Ich merkte erst jetzt, dass Annika das Messer immer noch in der Hand hielt. Das Küchenmes-ser, das ihr wohl gleichsam das Leben rettete, wie es unser aller Schicksal von dieser Sekunde an für immer veränderte.
(2)
Dabei fing alles ganz harmlos an. Eine Schnapsidee, die sich verselbständigte. „Wir müssten den alten Becker mal so richtig fertigmachen, dieses fiese, fette Schwein.“ Fisch, der Draufgänger von uns Dreien und der Einzige, der annähernd etwas Erwachsenes ausstrahlte, hatte es ausgesprochen, doch irgendwie war es unser aller Wunsch, diesem Penner mal richtig eins zu verpassen.
Wir wussten schon lange, dass er ein Auge auf Anni geworfen hatte und wir wollten das zu unseren Gunsten ausnutzen. „Weißt du“, hatte ich erst kürzlich gesagt, „der zieht dich prak-tisch mit den Augen aus.“ Annika hatte nur ihr süßes, verschmitztes Lächeln aufgesetzt und geantwortet: „Ich weiß.“ Solange sie ihm das Gefühl gab, nicht abgeneigt zu sein, würde ihre Eins in Mathe wie in Stein gemeißelt stehen. Das war wohl auch der Grund, der sie ein wenig zögern ließ, als wir jetzt darüber sinnierten, wie wir seine offensichtliche Schwäche für unsere Anni für uns nutzbar machen konnten. „Wie sollen wir denn sonst an ihn rankommen?“ Fisch hatte schon einen Plan im Kopf, das sah man ihm an. Gerade waren wir beide aus dem Büro unseres Direktors Weyer gekommen. Ich hatte ne Verwarnung wegen vorzeitigen Verlassens des Unterrichts kassiert, aber Fisch war nicht so glimpflich davongekommen. „Sie werden sich in einer Konferenz für Ihre Taten zu verantworten haben, Herr Fischer“, äffte Fisch nun eins zu eins den Direktor nach und wir lächelten. Danach war uns vor eineinhalb Stunden eher nicht zumute gewesen.
(3)
Es war die dritte Stunde. Mathematik.
„Scheiße, der gibt uns heute schon die Klausuren zurück.“ Während ich flüsterte, schaute Fisch stur gegen die Wand. Irgendwie war er schon in den ersten beiden Stunden nicht gut drauf gewesen. Was sagen wollte er aber nicht.
„Annika“, klang vom Pult her die Stimme Beckers, die ihre Monotonität immer dann verlor, wenn er sich seiner Lieblingsschülerin widmen konnte, „wie nicht anders zu erwarten.“ Be-cker schlenderte langsam bis zu Annis Tisch und hielt ihr das Heft entgegen. Er lächelte und mir wurde speiübel bei dem Gedanken daran, was er wohl gerade dachte. Er blickte ihr etwas zu lange nicht in die Augen, bevor er ihr das Heft mit der „erwarteten“ Eins übergab. Als er sich umwand kam mir sofort das Bild eines Gockels in den Sinn. Ein fetter, aufgedunsener, alter Hahn, der versucht die jungen Hühner zu beeindrucken. In diesem Moment hätte es mich nicht gewundert, wenn er laut zu Krähen angefangen hätte. Fisch schien die gleichen Gedan-ken zu haben und ich merkte, wie er nervös an seiner Oberlippe kaute. Bevor Becker weiter-ging, ließ er noch einmal wie zufällig seine Hand über Annis Bluse streifen, die davon nichts mitzubekommen schien.
„Herr Fischer und Herr Meyer haben mal wieder sang- und klanglos versagt. Kein Wunder bei der Abstammung. Wo soll’s denn auch herkommen? Das mit dem Abitur wird dann wohl auch nichts mehr bei Ihnen Beiden, was?“
„Ach wissen sie was Herr Becker …“ „Nein, was denn?“ Becker hatte sein süffisantestes Lä-cheln aufgesetzt und ich sah Fisch an, dass er ihm am Liebsten an die Gurgel gesprungen wäre. „Sie können mich mal so richtig fett am ARSCH LECKEN!“
Scheiße, hatte Fisch das echt grad gesagt? Wir waren alle sprachlos und warteten auf Beckers Reaktion, die auch prompt folgte. „Das hat Konsequenzen!“, schrie er, „Raus aus meinem Unterricht, sofort. Melden Sie sich beim Direktor …“ „Meld du dich doch, du fettes Schwein.“ Bevor Fisch nun völlig ausrastete, hastete ich auf ihn zu und riss ihn mit mir nach draußen vor den Klassenraum.
„Ey man Sascha, was soll denn der Scheiß“, stresste er noch vor der Tür. „Das fragst du mich? Du Volldepp hast dir grad die Zukunft verbaut. Mit ner Sechs in Mathe kriegste die Zulassung nicht und dann kannste das verfickte Jahr wiederholen!“ „Einen Scheiß werd’ ich.“ „Mensch Jonas“, so nannte ihn eigentlich nur seine Mutter, aber ich versuchte ihn irgendwie zu erreichen, „wieso biste eigentlich so ausgerastet? Ich mein, scheiß doch auf die Drecks-Klausur. Was ist los?“ In dem Moment kam auch Anni aus der Tür. „Hey.“ „Hey Anni. Hat dich der Penner einfach gehen lassen?“ „Ja, ich hab ihm versprochen dafür zu sorgen, dass du zum Direx gehst.“ „Was? Das kannste gleich vergessen.“ „Wart doch erstmal ab, Fisch, es ist doch tausendmal besser, wenn du da zuerst auftauchst, als wenn der bekloppte Becker vor dir schon die Welle macht, meinste nicht?“
(4)
Das Positive war tatsächlich, dass wir das Schlimmste, also Fischs sofortigen Rausschmiss, damit abwenden konnten. Doch gut sah es trotzdem nicht aus. Wir gingen Richtung Turnhalle und keiner von uns sagte auch nur ein Wort. Ich dachte daran, dass der Direx direkt meine Mutter anrufen wollte. Montags hatte die immer frei und das wusste er ganz genau. Auf die Standpauke zuhause freute ich mich schon riesig. In der „ach-so-heilen-Welt“ meiner Mom war kein Platz für einen Versager wie mich. Sie ließ es mich zwar nicht spüren, aber meine ältere Schwester Saskia mit ihrem Medizinstudium im Ausland war ihr viel angenehmer, als ihr Sohn Sascha, der mit Ach und Krach überhaupt erst in die 13 gekommen war. Auf jeder Party waren ihr Lieblingsthemen nach ein, zwei Sekt, Saskia und ihre tollen Aussichten. Sie solle bloß nicht so früh heiraten. „Den Fehler habe ich damals gemacht.“ Bla bla …
„Also Fisch“, unterbrach das einzige Mädel in unserer Runde die eingetretene Stille. Wir standen vor der Turnhalle, die im unteren Bereich des Schulhofs lag und wappneten uns in-nerlich für zwei Stunden Volleyball. „Was hast du dir denn ausgedacht? Und das heißt nicht, dass ich dabei mitmache. Aber ich würde es doch gerne hören.“
(5)
Am selben Abend verabredeten wir uns um halb elf am Schrottplatz, einem unserer Lieb-lingsplätze. Wir saßen da mehrmals die Woche in einem alten Lieferbus und diskutierten über dies und das. Aber meistens über nichts. Das sollte diesmal anders sein. Ich saß schon ne gute Viertelstunde im Wagen, als Fisch endlich auftauchte. „Mussteste dir erst die Haare flechten“, versuchte ich ihm nen Spruch zu geben. Fisch hatte seit gut nem halben Jahr nen Milime-terschnitt, weil ihm die langen Haare, die er zuvor getragen hatte, auf den Keks gingen. „Nee Alter, ich hab noch deine Mom beim Ausziehen beobachtet. Die sollte sich echt mal wieder rasieren.“ „Wozu? Du hast doch auch so nen Ständer. Außerdem ist sie verheiratet und nicht jeden Abend auf der Suche, wie deine Mom.“ So ging das eigentlich ständig zwischen uns, vor allem, wenn Anni nicht dabei war. „Ach weißt du Sasch’, du bist doch nur neidisch, weil …“ In dem Moment krachte es und wir zuckten zusammen. „Scheiße, ich dachte der Schrotti ist sich einen wegkippen“, flüsterte Fisch. Schrotti hieß eigentlich Werner Eichstedt und ihm gehörte der heruntergekommene Schrottplatz, aber jeder im Ort nannte ihn nur Schrotti. „Hof-fentlich hat er nicht den Köter dabei.“ Wir hielten beide den Atem an, als es an der Wind-schutzscheibe plötzlich „Wuff“ machte. Der Schein einer Taschenlampe blendete uns und wir lachten auf. „Boah Anni, du hast uns vielleicht einen Schrecken eingejagt. Geht’s noch?“ „Ihr seid mir vielleicht zwei Helden.“ Sie grinste wieder in ihrer atemberaubenden Art und Weise. Wenn sie das tat, war immer für einen kurzen Augenblick ihre kleine Zahnlücke zu sehen und sie hätte in diesen Momenten meine Playboy-Sammlung anzünden können, ich wäre nicht imstande gewesen, ihr böse zu sein. „Außerdem wisst ihr doch, dass der Schrotti montags immer in der Lindenbrauerei zu tun hat.“ „Ja, zu tun hat er da vor allem eins.“ Fisch nahm ein Bier aus seinem mitgebrachten Rucksack, öffnete die Flasche und nahm einen tiefen Schluck. „Montags“, sprach ich weiter, während mir Fisch die Flasche hinhielt, „und dienstags“, ich nahm ebenfalls einen Schluck aus der Pulle und gab sie an Anni weiter, die sich mittlerweile neben uns gesellte, „und mittwochs“. Anni trank einen kleineren Schluck und fing an zu la-chen. Da ich mein Bier noch nicht gänzlich heruntergeschluckt hatte, prustete ich und hätte fast alles wieder ausgespuckt. Nun lachten wir alle Drei.
(6)
Wieder war Fisch der Erste, der zum Ernst der Lage hinleitete. „Also Anni“, fing er an, „hast du’s dir überlegt?“ Seine dunklen Augen funkelten, das konnte ich selbst im flackernden Schein der Taschenlampe erkennen. Er sah sie erwartungsvoll an und Anni hielt seinem Blick stand. Mit ihren 17 Jahren war sie zwar schon kein Mädchen mehr, aber als Frau hatten wir sie bisher auch nicht gesehen. Ich zumindest nicht. Bei Fischer war ich mir da nach heute Morgen nicht mehr ganz so sicher. Zu eindeutig war das gewesen, was er ihr vorgeschlagen hatte.
„Okay, hört mir zu. Bevor ich mich entscheide möchte ich hier zwei Dinge klarstellen.“ Annis Stimme nahm einen sehr ernsten Ton an. „Erstens darf die Sache unter keinen Umständen außer Kontrolle geraten. Wenn wir merken, dass es zu heiß wird oder dass irgendetwas Un-vorhergesehenes passiert, brechen wir ab. Sofort!“ Ihre Augen begannen zu zucken und dann sagte sie etwas, das alles veränderte. „Ich muss euch auch noch etwas erzählen vorher. Und ihr müsst mir schwören, niemals irgendjemandem davon zu erzählen. Nicht in einer Trillion Jahre. Das ist die Bedingung.“ Ich schaute Anni mit großen Augen an und sie nahm ihren Blick von Fisch und sah mich ebenfalls an. Dann wieder Fisch, dann wanderten ihre Augen zurück zu mir.
„Könnt ihr das?“
(7)
Als ich in dieser Nacht leise die Tür aufschloss und möglichst geräuschlos durch die Ein-gangstür unseres Hauses schlich, wäre ich vor Schreck fast gestorben, als mich die Stimme meiner Mutter fragte: „Sascha Meyer, wo um alles in der Welt kommst du um diese Zeit her?“ Scheiße, warum war sie noch wach? „Du hast morgen Schule, wenn mich nicht alles täuscht, oder?“ Immer diese bescheuerten rhetorischen Fragen der Eltern. Darauf konnte sie sich doch selbst eine Antwort geben. Noch standen wir in völliger Dunkelheit um halb drei Uhr nachts in unserem Flur und ich hatte bis zu diesem Moment nicht einmal geatmet. Nun schaltete sie das Licht ein und sah mich vorwurfvoll an. „Ich weiß, dass ich dich nicht mehr unter Kontrolle halten kann, aber musst du echt mitten in der Woche bis nach zwei Uhr nachts auf der Straße rumhängen.“ Ich wusste, wenn sie so drauf war, konnte man ihr weder beibrin-gen, dass es montags war und nicht mitten in der Woche und ich auch nicht auf der Straße, sondern wohlbehütet in einem alten verrosteten Van auf einem baufälligen Schrottplatz gewe-sen war. Eltern reagieren auf so was irgendwie anders als zum Beispiel Kumpels. Und dann wundern sie sich, dass man ihnen nichts erzählt. Ich brachte nur ein zerknittertes „Sorry“ her-aus und fühlte mich wie ein Hund, der gerade beim Pinkeln auf den Wohnzimmerteppich erwischt wurde. Ob Fisch wohl auch so ein unentspanntes Verhältnis zu seiner Mom hatte? Ir-gendwie hatten wir über so was nie geredet. Er war eh sehr verschlossen, wenn es um ernst-haft private Themen ging. Ich stapfte die Treppe zu meinem Zimmer rauf und war nur froh, dass Mom die Tränen in meinen Augen nicht entdeckt hatte.
Oben angekommen, betrat ich mein Zimmer, schloss ab und warf mich aufs Bett. Ich heulte mich in den Schlaf.
(8)
Beim Frühstück schien dann alles wieder in Ordnung zu sein. Zumindest bis mein Vater die Bühne (in diesem Fall die Küche) betrat. Er hatte diesen Blick drauf, der einem eiskalt signalisiert „Mit mir ist nicht zu spaßen“. Ich stopfte mir den Rest vom Wurstbrötchen in den Mund und war schon im Gehen begriffen, als er meinte, seine väterliche Rolle mal wieder etwas ernster zu nehmen. Shit. Mir blieb wirklich nichts erspart.
Nur der Einwand meiner Mutter, der Junge müsse heute wenigstens pünktlich zur Schule kommen ließ mich noch einmal mit dem sprichwörtlichen blauen Auge davonkommen. Mein Vater war nur bis zu seiner „deine Füße – mein Tisch“ – Phrase gelangt und meine Mutter schien ihm von dem Anruf Weyers – bisher – nichts erzählt zu haben – also doch noch etwas Glück im Leben. Danke Mama.

(Fortsetzung folgt)
 
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Kommentare  

Sehr lebendig und spannend geschrieben. Du kannst dich gut in die Lage der Jugendlichen hinein versetzen. Freue mich schon darauf, wie es weitergeht.

Gerald W. (11.09.2011)

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