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5 Seiten

Becker (Teil 2)

Romane/Serien · Nachdenkliches
© Middel
(9)
„Wir ziehen das am Wochenende durch.“ Fischs Stimme holte mich aus einem Tagtraum zurück. Da hatten Angelina Jolie und ich uns gerade durchs erste Level von Tombraider gekämpft und ich durfte ihr zur Belohnung beim Duschen behilflich sein. Ich blinzelte in die Sonne hinein. Wir genossen unsere Freistunde und lagen faul auf der Schulwiese herum. Es war noch nicht mal mittags und die Temperatur betrug locker 25 Grad Celsius. Anni war im Theaterkurs und hatte somit dienstags die Vierte nicht frei. Langsam hob ich den Kopf und schaute meinen Freund an. „Du meinst das kommende Wochenende?“ „Ja verdammt, wenn wir das nicht sofort durchziehen, kriegt ihr doch wieder kalte Füße und ich steh dann da mit meiner fuck Konferenz.“ Er betonte das letzte Wort auf exakt den falschen Silben. Es klang ein wenig so, als wenn ein Ami versuchte Deutsch zu sprechen. Besser wurden das Wort und die damit verbundene Bedeutung dadurch aber nicht. „Alter“, holte er weiter aus, „die wollen mich von der Schule schmeißen, ist dir das überhaupt klar?“ „Das weißt du doch gar nicht", protestierte ich, obwohl ich genauso dachte. „Ach ja? Und warum machen die das dann alles so förmlich? Mit Einladung, Eltern, Lehrern und dem verdammten Direx?“ „Keine Ahnung. Vielleicht wollen die dir nen Denkzettel verpassen.“ „Denkzettel? Das ich nicht lache. Der Becker will mich doch schon seit der Elf schassen und die Birnbaum hat doch auch schon ihre Krallen gewetzt. Nur, weil ich ihr damals eiskalt ins Gesicht gesagt habe, was ihr Problem ist.“ Ich musste schmunzeln bei dem Gedanken an das Gesicht unserer Philo-Lehrerin, als Fisch zu ihr meinte, dass sie nen Stock im Arsch habe und den mal durch nen Schwanz substituieren solle. „Die wollte mich doch da schon am Liebsten der Schule verweisen.“ Gott sei dank war die Birnbaum dann aber erstmal drei Wochen krank geschrieben und schien das Ganze eher vergessen zu wollen, als sie wieder in der Schule war. „Okay, okay …“ Ich begriff, dass Fisch es todernst meinte. „Wir ziehen das gemeinsam durch. Solange Anni auch dabeibleibt. Von ihr hängt alles ab.“ „Wir kriegen den Wichser bei den Eiern.“ Fisch stand auf und hielt mir die Hand hin. Ich umschloss sie und während er mir hoch half, sah er mir fest in die Augen. „Also am Wochenende?“ Ich drückte seine Hand. „Wochenende“, antwortete ich knapp.
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Die nächsten Tage vergingen zäh wie Kaugummi. Englisch, Bio, Physik … nur in Mathe herrschte eine gespannte Atmosphäre. Fisch war vom Mathematikunterricht ausgeschlossen worden und musste in der Bibliothek alleine Aufgaben bearbeiten. „Irgendwas mit Zahlen und Buchstaben“, meinte er später nur lapidar. Dass er überhaupt noch in der Schule verweilen durfte, hatte er wohl dem Talent seiner Mutter zu verdanken, die auf Knopfdruck weinen konnte. „Die hat dem Weyer Anderthalbstunden was vorgeheult am Telefon“, hatte er gesagt und trotz großer Bedenken des Lehrerkollegiums weiter am Unterricht – außer Mathe – teilnehmen dürfen. „Dafür hat sich der Direx noch bei meiner Mom entschuldigt.“ „Hauptsache du verpasst nicht zu viel vom Stoff.“ Anni hatte immer noch seinen Abschluss im Sinn. „Wir bringen dir die Arbeitsblätter aus Mathe mit und gehen das dann gemeinsam durch.“ Irgendwie beneidete ich Fisch dafür, dass er jetzt in der klimatisierten Schulbücherei saß, während die monotone Stimme des Ekels von vorne für Luftverpestung sorgte.
Wie verabredet fing Anni mit der „Vorarbeit“ an und ließ die subtilen Annäherungsversuche Beckers diesmal nicht unbeantwortet. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht laut aufzuschreien. Zum ersten Mal merkte ich, dass ich eifersüchtig war. Und das gefiel mir ganz und gar nicht.
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Am Freitag wollten wir uns noch einmal auf dem Schrottplatz treffen, um die letzten Details unseres Plans durchzugehen. Irgendwie war mir da schon bewusst, dass das Ganze kein gutes Ende nehmen würde. Wie immer war ich der Erste. Ich vertrieb mir die Zeit des Wartens mit dem Rauchen einer Zigarette. Gut, dass Vater die nicht abzählte. Für meine Lunge schädlich, aber für meine Nerven in diesem Moment genau das Richtige.
Irgendwie war mir plötzlich ganz unwohl bei der Sache, die wir vorhatten. Auch wenn der Becker ein Riesenarschloch war, mussten wir ihn so reinlegen? Andererseits, welche sonstige Chance gab es für Jonas? Scheiße. Die ganze Situation war so oder so eine riesengroße Scheiße. Ich zog noch einmal an der Zigarette, bevor ich sie durchs hintere, fehlende Fenster warf. Ich zündete mir direkt noch eine an. Vielleicht würde ja auch alles glatt gehen und wir wären fein raus aus der Sache. Das größte Risiko lag sowieso bei Annika. Und nach all dem, was wir vor Kurzem erst von ihr erfahren hatten, war es ihr gutes Recht, die Drecksau mal so richtig abzukochen.
„Na du Grübler.“ Annis sanfte Stimme holte mich zurück ins Hier und Jetzt. „Achtung, hier spricht die Raucherpolizei. Bitte entsorgen Sie den Glimmstängel, indem sie ihn direkt weitergeben.“ Auch Jonas war also da. Dann konnte es ja losgehen.
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Fischs Plan war eigentlich relativ simpel. Was mir Sorgen machte war Annis Rolle dabei. Sie war taff, keine Frage, aber innerlich sehr zerrissen, wie mir erst ein paar Tage zuvor richtig klargeworden war. Ich hatte sie immer als stark und selbstbewusst eingeschätzt, dass das größtenteils gespielt sein konnte, wäre mir nicht in den Sinn gekommen. Anni war verletzlich und ich hatte Angst, dass ihr diese Sache ganz und gar nicht gut tun würde. Heute bin ich mir bewusst, dass ich von ihrem Wesen mehr beeindruckt war, also vor allem von dieser Zerrissenheit und dem Widerspruch der harten Schale zum weichen Kern, als mir gut tat. Mittlerweile weiß ich, ich war verliebt.
Damals wusste ich nur wie hilflos ich mich fühlte. Ich wollte Anni beschützen, für sie da sein, ihr Lächeln in mein Herz tätowieren und ihre Tränen auffangen und bewahren. Zu jener Zeit machte das alles Sinn für mich. Vor allem nachdem Annika uns ihr größtes und schwärzestes Geheimnis anvertraut hatte.
Weinend hatte sie uns gestanden, dass ihr Vater sie missbrauchte, seit sie 14 war. „Das ging mehrere Monate so“, erzählte sie völlig aufgelöst, „und in dieser Zeit starb ein Teil meiner Kindheit.“ Wir waren völlig geschockt gewesen. Fisch hatte ihre rechte Hand gehalten, als sie weitererzählte. „Mom hat nichts mitbekommen und Dad musste mir nicht einmal drohen, damit ich nichts erzähle. Ich liebte ihn doch. Tagsüber war er auch ganz normal zu mir. Vor allem im Gegenwart meiner Mutter. Doch nachts, wenn er in mein Zimmer kam …“ Ihre Tränen kullerten die Wangen hinunter und von da weiter zu ihrem Kinn. Ich hatte Annika noch nie so traurig und so verletzlich gesehen, wie in diesem Moment. Und weil mich ihre Geschichte mitnahm, öffnete sie eine Tür zu einer Welt, in der es plötzlich mehr gab, als nur Schule und Familie, Freunde und Partys. Eine Welt, die böse war und traurig, und in der ein Mädchen dem eigenen Vater schutzlos ausgeliefert war. Mit einem Mal war ich durch diese Beichte mittendrin und konnte doch nichts tun. Vielleicht erklärt das ein wenig die Dinge, die sich später ereignen sollten. Dies und die Tatsache, dass ich das Mädchen beschützen wollte.
Wir Drei weinten hemmungslos und erst als ich später in der Nacht zuhause vor der Tür gestanden hatte, war ich soweit gefestigt, dass ich die Tränen kurzzeitig im Griff gehabt hatte. Ich wusste ja, dass Annis Vater wenige Tage nach ihrem 15. Geburtstag an einem Aneurysma im Hirn gestorben war. So etwas passiert und ist traurig, aber für Anni war es wohl das Beste, was ihr passieren konnte. Das dachte ich jedenfalls und beruhigte mich mit der Tatsache, dass ihr Erzeuger ihr nichts mehr anhaben konnte.
Jetzt saßen wir also wieder in dem Van, redeten mit keinem Wort über Annis Geschichte, sondern konzentrierten uns auf Becker und unsern Plan. Na ja, eigentlich war es ja Fischs Plan, aber in diesem Moment fühlte es sich so an, als wäre es auch meiner.
Fisch rekapitulierte noch einmal die Gründe, warum wir Becker unbedingt „erledigen“ mussten. Mir fiel das Wort zu diesem Zeitpunkt nicht besonders auf, aber im Nachhinein hinterlässt es einen bitteren Beigeschmack.
Die Gründe klangen alle logisch, nein mehr noch: zwingend. Erstens war Becker derjenige, der uns den Weg zum Abi verbauen konnte. Also Fischs und mein Abi, Anni war da fein raus, zumindest was diesen Punkt betraf. Vor allem Fischs Problem lag jedoch in der Konferenz, auf die Becker bestand. „Scheiße man, der will mich raus haben. Der Scheißkerl will mir die Zukunft verbauen, aber richtig.“ Fisch nahm ein Bier aus seinem Rucksack, öffnete die Flasche mit seinem Feuerzeug und trank. „Aber der verdammt wichtigste Grund ist“, sprach Fisch nun energisch, „dieser Penner ist genauso ein Wichser, wie Annis Alter es war.“ Annika hatte uns beim letzten Treffen nämlich noch etwas anvertraut und diese Story war der Hauptgrund für meine Entschlossenheit. Sie hatte Becker im Verdacht mehrere Mädchen unserer Schule dazu genötigt zu haben, an ihm sexuelle Handlungen vorzunehmen. Sie hielt das alles zwar sehr vage, wollte auch keine Namen nennen, aber Anni schien felsenfest davon überzeugt zu sein. Also waren wir es auch.
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Als ich abends im Bett lag, geisterten tausende Gedanken durch meinen Kopf. Aber keiner ließ sich von mir einfangen. Mein Herz raste, obwohl ich hundemüde war. Es hatte angefangen zu regnen und es prasselte unaufhörlich gegen mein Fenster. Ich schloss die Augen und wünschte mir, Anni wäre jetzt da.
Um mich abzulenken, ließ ich den Plan noch einmal Revue passieren.
Anni sollte wie zufällig bei Becker auftauchen und unter dem Vorwand etwas in Mathe noch einmal genauer wissen zu wollen Zugang zu dessen Haus bekommen. Wir würden in der Nähe warten, bis sich eine günstige Gelegenheit für Anni ergab, die Tür zum Garten einen Spalt offen stehen zu lassen. Beckers Frau, das wussten wir schon, war an diesem Wochenende auf einem Seminar.
Nachdem wir dann ungesehen in Beckers Wohnung waren, sollte sich Anni an Becker ranschmeißen und ihn kompromittieren. Und zwar indem sie ihn erst anmachte und wenn er soweit war, ängstlich zurückwich und schrie. Wir wollten das alles auf Kamera bannen, damit wir Becker dann in der Hand hatten. Ein simpler Plan eigentlich. Ein Plan, wie ihn nur Jugendliche aushecken können, für die das Leben wie ein gerade entdeckter Abenteuerspielplatz scheint. Ich kam mir an diesem Abend megacool vor. Zum letzten Mal für sehr lange Zeit.
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Der nächste Tag verging wie im Flug und ehe ich mich versah, kniete ich neben Fisch hinter Beckers Haus in einer Hecke. „Scheiße Fisch, meine Sachen werden das nicht überleben.“ Da es die Nacht durchgeregnet hatte, war alles nass. Meine Hose, die Schuhe und auch die Jacke hatten braune Flecken. „Hättest dir Ersatzklamotten mitnehmen sollen, so wie ich.“ Soweit hatte ich nicht gedacht, Fisch anscheinend schon.
„Hast du dein Handy aus?“ Ich kontrollierte es. „Ja.“ „Gut.“ „Muss das echt sein mit der Kapuze? Ich mein, hier sieht uns doch eh keiner, oder?“ Jonas’ Augen glänzten. „Glaub mir, es ist besser, wir haben die auf. Es gibt immer wen, der zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort auftaucht. Und solange wir die Sache mit Becker nicht dingfest haben, sollten wir sehr vorsichtig sein.“ Fisch sprach gang ruhig und besonnen. Mir dagegen war speiübel.
„Anni ist jetzt schon ne Viertelstunde da drin, ich halt das nicht mehr aus. Was machen wir, wenn was schief läuft?“ „Halt die Fresse Sasch. Es wird schon klappen, Anni weiß, was sie tut.“ Jonas schien sich so verdammt sicher zu sein. Meine Sicherheit schwand von Sekunde zu Sekunde. Ich fühlte mich schlecht und wollte jetzt überall sein auf der Welt, nur nicht hier.

(Fortsetzung folgt)
 
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Kommentare  

Kann ich nur zustimmen. Spannend, und wie geht es weiter?

Else08 (23.09.2011)

Ausgesprochen spannend und lebensecht. Dein Protagonist hat alle meine Sympathien und man bangt um ihn, obwohl man ja bereits vom Anfang her weiß, was geschehen ist.

Gerald W. (14.09.2011)

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