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Der Brief

Spannendes · Kurzgeschichten
Als ich das Hotelzimmer betrat, sah ich einen vollen Papierkorb. Nachdem ich die Türe hinter mir geschlossen hatte, packte ich meinen Koffer aus. Und immer wieder fiel mein Blick auf den vollen Papierkorb. Von weitem sah ich einen handgeschriebenen Brief darin. Ich näherte mich dem Korb und zupfte den Brief heraus. Darunter lagen noch andere Briefe. Sie trugen alle dieselbe Handschrift. Ich begann im Brief zu lesen. "Lieber Roger, ich liebe dich so sehr." Da ich auch Roger heisse, berührte mich dieser Satz merkwürdig. Ich begann weiter zu lesen, bis ich zum Ende des Briefes kam: "Deine Dir in Liebe ergebene Brigitte." Ich nahm den zweiten, den dritten Brief usw. heraus, bis ich den ganzen Papierkorb durchgelesen hatte. Da hatte eine Frau Liebesbriefe an einen Mann geschrieben, der gleich hiess wie ich, und diese Frau musste vor mir das Zimmer bewohnt haben.

Ich ging auf den Flur, stieg die Treppe hinunter und erkundigte mich bei der Hotelbesitzerin nach dem Namen der Frau. "Brigitte Hauser heisst sie und ist heute Morgen abgereist." "Wissen Sie, wo sie wohnt?" "In diesem Ort", sagte die Hotelbesitzerin, "gleich einige Strassen weiter, an der Via Al Parco 26. Sie hatte mir bei ihrer Ankunft gesagt, dass sie ein einziges Mal in ihrem Leben eine Nacht in diesem Hotel verbringen möchte." "Ist sie verheiratet?" "Ja, mit Armin Hauser. Warum wollen Sie das wissen?" "Ich weiss es auch nicht", sagte ich und ging aus dem Hotel an die Via Al Parco 26. Es brannte noch Licht. Später kehrte ich ins Hotelzimmer zurück und schrieb einen Liebesbrief. "Liebe Brigitte, ich sehne mich nach Dir. Dein Roger im Hotel Orselina Zimmer 12." Ich steckte den Brief in ein Couvert, ging noch einmal an die Via Al Parco 26 und warf den Brief in den Briefkasten.

Am nächsten Morgen klopfte es an meiner Zimmertüre. Die Hotelbesitzerin überreichte mir einen Brief. Auf dem Couvert stand: "Für Roger in Zimmer 12." Ich packte meine Koffer, reiste ab und fuhr weit weg. Dort konnte ich in aller Ruhe den Liebesbrief von Brigitte lesen. Ich bin stolz, dass ich Roger und nicht Peter oder Ralf heisse.
 
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Kommentare  

Das Ende deiner kleinen Satire ist überraschend und deshalb witzig. Hinter dem Lachen steht aber ein tiefer Ernst, nämlich : wie sich manche Menschen nicht trauen auch nur irgendeine nähere Beziehung zu anderen Leuten aufzubauen.

Else08 (02.02.2012)

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