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6 Seiten

Nikolas - Erstes Kapitel

Romane/Serien · Schauriges
© Jingizu
Erstes Kapitel

Storebro, Schweden - August 1996

Es war meine erste Reise in das Land von Köttbullar und Astrid Lindgren und wenn auch nicht meine Letzte, so doch diejenige, welche mir wohl am meisten bedeutete.
Storebro ist ein kleines, buntes Dorf im Süden der skandinavischen Halbinsel. Es liegt unweit von Vimmerby, der Geburtsstadt der bereits erwähnten Schriftstellerin, was jedoch kein Grund für meine Reise in diese Region war. Ich bin kein typischer Tourist, sondern eher ein Freund der einsamen Studien und welches Land wäre da besser geeignet als Schweden, welches gerade einmal 10% der Bevölkerungsdichte Deutschlands besitzt.
Dies Dörflein mit etwa 1000 Einwohnern liegt in der Landskap Smaland, welche mit ihren skandinavischen Nadelwäldern, den großen Seen und weiten Mooren ein herrliches Naturschauspiel bietet. Schwedische Sommer sind kurz und Mittsommer war schon lang vorbei. Die sonst vor Grün berstende Sommerlandschaft musste sich langsam den immer kälter werdenden Nächten geschlagen geben und die Sonne, welche in Nordschweden zu Mittsommer nicht einmal untergeht, war wieder gezwungen sich des Nachts hinter hohen Wipfeln der omnipräsenten Nadelbäume zu verstecken. Doch noch immer waren die Wiesen weit, die Bäume grün und das Leben der Einheimischen voll Heiterkeit und schwedischer Unbeschwertheit.
Ich genoss die ruhigen Tage in meiner kleinen Ferienwohnung am Rande der Stadt und pflegte dabei noch immer dieselben Rituale, die ich mir in meiner Jugend angewöhnt hatte.
Sie wissen es vielleicht nicht, aber zu meiner Zeit war ich ein recht erfolgreicher Kampfsportler gewesen. Judo, Boxen, Kickboxen. Suchen Sie es sich aus, ich kann Ihnen gern einen ganzen Ordner voll Urkunden vorzeigen, die ich im jeweiligen Sport errungen habe, aber seit den 90ern kämpfte ich nicht mehr.
Meine Jugend war vorbei. Ich war gut gewesen, aber eben nicht so gut, dass ich es an die Spitze geschafft hätte und so verlief sich alles einfach irgendwann im Sande. Doch das Training habe ich nie aufgegeben. Noch immer laufe ich etwa sechzig Kilometer in der Woche, stemme Gewichte, halte mich fit… es gibt mir den Ausgleich zu den Stunden, die ich reglos über Bücher gebeugt verbringe und ich glaube auch daran, dass es mich jung hält.
Es ist ein unbeschreiblich schönes Erlebnis durch einen gerade frisch erwachenden Wald zu laufen, wenn die ersten Sonnenstrahlen durch das Blätterdach brechen. Rotwild grast in der Nähe und sobald es deine Schritte hört, beobachtet es dich aufmerksam, jederzeit bereit mit langen Sätzen durch das Unterholz die Flucht zu ergreifen. Auf Pfaden, die du nie finden und beschreiten könntest.
Jemand hat einmal geschrieben, dass sich der Mensch die Erde untertan machen solle. Ich bezweifle, dass dieser jemand jemals wie ich einen König des Waldes gesehen hatte. Es war genau damals in diesen Nadelwäldern, als ich aus purem Erstaunen in meinem Lauf innegehalten hatte, um einen majestätischen Hirsch zu betrachten, der ohne Furcht in meine Richtung blickte. Er sah mich an, als war ich der Eindringling in seinen Forst, dem er es ausnahmsweise erlaubte in einiger Entfernung zu passieren.
Dieser Schreiberling hat nichts von der Welt und ihrer vielfältigen Schönheit gesehen, nicht wie der Adler in aller Ruhe seine Kreise am Himmel zieht, hat nicht gehört, wie der Wolf sein Lied singt… Es sind so viele wunderbare Dinge die man weder besitzen noch beherrschen kann. Nie hat der Mensch seine Rolle in der Welt schlechter interpretiert, als an dem Zeitpunkt, an dem er sich ihr Herrscher wähnte.
Zwischen all dem was war und was sein wird sind wir nur Besucher, nur Gäste in einem wundervollen Zauberland, welches wir durch Irrglaube und Größenwahn für uns selbst und all die anderen Gäste fast zerstört haben…
Und so flog die erste Woche meines Urlaubs mit all ihren Wundern dahin wie ein Falke, dem man mit dem bloßen Auge kaum folgen konnte.
Es war dann am Donnerstag in der zweiten Urlaubswoche, als ich gerade von meinem morgendlichen Lauf zurück zu meiner Wohnung kam, als ich den weißblauen Wagen der Polis, der schwedischen Polizei, vor meiner Tür entdeckte.
Noch bevor mir das Recht auf eine Dusche zugestanden wurde, übersetzte mir die Wirtin kurz und knapp, dass ich den Herren bitte auf das örtliche Polizeirevier folgen möchte, da sie einige Fragen an mich hatten.
Mein Schwedisch beschränkt sich unglücklicherweise auf ein paar winzige Kommunikationsbrocken, die mich nach der nächsten Toilette oder einem Restaurant fragen lassen und so verbrachte ich die kurze Fahrt in dem Streifenwagen in stillem Unbehagen. Die Polizisten, des Deutschen oder Englischen ebenfalls nicht mächtig oder willig, verhielten sich ebenfalls sehr schweigsam.
In den Blicken die sie mir zuwarfen lag weder eine Anschuldigung noch diplomatische Freundlichkeit, aber es war auch ohne Worte nicht zu übersehen, dass beide Männer vor innerer Unruhe kaum ruhig auf ihren Sitzen bleiben konnten. Der Beifahrer rutschte angespannt hin und her und alle paar Minuten griff er zum Holster seiner Waffe, um sich zu beruhigen. Der Fahrer kaute nervös auf Kaugummi und Fingernägeln zugleich. Es war offensichtlich, dass er erst vor Kurzem das Rauchen aufgegeben hatte und ein kürzlich aufgetretenes Ereignis ihn wieder aus der Bahn geworfen und zurück in die Fänge der Sucht getrieben hatte.
Storebro besaß keine eigene Polizei, weshalb wir den ganzen Weg bis nach Vimmerby fuhren. Ich staunte nicht schlecht, als wir am Revier ankamen. Das kleine Gebäude war umringt von einem Menschenauflauf, welcher einem Stadtfest ähnelte. Männer jeden Alters standen bis zur Tür hinaus Schlange, trampelten ungeduldig von einem Bein auf das Andere und tuschelten mit ihren Vor- und Hintermännern. Die Wenigsten schienen besorgt, sondern eher wütend darüber, so lange hier im Ungewissen stehen zu müssen.
Man stellte mich ebenfalls draußen ab und ich verbrachte eine Stunde zwischen vor sich hin murmelnden Schweden, bis ich in der Reihe soweit vorgerückt war, dass ich auch endlich im Haus stand. Mein Vordermann hatte sich einmal zu mir umgedreht und mich etwas gefragt. Seit ich ihm auf Deutsch geantwortet hatte, dass ich ihn nicht verstand, wurde ich nicht weiter von den mich umgebenden Personen beachtet.
Es dauerte insgesamt drei Stunden, bevor ich an der Reihe war und von der ganzen Zeit blieb mir nur ein einziges Erlebnis im Gedächtnis. Ich war an diesem Morgen etwa acht oder neun Kilometer gelaufen und stand nun bereits zwei Stunden vor und in einem Polizeirevier. Meine Füße schmerzten und ich lehnte mich an die Wand, um sie zu entlasten. Die Tür zu einem der Büros war nicht ganz geschlossen und von meiner Position in der Warteschlange konnte ich einen kleinen Blick in das Zimmer werfen.
Ein Kommissar und ein älterer Mann in abgetragener Jägerkluft lieferten sich ein Streitgespräch, das an Lautstärke kaum zu übertreffen war. Natürlich verstand ich kein Wort, aber beide Männer schienen gleichsam wütend und frustriert. Der Alte war… nett ausgedrückt ein seltsamer Kauz. Dem verfilzten Bart nach zu urteilen, hatte er sich seit den 70ern nicht mehr rasiert und sowohl er als auch seine Kleidung waren so schmutzig, als ob er den ganzen Morgen und die Nacht davor im Wald herumgekrochen war. In seinem rechten Mundwinkel hing eine dicke, nicht angezündete Zigarre, die er trotz der lauten Worte nicht von den Lippen verlor. Er trug eine dicke, unpassende Hornbrille, die sein beinahe irres Gesicht nur noch weiter entfremdete. Anders als die meisten Jäger war er jedoch nicht sonnengebräunt sondern bleich wie der Mond, abgesehen von der Zornesröte, die ihm gerade im Gesicht stand.
Leider schob mich mein Hintermann bereits weiter nach vorn, bevor ich das seltsame Schauspiel weiter verfolgen konnte.
Nach einer weiteren halben Stunde betrat ich dann das stickige, kleine Büro von Kommissar Sundberg. Ich hab seinen Vornamen vergessen, aber vielleicht hat er ihn auch gar nicht genannt.
Es folgten ein paar schnell heruntergeratterte schwedische Sätze, deren Bedeutung sich mir nicht erschloss. Als er mich danach verständnislos ansah, rezitierte ich mit „Jag talar inte svenska.“ einen der wenigen Sätze, die ich mir vor Beginn der Reise angeeignet hatte. Man hatte mir zwar gesagt, dass es so viel bedeutet wie „Ich spreche kein Schwedisch.“, aber dem Gesichtsausdruck des Mannes mir gegenüber zu urteilen, hatte ich gerade seine Frau, Kinder oder vielleicht auch Mutter aufs Tiefste beleidigt.
Es vergingen einige lange, schweigsame Momente, in denen ich mich von Sekunde zu Sekunde immer unwohler fühlte. Ich konnte dem Kommissar ansehen, dass er in der Zeit einen innerem Kampf ausfocht und ich hoffte nur, dass die vernünftige Seite ihn gewinnen würde.
„Bitte setzen Sie sich.“, forderte er mich schließlich in schlechtem Schulenglisch auf.
Etwas erleichtern nahm ich ihm gegenüber am Tisch Platz. Der Raum war viel zu klein für all die Ordner und Aktenkartons, die sich in ihm stapelten. Ordnung schien hier schon seit Jahrzehnten nicht mehr geherrscht zu haben und die frisch aufgekommene Hektik hatte alles nur noch verschlimmert. Der Mann nippte an seiner vielleicht zehnten Tasse Kaffee obwohl es noch nicht einmal Mittag war. Augenringe und eine ungepflegte Frisur zeugten davon, dass dieser Mann seit den frühen Morgenstunden auf den Beinen war und sich ebenfalls nicht einmal Zeit für eine Dusche genommen hatte.
„Herr…“, er durchwühlte einen Stapel Unterlagen, aber konnte wohl nicht das richtige Dokument finden.
„Krauser. Nikolas Krauser.“
„Herr Krauser vielen Dank für Ihr Erscheinen. Wir haben nur ein paar Fragen an Sie.“
„Schießen Sie los.“, ich lächelte ihm zu, da ich so schnell wie möglich hier fort wollte, um endlich ein Bad zu nehmen und frühstücken zu können. Ich hätte das vielleicht unterlassen sollen, denn etwas an meiner freundlichen Geste machte ihn sofort misstrauisch.
„Sie sind Tourist? Aus Deutschland?“
„Ja. So in etwa.“
„So in etwa?“, seine Augenbrauen zogen sich zusammen und ich schluckte schwer. Ich musste aufhören diesem Mann noch mehr Brocken für seine Verdächtigungen zuzuwerfen.
„Ich meine: Ja. Ich bin ein Tourist.“
„Würden Sie mir bitte den genauen Grund Ihres Aufenthalts verraten?“
„Nun… ich mach hier Urlaub. Ich genieße die Seen, die Wälder… ich war in Astrid Lindgren´s Värld…“
Bei dem letztgenannten handelt es sich um einen kleinen Freizeitpark außerhalb der Stadt, in welchem man von der Villa Kunterbunt bis hin zu Ronjas Räuberburg alles besichtigen kann.
„Ein schöner Park. Sie waren allein da?“
„Ja.“
„Ohne Kinder? Es ist eher ein Park für die ganze Familie und die Häuser sind für Kinder gebaut.“
„Ich mochte ihre Bücher und Erzählungen und wollte mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen, wenn ich schon einmal in der Nähe bin. Außerdem bin ich gern unter Kindern.“
„Ja.“, er lächelte zum ersten Mal in unserem Gespräch. „Kinder sind etwas Wunderbares… mögen Sie Kinder Herr Krauser?“
„Natürlich. Wer nicht?“
„Ja. Da haben Sie Recht. Haben Sie selber Frau und Kinder?“
„Ich ähm… nein, aber ich weiß jetzt wirklich nicht, weswegen Sie mich so etwas alles fragen.“
„Nur Geduld Herr Krauser. Wir sind hier gleich fertig. Laut meinen Aufzeichnungen wohnen Sie in Storebro.“
„Genau. Dort hab ich eine Ferienwohnung.“
„Ein schöner Ort.“, nickte er und lächelte sympathisch.
„Das stimmt.“
„Aber warum gerade dort? Warum nicht hier im schönen Vimmerby. Hier können Sie besser einkaufen, es gibt viele Touristenattraktionen direkt vor der Haustür. Warum also Storebro?“
„Das hat keinen besonderen Grund… ich mag die Abgeschiedenheit. Die Ruhe in dem Dörfchen.“, sein Gesichtsausdruck verriet mir, dass ich schon wieder etwas gesagt hatte, dass ihm nicht geheuer war.
„Sie sind gern für sich allein Herr Krauser? Ungestört.“
„Ich… ja, das kann man so sagen.“
„Ohne Frau und Kind, fernab der Heimat in einem kleinen Dorf in Schweden umringt von tiefen Wäldern und großen Seen.“
„Nun ja… ja.“
„Und Sie sind seit neun Tagen in unserem Land, wenn ich das richtig gelesen habe.“
„Auch das ist korrekt.“
„Nun dann möchte ich Sie bitten, mir kurz zu folgen.“, er betätigte die Sprechanlage und hielt ein kurzes Gespräch auf Schwedisch mit der Person am anderen Ende der Leitung.
Sein siegessicheres Lächeln verunsicherte mich. Ich schwitzte erneut und fühlte mich mit einem Mal sehr unwohl in meiner Haut.
„Wohin?“
„Bitte folgen Sie mir einfach Herr Krauser.“, er stand auf und schlängelte sich an meinem Stuhl vorbei, um die Tür zu öffnen.
„Nein.“
„Pardon?“
„Nein ich gehe hier keinen Schritt, bevor Sie mir nicht sagen, was hier los ist.“
„Das wissen Sie doch besser als ich.“
„Nein ich… weiß gar nicht, war Sie von mir wollen.“
„Na schön.“, seine linke Hand ruhte auf der Türklinge, während seine Rechte nach dem Paar Handschellen tastete, welches ihm am viel zu engen Gürtel hing. „Machen wir es kurz. Seit Sie hier in unserem Land sind, gab es in den umliegenden Dörfern drei Kindesentführungen. Das sind drei mehr, als wir in den letzten zehn Jahren hatten und Sie sind gern allein im Wald wo man Sie nicht kennt, Sie lieben Kinder… Sie verstehen also unsere Besorgnis.“
„Also Sie… verdächtigen mich, dass ich…“, stammelte ich sprachlos.
„Es ist in unser aller Interesse, dass Sie mir zum Labor folgen, wo wir einen Mundhöhlenabstrich machen, wenn Sie gestatten. Es sei denn natürlich, Sie haben etwas zu verbergen.“
 
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Kommentare  

Uff, da bin ja fürs erste erleichtert, dass die schwedische Polizei gleich eine Speichelprobe deinem Prota entnehmen will. Da müsste sich eigentlich so einiges klären. Hat sich wieder sehr schön locker und flüssig gelesen und spannend wars natürlich obendrein.

doska (05.06.2012)

So, nach dem ersten Kapitel kann ich immer noch nicht viel dazu sagen.
Aber dieser Kommissar ist ja sehr schnell mit Verdächtigungen bei der Hand.


Tis-Anariel (05.06.2012)

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