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Der Mond und der See (Zen-Fabel)

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Der Mond und der See

Seit Menschengedenken trat der Mond am Abend über die Wipfel der Tannen hervor und erleuchtete den See. Er schien um des Scheinen Willens. Nie dachte er auch nur einen Augenblick daran, was und wen er mit seinem Licht erfreute.
Ebenfalls seit Urzeiten lag der See zwischen den Tannen und spiegelte die Welt auf seiner Oberfläche. Am Tag war es die Sonne, die hell erleuchteten Bäume, die Tiere, die sich an seinem Ufer zum Trinken nieder ließen und die Menschen, die in ihm badeten. In der Nacht war es der Mond, die Sterne und die Schatten. Nie dachte er auch nur einen Augenblick daran, wen und was er spiegelte. Dennoch nahm er wahr, wie die Menschen sich freuten, wenn sie ihr Spiegelbild betrachteten. Mit Genugtuung beobachtete er, wie sich manche Frau und mancher Mann zurecht machten. Und jedes Mal sahen die Menschen, die sein Ufer verließen, viel hübscher aus, als wie sie gekommen waren.
Eines Abends, der See weiß gar nicht mehr, wie es eigentlich dazu gekommen war, putzte sich der See im letzten Licht der Sonne mächtig heraus. Er zog sein am meisten glitzerndes Kleid an und verbannte alle Wellen von seinem Ufer.
Darauf konnte er es kaum noch erwarten.
Voller Anspannung blickte er zu den Wipfeln der Tannen.
Dann endlich trat die langersehnte, gelbe Kugel des Mondes hinter den Bäumen hervor und war postwendend auf seiner Oberfläche zu sehen.
Wie schön er sich spiegelte.
Der See war entzückt, wie sein Glitzerkleid jetzt erst recht zu funkeln begann und ertappte sich bei dem Wunsch, dem Mond von Herzen gerne zu gefallen.
Der Mond hingegen hatte in dieser Nacht die Veränderung des Sees gar nicht wahr genommen.
Erst als der See in der nächsten und auch der übernächsten Nacht so fein herausgeputzt war, wurde er auf diese ungewöhnliche Situation aufmerksam. <Was hat das zu bedeuten?>, fragte sich der Mond, <Nie zuvor gab es drei Nächte in Folge, dass den See nicht eine Welle trübte. Fast ist mir, als mache der See das extra, damit ich mich besser in ihm spiegeln kann>.
Um dieses zu testen, beschloss der Mond, am nächsten Tag etwas früher zu kommen und sich erst noch hinter den Bäumen zu verstecken und den See zu beobachten.
So kam es, dass er am nächsten Abend längere Zeit vorsichtig aus seinem Versteck hervorlugte.
Und richtig, wie er vermutet hatte, sah er im Abendlicht der Sonne den See sich herausputzen und danach sehnsuchtsvoll nach Osten blicken. Das gefiel ihm gar nicht. Was hatte der See vor? Warum war er aus seiner Zurückhaltung hervorgetreten und fing an, sich auf den Mond zu beziehen? Warum konnte er die Welt nicht sein lassen, wie sie seit Millionen Jahren war? Die ganze Zeit hatte es ausgereicht, dass es ihn am Himmel und den See unten auf der Erde gab, ohne dass sich einer um den anderen kümmerte.
So beschloss der Mond, seinen großen, schwarzen Mantel über zu ziehen, dass der See ihn nicht mehr erkennen möge.
Der See war erschrocken, als die Stunde des Mondes schon längst verstrichen, aber seine gelbe Scheibe nicht am Firmament zu sehen war. Erst dachte er, der Mond sei krank und half sich mit dieser Ausrede über die Enttäuschungen der nächsten Nächte hinweg. Dann wurde er aber misstrauisch und beschloss in der Folgenacht, den Himmel ganz konzentriert zu beobachten.

Und da, es war fast schon früher Morgen, da sah er ganz kurz ein leichtes gelbes Aufleuchten im Westen. Der Mond hatte einen Augenblick nicht auf seinen Mantel Acht gegeben, so dass es dem Wind gelungen war, den schwarzen Stoff für ein paar Sekunden anzuheben.
Als der See erkannt hatte, dass der Mond ihn täuschte und ihm absichtlich sein Licht verwehrte, damit sein schönes Kleid nicht funkeln und strahlen konnte, wurde er sehr wütend auf den Erdtrabanten.
So waren zwei Wochen ins Land gegangen, in denen der Mond sichtlich zufrieden mit seinem Versteckspiel war. Doch eines späten Nachmittags, als er gerade dabei war, seinen schönen Mantel zu bügeln, fiel eine Heerschar an Rittern über ihn her, um ihn diesen zu entreißen. Alleine konnte er nicht lange dieser Übermacht stand halten und musste schweren Herzens mit ansehen, wie diese Ritter ihm seinen Mantel stahlen und zur Erde schleppten.
Natürlich hatte er sofort den See als Auftraggeber dieser Raubritter in Verdacht.
Der See hingegen war sichtlich vergnügt und hoch erfreut, als die gelbe Scheibe des nachts wieder am Himmel stand. Ein frohes Lied singend tanzte er die ganze Nacht zwischen den Tannen herum und gefiel sich außerordentlich in seiner Pracht.
Das wiederum missfiel dem Mond aufs Äußerste. Jede Nacht verdoppelte sich sein Ärger auf den See. Wütend darüber, dass der See jede Nacht seine Freudentänze machen konnte und voller Miesgram, dass dieser See ihn besiegt hatte, beschloss er, ebenfalls Raubritter anzuheuern, die dem See seinen Mantel wieder wegnehmen sollten.
Der See hingegen hatte mit diesem Schachzug gerechnet und eine sehr große Armee zum Schutz des Mantels aufgestellt, so dass die Ritter des Mondes in der ersten Schlacht herbe Verluste hinnehmen und unverrichteter Dinge zurückkehren mussten.
Als der Mond erkannte, dass der See mit brutaler Waffengewalt alleine nicht zu besiegen war, schickte er mehrere Einzelkämpfer aus. Heimlich vergifteten diese die Brunnen der Soldaten.
Schlagartig war die Streitmacht des Sees so dezimiert, dass es den Heeren des Mondes ein Leichtes war, in das Reich des Sees einzudringen und sich seinen Mantel zurück zu holen.
Jetzt wurde der See richtig böse auf den Mond. In vielen Höhlen ließ er riesige Waffen schmieden. Ein Reich nach dem anderen ließ er überfallen, um sich das Geld zu besorgen, das seine Aufrüstung verschlang.
Und da der Mond ihm in nichts nach stand, hatten die beiden im Handumdrehen die Welt in einen riesigen Krieg geführt. Lachen, Frohsinn, Musik und Tanz war auf dem ganzen Erdball nicht mehr zu hören. Stattdessen nur Weinen, Wehklagen, Schmerzensschreie und das metallene Klappern der Schwerter.

Mit Schrecken musste der Nordstern zusehen, wie sich der Mond und der See immer weiter verwandelt hatten, wie sie sich immer mehr in einen Hass auf den anderen hineingesteigert hatten, bis letzten Endes alles still wurde.
Totenstill.
Die Städte waren zerstört, die Burgen geschliffen, die Dörfer und Felder verheeret und der Wald gerodet.
Im See lagen die umgestürzten Bäume und vermoderten. Trüb war sein Wasser, faulig sein Gestank. Ein Spiegelbild brachte er nicht mehr zu tage. Nachts war er von den Wiesen und Äckern kaum mehr zu unterscheiden.
Nun könnte man glauben, dass der Mond zufrieden mit seinem Sieg sein müsste. Aber der Nordstern sah, dass dem nicht so war. Nie zuvor hatte er den Mond so traurig über den Himmel ziehen sehen. Und wenn er einmal schlief, hörte der Nordstern den Mond in seinen Alpträumen reden und weinen. Sein Gewissen plagte ihn sehr. Und er hätte tausend Mäntel hergegeben, könnte er die Erde aus dieser Wüstenei wieder heraus führen.
Aber diese Macht war ihm nicht gegeben.

<Wäre der Mond nur bei sich geblieben>, schlussfolgerte der Nordstern, <bei seiner Natur, des nachts zu scheinen, ohne sein Handeln auf den See zu beziehen – und wäre der See nur bei sich geblieben, bei seiner Natur, alles zu spiegeln, was über ihm ist, ohne sein Handeln auf den Mond zu beziehen, so wären beide mit sich und der Welt in Frieden geblieben.
So wäre die Welt in Frieden geblieben>.
 
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Zwei Fabeln, die einen nachdenklich machen. Gerne gelesen.

Evi Apfel (23.12.2014)

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