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10 Seiten

DER HIMMEL UEBER ROM, Teil 18 - HONIG UND STACHELN

Romane/Serien · Nachdenkliches
Die ersten Kunden ließen nicht auf sich warten. Ein wohlbeleibter Mann erklomm schwitzend die vielen Stufen zu ihrer Wohnung. Es handelte sich – wie sie schließlich aus ihm herausbekam – um einen Sklaven aus Latium, das war die Region, die sich um Rom herum erstreckte und von der die Römer ihre Sprache bezogen, nämlich das Latinische. Er befürchtete, dass sein Herr ihn loswerden wollte, weil er letztens krank gewesen war. Vermutlich war der feine Römer zu geizig, um diesen Sklaven durchzufüttern und zudem noch von einem Arzt behandeln zu lassen. Der Kaiser hatte nämlich strenge Regeln aufgestellt: Kein Sklave durfte ausgesetzt oder getötet werden, nur weil er krank war. Natürlich hielt sich kaum einer an diese Gesetze, es gab immer ein Schlupfloch, um sie zu umgehen. Und sei es auch nur die Androhung eines dieser illegalen „Krankenhäuser“, in denen Sklaven angeblich behandelt wurden – und wo sie entweder gesundeten oder starben. Telemach, so hieß der Wohlbeleibte hatte daraufhin Angst bekommen. Er war zwar von allein wieder gesund geworden, aber so eine Krankheit konnte doch immer wieder vorkommen, und sein Herr war ein grausamer Herr… Also hatte er sich nach furchtbarer Gewissensqual und vor allem aus Angst vor der Zukunft zur Flucht entschlossen.
„Verfügst du denn über besondere Fähigkeiten?“, fragte Vanadis den Telemach.
„Am besten kann ich“, dabei nickte dieser bestätigend, „mit Bienen umgehen, man nennt mich den besten Imker von ganz Latium. Aber mein Herr ist wohl der Meinung, dass neu Angelernte das genauso gut erledigen können. Und da gibt es auch schon jemanden, dem ich mein Wissen übereignen soll.“ Bei diesen Worten sah er traurig aus. „Aber so ist das nun mal im Reich. Und leider kann ich dich nur mit Honigwaben bezahlen, damit allerdings in reichlicher Zahl…“
Vanadis musste in sich hineinlächeln. Der gute Telemach hatte vorgesorgt, genauso wie sie selber. Sie überlegte. Das lief wohl auf ein Tauschgeschäft in Naturalien hinaus. Nur… was sollte sie mit Honigwaben anfangen? Geld wäre ihr viel lieber gewesen. Aber Honigwaben waren auch nicht schlecht für den Anfang. Und vielleicht würde der Telemach ja Reklame für sie machen – falls die Rolle ihr gelang.
„Ich tue es“, sagte sie entschlossen. „Honig ist nicht schlecht, jedenfalls ist er unbegrenzt haltbar, und wir werden schon was mit ihm anfangen können.“ Ja, dachte sie bei sich, wenn ich nur wüsste was…
Natürlich geriet der Freigelassenen-Brief gut, und so fing ihr Geschäft an. Telemach, ihr erster Kunde empfahl sie weiter. Manche ihrer Kunden bezahlten sie mit Wein, manche mit Papyrus und andere sogar mit Geld. Und als der Herbst in Rom einzog, da hatte sie ihren Status als Fälscherin gefestigt und sah der Zukunft gefasst entgegen. Zumindest das Finanzielle war geklärt, falls es so weiterlief wie bisher. Nur die Angst, dass jemand nach ihr suchte, machte ihr immer noch zu schaffen. Und auch die Hitze, die immer noch in Rom herrschte. Und dabei war es doch schon Herbst.
War es im Haus des Marcus auch so heiß gewesen? Nein, es lag ja auf einem der legendären Hügel Roms, und auf dem Viminal war es kühler im Sommer gewesen und wunderbar im Frühling. Nein, nicht dran denken, vor allem nicht an das Schlafzimmer des Marcus, da war es Frühling gewesen. Nein, nicht Frühling in diesem Schlafzimmer, draußen, nur draußen…
Sie vermisste ihre Freunde. Wie ging es ihnen jetzt ohne die Herrin? Und wie ging es der Colonia? Ohne ihre Mutter.
Wie blind lief Vanadis in ihrem winzigen Zimmer herum, dachte an die Vergangenheit, an Swari, die Verführerische, an Terehasa, die nubische Königin, an Bobum, der nicht wusste, was er war, an die schönen stummen Brüder, die sich so liebten. Dann an die Sidonia. Sie sah, wie sie sich in ihrem riesigen Metallspiegel bewunderte. Einmal hatte sie sich selber in das Zimmer geschlichen und sich in diesem Spiegel betrachtet, sie sah eine Frau mit hellen Haaren und gleichmäßigen Gesichtszügen darin, ihre Augen, die konnten grün sein, doch der Spiegel konnte auch lügen, ihre Gestalt war schlank, sie war keine Schönheit, jedenfalls nicht so eine wie die Sidonia. Doch die war nun tot. Sie dachte an die Antonia Caenis, sie war doch ihre Herrin. Bitte, bitte, verzeih mir, Caenis! Ich bewundere dich doch und möchte so sein wie du. Sie dachte an die kleine Colonia. Hatte sie ihr das Fortlaufen verziehen? Ach Loni, ich wollte dir auf keinen Fall wehtun, ich konnte aber nicht anders… Und zum Schluss tauchte Marcus auf. Marcus, dieser Stachel in ihrem Fleisch! Dennoch gelang es ihr nicht, den Gedanken an ihn zu verdrängen. Er war da. Er war immer da. Er war in ihr, denn sein Kind war in ihr. Sie stöhnte auf.
*~*~*
Mittlerweile hatte sie auch die scheue Nachbarin unter ihr kennengelernt. Es war die, welche manchmal in der Nacht schrie. Und oh Wunder, sie stammte aus einem Ort, der nicht weit von Vanadis’ Heimat im Chattenland lag. Gotilde, so hieß sie, lebte vollkommen illegal in Rom, war weder Sklavin noch Bürgerin. Und sie hatte eine lange Geschichte: Ihr Dorf wurde überfallen, ähnlich wie das von Vanadis, aber als die Sklavenhändler sie nach Rom bringen wollten, konnte sie unterwegs fliehen. Sie landete in einem Bleibergwerk, dort musste sie als Hure den anderen Sklaven zur Verfügung stehen. Und natürlich auch den Aufsehern. Sie verliebte sich in einen der Sklaven. Er war dem Tode nahe, denn die Arbeit in den Bergwerken war gnadenlos; wer nicht an den giftigen Dämpfen bei der Bleiherstellung starb, kam in den Gruben um, manchmal wegen Luftmangel, doch die hauptsächlichen Todesursachen der Sklaven waren Unterernährung und Erschöpfung. Als Gotildes Geliebter starb, floh sie aus dem Lager – und landete in Rom. Dort bestritt sie ihren Unterhalt als freie Prostituierte, denn sie hatte Angst vor Zuhältern, die Einfluss auf sie nehmen würden.
Vanadis mochte diese Frau, sie hatte so viel Schlimmes erlebt und war trotzdem nicht verbittert deswegen. Traurig, ja das war sie, denn sie hatte mit ansehen müssen, wie ihr Geliebter starb. Seltsam, Vanadis beneidete sie um ihre Gefühle, außerdem musste sie sich immer vorstellen, wie es ihr selber ergangen wäre, wenn die Caenis sie nicht… Bei diesem Gedanken trat Marcus wieder vor ihre Augen, oh nein, der hatte nichts damit zu tun. Sie schob den Gedanken beiseite. Es war anders gelaufen, aber wie würde es enden? Hoffentlich gut, sie selber war ein Nichts, aber ihrem Kind sollte es besser gehen. Und vielleicht würde es eines Tages ein freier Bürger Roms werden.
Als ihre neue Freundin Gotilde auf einen Besuch vorbeikam, sah sie die vielen Honigwaben, die in Vanadis’ Zimmerchen gelagert waren. Ihre Augen leuchteten auf. „Honig? Du hast Honig? Ach wie gerne würde ich Met daraus machen – und ihn auch trinken…“
„Met?“, sagte Vanadis nachdenklich. Da war doch etwas… Sie musste an die Reise nach Ravenna denken und was die Caenis über Met erzählt hatte: Met machten die Germanen – es handelte sich um eine Art Gärungsprozess wie beim Bier – Honig war sein Hauptbestandteil, und es brauchte viel Zeit, ihn herzustellen. Met war schmackhaft, er galt außerdem als gesund und war bei den Römern sehr gefragt. Vermutlich auch, weil er richtig gut berauschte. Jedenfalls bezahlten sie einiges dafür…
„Du kannst Met machen?“
„Oh ja, ich war bei meinen Leuten dafür sehr angesehen…“
„Dann machst du jetzt welchen!“, Vanadis fing an zu lachen. „Was brauchst du denn dafür?“
„Was ich dafür brauche?“ Das hübsche Gesicht der Gotilde zog sich in nachdenkliche Falten. „Natürlich Honig! Dann ein großes Gefäß, oder mehrere, denn falls etwas schiefgeht, hat man noch Reserven, ein paar Gewürze… und Hefe, ich glaube, die kriegt man vom Bäcker… Was noch?“, die Gotilde überlegte. „Jetzt weiß ich’s! Ein bisschen vergorene Milch und ein bisschen Fruchtsaft oder Wein. Und das Gefäß muss abgedichtet werden, also brauche ich Wachs dazu. Es muss auch eine Belüftung haben, ein Schilfrohr vielleicht oder ähnliches...“
Vanadis nickte. Das alles konnte man problemlos beschaffen. „Gut“, sagte sie. „Das machen wir! Ich habe den Honig und du das Wissen!“
Und sie machten es. Natürlich handelte es sich bei der Met-Herstellung um eine langwierige Prozedur, die an die acht Wochen dauerte, aber das Resultat erwies sich als überaus wohlschmeckend und vor allem als sehr berauschend.
Ihr Freund Schemuel verkaufte mühelos die ersten drei Amphoren an die Köche wohlhabender Römer. Und die Köche bezahlten einiges dafür.
Allmählich wurde dieser Met berühmt. Ein wahrer Erfolg! Sie kamen kaum nach mit der Herstellung. Vanadis schickte die Gotilde los, um alles an Honig einzusammeln, was sie bekommen konnte, es war natürlich von der Jahreszeit abhängig, denn im Winter hielten die Bienen ihren Ruheschlaf. Aber das Geschäft ging gut, und es war noch viel Honig übrig, um auch im Winter Met zu produzieren. Dafür mussten die Räume allerdings ausreichend warm sein. Vanadis mietete daraufhin einen winzigen Raum im Erdgeschoss an, er war erschwinglich, konnte bei Bedarf beheizt werden und wurde als Lager für die Met-Amphoren bald unentbehrlich. Aber trotz allem Gewinn war das Beste an der Sache, dass die Gotilde sich nicht mehr prostituieren musste.
Nebenbei verdiente Vanadis immer noch gutes Geld mit ihren Fälschungen. Sie machte es nicht oft, es schien ihr gefährlich zu sein. Wenn jemand damit erwischt wurde, weil der Brief als falsch erkennbar war, würde die Spur zu ihr führen. Dem Himmel sei Dank war ihr Teilhaber nicht lästig, er gab sich zufrieden mit dem, was er von ihr bekam: Das konnte Geld sein oder Wein, am meisten schätzte er jedoch den Met, schon eine kleine Amphore davon versetzte ihn in Begeisterung.
Vanadis hing ihren Gedanken nach: Bald schon würde ihr Kind geboren werden. Sie hatte Angst davor, aber sie freute sich auch darauf. Doch sie musste noch etwas tun, sie kam nicht dagegen an, obwohl es total verrückt war.
*~*~*
Das Haus des Marcus zieht sie an, sie will das nicht, trotzdem schleicht sie sich manchmal in seiner Nähe herum. Der Viminal ist ja nicht weit entfernt. Warum tut sie das? Bestimmt nicht um den Marcus zu sehen, ganz im Gegenteil, sie hofft, dass er wie immer auf Kriegszügen ist. Am besten in den entferntesten Winkeln der römischen Welt.
Nein, sie will ihre Freunde wiedersehen, sie vermisst sie. Und vor allem die Colonia, ihren Liebling.
Mittlerweile ist es Frühwinter geworden – und sie selber etwas unförmig – aber sie wird sich einen Schal umwickeln, und ihr weites Kleid wird diesen Zustand überspielen. Natürlich möchte sie nicht, dass jemand etwas von ihrer Schwangerschaft bemerkt. Und vor allem möchte sie nicht lügen, wenn man sie nach dem Vater des Kindes fragt, nein, das geht gar nicht, sie würde bestimmt rot werden vor Verlegenheit, und nein, nein, das will sie nicht.
Trotzdem dauert es Tage, bis sie sich sicher ist und den Besuch wagt. Er ist nicht da, der Herr des Hauses ist wirklich nicht da.
Zaghaft klopft sie an die Türe, und die üppige Terehasa macht ihr auf. Zuerst starrt die Frau aus Nubien sie fassungslos an, doch dann fängt sie an zu lachen und schließt Vanadis in ihre breiten Arme. Und Vanadis fühlt sich wohl dort, es ist selten, dass sie Trost bekommt, denn normalerweise ist sie es, die Trost gibt. An den alten Mann zur Rechten, der aussieht wie ein mit Muscheln besetztes Schiffswrack, nur dass er stattdessen über und über mit Warzen und dunklen Flecken übersäht ist. Er ist aus einer Bleimine entflohen, er ist sterbenskrank, kein Arzt kann ihm helfen, und er hat keine Verwandten, die ihn dabei begleiten werden.
An die junge verzweifelte Frau, die zwei Stockwerke tiefer wohnt, auch sie bekommt ein Kind, und obwohl sie eine Bürgerin Roms ist, fühlt sie sich allein.
An ihre Freundin Ladonia, auch eine Bürgerin Roms, die von allen verlassen wurde, nur vom Kaiser nicht…
Über ihr gibt es allerdings niemanden, der ihre Hilfe braucht, denn sie wohnt schon im obersten Stock. Manchmal ist das unangenehm, denn es regnet durch die Decke hindurch. Sie hat schon überlegt, ob sie sich etwas Besseres leisten kann. Eine schönere Wohnung am Rande der Stadt vielleicht. Doch noch ist ihre Lage zu unsicher, und so wird es auch immer bleiben als entlaufene Sklavin. Gut, das Geschäft läuft, doch kann man sich darauf verlassen? Nein, also erst einmal dort wohnen bleiben und Geld sparen für schlechtere Zeiten.
Aber nun ist sie wieder daheim. Wer hätte gedacht, dass sie dieses Haus jemals als ihr Zuhause ansehen würde? Sie selber bestimmt nicht.
„Wie geht es dir?“ – „Wo wohnst du?“- „Hast du Arbeit?“- „Warum bist du weggelaufen?“ All diese Fragen stürmen auf sie ein, und sie weiß nicht recht, was sie darauf antworten soll.
„Mir geht es gut“, sagt sie.
Die anderen schauen sie neugierig an.
„Ich wohne jetzt in der Subura.“ Alle schauen sie stumm und vor allem entsetzt an.
„Es ist gar nicht so schlimm dort.“ Die anderen entspannen sich daraufhin und schauen sie interessiert an. Natürlich sind sie neugierig, denn die Subara ist der übelst beleumdete Stadtteil von Rom.
„Und ich habe Arbeit. In einem Betrieb, der Urkunden macht.“ Ist das jetzt gelogen? Nur ein bisschen, sie hat ihren eigenen Betrieb und macht selber Urkunden, lebenswichtige Urkunden. Gute Fälschungen davon…
Nach einem kurzen aber gedankenvollen Schweigen bricht bei ihren Freunden Enthusiasmus aus:
„Ich habe es doch gewusst!“, jubelt Swari triumphierend. „Vanadis kann es, Vanadis schafft es!“
„Ich wusste das auch“, Bobum ist wie immer knapp in seiner Ausdrucksweise.
„Ich bin so froh darüber!“ Wieder wird sie von Terehasa umarmt, und wieder fühlt sie sich bei ihr geborgen.
Sie braucht im Augenblick Nähe, denn sie hat Angst. Bald wird es soweit sein, bald wird ihr Kind zur Welt kommen. Und sie kann nur hoffen, dass alles gut läuft und dass, wenn es nicht gut läuft, sie Hilfe haben wird. Fast kommen ihr die Tränen, aber sie wischt sich heimlich über die Augen und hofft, dass keiner etwas davon bemerkt.
Sie befreit sich sachte aus den Armen der Nubierin und fragt leichthin, wie sie meint in die Runde: „Und was ist hier in der Zwischenzeit passiert? Wie kommt ihr ohne die Sidonia klar? Gibt es etwas Neues?“
Eigentlich will sie wissen, ob Marcus vielleicht neu geheiratet hat. Dann könnte sie nämlich mit ihm abschließen. Wie dumm! Abschließen? Womit? Was denkt sie sich eigentlich? Da war doch nie kein Anfang. Marcus ist ein Römer, außerdem ein Ritter mit Privilegien, mit dem hat sie nichts zu schaffen. Er hat die Sidonia geheiratet, diese furchtbare Frau, und er hat sogar versucht, sie zu retten. Und das zwei Mal! Das ist krank, das geht nicht. Aber dennoch… Verdammt Vanadis, die Schwangerschaft macht dich empfindlich, höre nicht drauf, das sind alles nur Spinnereien…
Stimmen werden laut, sie hören sich wahrhaft nicht traurig an, es ist eher ein Gemisch aus Erleichterung und höhnischer Genugtuung:
„Ich bin froh, dass sie tot ist“, Swaris Stimme klingt freudig.
„Ich habe die Schlampe verachtet!“, das kommt von Terehasa.
„Sie hat es verdient“, sagt Bobum.
Die beiden stummen Sklaven versuchen auszudrücken, was sie denken über den Tod der Herrin, und durch ihre Grimassen hindurch erkennt Vanadis, dass auch sie froh darüber sind. Wer ist eigentlich nicht froh darüber? Außer natürlich Marcus, der saubere Ehemann.
„Sie ist – oder vielmehr war – die unwürdigste Herrin, die ich jemals hatte. Und das ist schlimm bei all diesem miesen Abschaum von Rom“, bei diesen Worten spuckt der Koch Plejades auf den Fußboden, und Vanadis ist froh, dass sie das nicht mehr saubermachen muss. Jetzt ist sie nur noch für ihren eigenen Schmutz verantwortlich.
Alte Sachen erzählen die Freunde, sie will aber neue Sachen wissen. „Hat denn der Marcus wieder geheiratet?“, die Frage rutscht so aus ihr heraus, und fast ist sie versucht, sich die Hand nachträglich vor ihren dummen Mund zu halten. „Ich meine, weil die Colonia vielleicht eine Mutter braucht“, sagt sie schließlich lahm.
„Ach was! Die braucht keine Mutter! Und vor allem nicht so eine! Dieses Ungeheuer! Wir alle denken, dass der Herr erstmal die Nase voll hat von Ehefrauen.“
Vanadis atmet auf, sie fühlt sich erleichtert. Natürlich, sie hat Angst, dass die kleine Colonia wieder eine schlechte Mutter bekommt, eine, die sie quält und nicht zu schätzen weiß. Sie selber kann ja nicht mehr auf die Kleine achten.
Und wieder erfasst sie ein Angstgefühl. Wie lange wird es dauern, bis man sie findet? Und was wird dann mit ihrem eigenen Kind passieren? Vanadis beißt sich auf die Lippen.
In diesem Augenblick hinkt die Colonia in die Küche. Sie stutzt kurz, doch dann tritt ein freudiges Strahlen in ihre Augen, und sie stürzt sich förmlich auf Vanadis.
„Oh Vanadis, wie schön, dass du wieder da bist!“, ruft sie, während sie sich fest an sie drückt.
Auch Vanadis freut sich und hält die Kleine eng in den Armen. Sie hat sie vermisst und gehofft, es geht ihr besser, nun wo ihre Mutter tot ist. Nein, wie dumm, eine Mutter muss man doch vermissen. Auch wenn sie sich nie wie eine verhalten hat.
„Meine kleine Loni, ich hoffe, dir geht es gut“, sie fühlt die Arme der Kleinen um sich, und sie geben ihr neue Kraft. Seltsam…
„Bist du dicker geworden?“, fragt Loni sie.
Vanadis wird von Panik erfasst. Sanft schiebt sie die Tochter des Hauses von sich und überlegt sich eine Ausrede, mit der sie ihren dicker gewordenen Zustand erklären kann.
„Ach das“, sagt sie leichthin. „Meine Ernährung ist vielleicht nicht so gut, aber sie ist preisgünstig, und sie schmeckt mir…“
Colonia schaut sie aufmerksam an. Oh nein, dieses Mädchen ist so schwer zu belügen. Oder doch? Vanadis hält ihrem Blick stand, sie schauen sich fest in die Augen, und schließlich schweift Colonias Blick ab.
„Gut“, sagt sie dann, und es klingt nachdenklich, „es wird schon nichts Schlimmes sein.“
„Nein, ganz bestimmt nicht!“ Wieso kommt ihr der Tonfall dieses neunjährigen Mädchens so bedeutungsvoll vor? Ach was, das ist Einbildung, mittlerweile hat sie ja Angst vor jedem Wortfetzen in diesem Hause. Vanadis fühlt sich unsicher. Warum ist sie hierhin gekommen? Das war doch totaler Wahnsinn und überaus gefährlich.
„Und wo wohnst du jetzt?“, die Kleine schmiegt sich wieder an sie, Vanadis empfindet diese Umarmung als warm und tröstlich, und ihre Befürchtungen sind auf einmal verschwunden. Fast könnte sie anfangen zu weinen, denn sonst umarmt sie ja niemand. Die Männer, die das wollen, die schickt sie mit kurzen heftigen Worten fort. Das fehlte ihr noch, sie braucht keinen Mann, sie kommt sehr gut alleine klar. Und es scheint, als ob sie eine Art Schutzschild hat, der Männer abschreckt, jedenfalls die meisten, nur ganz dumme und unverschämte machen ihr Angebote.
„Irgendwo in der Subura“, sagt Vanadis wider ihren Willen. Eigentlich hat sie ihren Aufenthaltsort verbergen wollen, aber dieses Kind, sie liebt es nun mal.
„Ich würde dich gerne dort besuchen“, bei diesen Worten schmiegt sich die Colonia noch enger an Vanadis, und diese fühlt sich auf einmal noch mehr beschützt und getröstet. Das kann nicht sein, das ist doch nur Wunschdenken von ihr, weil sie Beistand sucht. Die kleine Loni kann ihr dabei nie und nimmer helfen, obwohl ihre Umarmungen schön sind, aber schaden kann es nicht, wenn sie ihr eine Adresse hinterlässt, denn die Loni gibt bestimmt nicht Ruhe, bevor sie diese nicht weiß.
„Es ist in der Subura, direkt hinter dem kaiserlichen Bettenbauer“, sagt sie und hält sich dann wie betroffen die Hand vor den Mund. Oh, wie gemein von ihr, denn ihre Wort sind gelogen, in Wirklichkeit wohnt sie ein gutes Stück weiter – hoffentlich weit genug. Die Colonia ist so ein kluges Kind, sie muss dagegen steuern, muss sie von ihrem Aufenthaltsort ablenken. Behutsam befreit sie sich von den Armen der Kleinen.
„Wie geht es deinem Vater?“, fragt sie. Und bedauert es im gleichen Augenblick. Der Herr des Hauses geht sie nichts an. Wie hat sie sich nur zu dieser Frage verleiten lassen, sie ist ja vollkommen außer sich. Die Schwangerschaft… Sagt man nicht, dass die Frauen in der Schwangerschaft unheimlich dumme Dinge tun? Aber ja, und nun den Mund halten.
„Es geht ihm jetzt viel besser“, die Colonia lächelt sie an, und Vanadis hat auf einmal das Gefühl, als wüsste dieses kleine Mädchen über alles Bescheid. Die Kinder Roms sind sehr spitzfindig, sie kriegen alles mit, was ihnen vorgelebt wird… Alles von menschlicher Volllust, alle Perversionen, alles von Untreue. Alles über diese Nacht, als sie mit Marcus… Oh nein, die Kleine war da! Wenn sie nun alles gehört hat. Ihre Schreie der Lust und ihr Stöhnen, als sie mit dem Markus…
Innerlich windet sie sich vor Beschämung, nein, sie will das nicht, der Teppich vor der Tür war dick genug, er hat alles verschluckt, auch die Schreie und das Stöhnen. Dafür sind Teppiche ja da…
„Ich muss nun gehen“, sagt sie gefasst und lässt sich nicht ansehen, wie viel sie diese Gefasstheit kostet. Sie zieht die Colonia an sich und küsst sie auf die Stirn.
„Och, das ist schade! Aber ich werde dich besuchen. Ganz bestimmt!“ Die Kleine hängt sich ihr an den Hals, und obwohl sie ganz schön schwer ist, genießt Vanadis das Gefühl, bis sie die Kleine schließlich sanft von sich schiebt.
*~*~*
Alle winkten ihr zu, als sie das Haus verließ. Fast musste Vanadis weinen. Dieses Haus schien ihr so sicher zu sein, jetzt wo die Herrin nicht mehr lebte. Aber Marcus würde sich bestimmt bald eine neue Frau nehmen, eine, die seine Tochter erziehen und in die Gesellschaft von Rom einführen würde. Eine, die seinem Haus vorstand. Eine, die ihn verehrte als Ehemann. Eine, die anständiger war als die Sidonia. Haha, da gab es bestimmt Tausende…
Verdammt, was dachte sie da? Es ging sie nichts an, was Marcus tat, neue Ehefrau hin, neue Ehefrau her, sie war eine Sklavin, sie war geflohen, sie lebte in der Subura, und sie kam gut damit klar. Sie hatte Arbeit, sie war erfolgreich, und sie hatte Freunde.
Und bald würde sie auch ihr Kind in den Armen halten. Sie erinnerte sich daran, wie sie es verflucht hatte am Anfang: Es wird mich behindern, es wird mich immer daran erinnern, von wem es ist, ich hasse ihn, und bestimmt werde ich es auch hassen! Ach wäre es doch nie passiert!
Doch nun verspürte sie keinen Groll mehr, sie hatte auch keine Angst mehr. Ganz im Gegenteil, sie konnte es kaum noch erwarten. Sie hatte ja sonst nichts, und dennoch hatte sie so viel. Ein Kind, es würde wunderschön sein, und sie würde es lieben und beschützen, genauso wie ihre Mutter sie beschützt hatte.
Trotzdem schlich sich der Vater des Kindes auf penetrante Weise in ihre Gedanken hinein. Nein, er hatte nichts mit diesem Kind zu tun. Es war nur aus Versehen gezeugt worden. Ein Versehen von ihm, dem Römer – aber ein Glück für sie, die Sklavin.
 
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