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4 Seiten

Über die Mumien

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
„Das bin nicht ich.“ Der Mann betrachtete das Wesen im Spiegel. Wie er, formte es mit den Lippen immer wieder dieselben stummen Worte. „Das bin nicht ich“.
Der Anblick der Kreatur ekelte ihn an. Er musste sie unbedingt loswerden. Das Wesen zog die Mundwinkel nach oben, als versuche es die Zähne zu fletschen, stattdessen präsentierte es zahnlose Kiefer. „Du kannst mich nicht aufhalten, keiner kann es.“
In seiner rechten Hand hielt er einen Stein. „Dieser Anblick“, … ein eisiger Schauer kroch seinen Rücken hinab. Der knöcherne Schädel war von einer Masse überzogen, die nur entfernt an Haut erinnerte, ausgeblichen, mit Flecken übersäht und von der Schwerkraft besiegt. Die an den Augenlidern ziehenden Tränensäcke legten Gewebe frei, das geschwollen und durchdrungen von feinen violetten Äderchen war. Weiße Haare wucherten aus den Nasenlöchern.
Sie starrte ihn an und … grinste. „Du traust dich doch nicht.“ Wie ein Kugelstoßer hob er den Stein und drückte ihn mit einer steifen Bewegung nach vorne. Sein Ellbogengelenk knackte. „Das bin nicht ich!“, schrie er lautlos.
Wie ein Meteorit schlug das Gestein in den Spiegel ein und ließ ihn zersplittern. Die Scherben fielen laut klirrend auf das Porzellan des Waschbeckens und den gekachelten Boden des Badezimmers.
Er trat einige Schritte zurück, drehte sich um und ging aus dem Badezimmer in seinen Schlafraum. Seine Gelenke schmerzten bei jedem Schritt und er fühlte im tiefsten Inneren seines Körpers eine lauernde Müdigkeit.
An den Wänden des Zimmers hingen Bilder mit lieblosen Motiven und das Weiß der Wände war so kalt, dass es ihm oft das Gefühl gab zu Eis zu erstarren.
Neben dem Fenster nahm er auf einem Stuhl Platz. Ein dunkelbrauner Stoffhund mit einem roten Halsband lag auf dem Fensterbrett. Der Mann lächelte und streichelte das Tier liebevoll.
Von seinem Sohn wurde er einst hierher auf diesen seltsamen Planeten verschleppt. An die Reise erinnerte er sich kaum, in seinen Gedanken bestand sie lediglich aus verschleierten Bildern. Nur eins wusste er noch: Sie war entsetzlich lang gewesen.
Der Planet, auf dem er jetzt lebte, war eisig und umkreiste die Sonne in einem Abstand von mehr als 10.000 Millionen Kilometern noch jenseits des Plutos. Genauso eisig wie dieser kleine Planet war das Gemüt der Außerirdischen, die er beherbergte. Sie sammelten Menschen wie Briefmarken und beraubten sie ihrer Lebenskräfte, sodass sie sich langsam in ausgedörrte Kreaturen des Schreckens verwandelten – wie diese Mumie, die ihm regelmäßig aus dem Spiegel höhnisch entgegengrinste. Und wenn er nicht bald von hier flüchtete, dann würde sie Besitz von seinem Verstand ergreifen – unaufhaltsam, bis er sich selbst nicht mehr kannte … eine Mumie wurde. Warum nur? Warum hatte sein Sohn ihn hierher gebracht?

Er sah hinaus und erschauderte: Da war wieder eine - eine Mumie. Sie trug einen Wintermantel und eine dicke Wollmütze unter der schneeweißes zottiges Haar ungebändigt hervorwucherte.
Sich auf eine Gehhilfe stützend, schlurfte sie zu einer Bank unter einem Baum, der seine blattlosen Äste wie die Arme eines magersüchtigen Kindes in die Höhe streckte.
„Johnny B.“, sagte er auf seine eigentümliche stumme Art zu dem Hund und zerdrückte ihm beinahe den Kopf, als er über ihn strich. „Heute Nacht ist es soweit. Die letzten Vorkehrungen an der Rakete, die dich zurück zur Erde bringen wird, sind getroffen. Von dort musst du mir eine größere Rakete schicken – groß genug, um einen Menschen zu transportieren. Die Adresse von Willi hütest du gut, mein Freund, nicht wahr?“
Der Mann tastete vorsichtig über eine Naht auf dem Rücken des Hundes. Darunter knisterte ein Stück Papier. Er lächelte. Ein Lächeln, das verblasste, als er erneut nach draußen sah, zu der Mumie unter dem Baum.
„Heute ist es wieder geschehen, Johnny B. Heute Vormittag während des Schwimmens. Da hat es eine erwischt. Schlaganfall. Schlaganfall oder Herzinfarkt, das schieben sie immer als Erklärung vor – immer. Aber ich hab’s gesehen. Diesmal hab’ ich genau hingeschaut. Diese widerlichen Aliens.“
Eine Frau in einer dicken Jacke, unter der ein weißer Kittel hervorlugte, ging durch den Schnee auf die Mumie zu. Sie unterhielten sich kurz, dann half sie der Mumie beim Aufstehen und führte sie den ganzen Weg zurück. Die Frau lächelte und die Mumie lächelte zurück und tätschelte der Frau den Arm, als würde sie ihr zustimmen. Sie wog sich in einer trügerischen Sicherheit.
„Sie haben die Tür ein Stück weit aufgelassen, in diesem Raum. Und da hab ich es gesehen. Wie sie die Hosen auszogen, sie haben diese rohrartigen, aufgerollten Fortsätze am Steißbein. Die haben sie der Mumie in den Rachen eingeführt und ihr die Lebensenergie ausgesaugt. Diese mächtige Energie, die sie zurück in diese Welt geholt hätte, und nicht der eisige Hauch, der nur für den letzten Atemzug ausreichte. Johnny B., sie ernähren sich von uns.“
Der Mann begann zu zittern, und drückte den Stoffhund an seinen Körper. Dabei schaute er zu seinem Bett hinüber. Die Bettdecke hatte eine unauffällige Aufwölbung am Fußende.
„Heute Nacht, Johnny B. fliegst du zurück nach Hause.“ Er wandte sich wieder dem Fenster zu und blickte nach draußen. Es hatte zu schneien begonnen.

Der Schnee war so eisig, dass seine Füße bei jedem Schritt schmerzten. Die Kälte fraß sich durch die Haut und ließ die Knochen, Muskeln und Sehnen zu einem dicken, tauben Klumpen erstarren. Er ging mühsam über die kleine Anhöhe hinweg, auf der die Mumie am Nachmittag noch unter dem Baum gesessen hatte, hinunter an einen zugefrorenen See. Feine Kristalle glitzerten im schwachen Licht, das aus den zahlreichen Räumen der Mumien in die Nacht schien.
Mit den Händen formte er nahe dem Ufer einen Hügel aus Schnee und steckte den Aufsatz mit der Rakete, an der Johnny B. befestigt war, hinein. Mit einem zufriedenen Lächeln betrachtete er sein Werk.
„Du hast eine lange Reise vor dir, Johnny B. Doch ich werde auf dich warten. Sie werden mich nicht aussaugen. Ich verspreche es, Johnny B. Bald werden wir wieder vereint sein. Du, Willi und ich.“
Er zog eine Schachtel Streichhölzer aus der Tasche, nahm ein Hölzchen aus dem geöffneten Fach hervor und entzündete es. Verborgen in der kleinen Höhle, die seine Hand formte, kämpfte die kleine Flamme züngelnd um ihr Überleben und durfte letztendlich auf die Lunte überspringen, die daraufhin laut Funken sprühend das Feuer in sich aufsog.
Es zischte und er trat zurück. Die Halterung vibrierte, dann löste sich die kleine Rakete von ihrer Starthilfe und schoss mit Johnny B. leuchtend in den Himmel empor. Bald waren sie verschwunden und er wartete … blickte nach oben, doch nichts geschah.
Dann streckte er mit einem Mal die Arme von sich und jubelte.
„Johnny B., du hast es geschafft, du alter Halunke.“ Er tänzelte hüpfend auf die Eisfläche hinaus, immer wieder zum Himmel jubelnd. „Johnny B. …“, rief er stumm. „Johnny B., vergiss mich bitte nicht.“
Die Eisfläche knirschte. Unter ihm bildete sich ein Spinnennetz aus Sprüngen, die sich in Richtung des Ufers wie ein wucherndes Geflecht fortpflanzten. Er brach ein und tauchte in eine schwarze Hölle, die von Kälte regiert wurde. Der Schmerz, den sie in ihm erzeugte, lähmte ihn. Er versuchte zu schreien, schluckte Wasser. Er würgte, mehr Wasser … Panik … Strampeln … Kälte, er gefror von Innen heraus. Dunkelheit.

„Es tut dir sehr Leid, um ihn, nicht wahr?“
Matthias sah seinen Arbeitskollegen traurig an, der ihm aufmunternd den Arm auf die Schultern gelegt hatte. Dick verpackt in lange Wintermäntel standen die beiden im Schnee und sahen zu, wie der Alte auf der Bahre verhüllt und dann ins Altenheim getragen wurde.
Ja, er hatte den alten Mann gemocht, ihm regelmäßig aus der Tageszeitung vorgelesen, wenn sich seine Familie mal wieder Monate lang nicht blicken ließ. Er konnte es einfach nicht fassen, dass er sich umgebracht hatte. Vielleicht würde er es verstehen, wenn er selbst einmal so weit soweit war.
Sein Blick fiel auf einen Gegenstand, der vor ihm im Schnee lag. Er erkannte den Stoffhund wieder. Der Hund – es war wirklich seltsam – war mit Tesafilm an einer Rolle Klopapier befestigt worden. Am unteren Ende der Rolle wiederum hing ein Schnürsenkel. Die ganze Montur war an ein seltsames Gestänge aus verklebten Buntstiften geheftet worden.
Er ging in die Knie, kratzte sich dabei an einer Beule über seinem Hintern und hob den Hund auf, um ihn von dem Tesaband zu befreien. Kopfschüttelnd stand er auf und folgte seinem Kollegen zurück in das Altersheim. Er würde den Alten sehr vermissen.
 
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Kommentare  

Auch mir ist deine fantasievolle Geschichte, die
uns die Welt der Außerirdischen, die du recht
bildhaft und spannend rüber gebracht hast, tief
unter die Haut gegangen.
Echt super!
LG. Michael


Michael Brushwood (16.08.2015)

Eine Geschichte, die unter die Haut geht. Außerdem überraschend, spannend und super geschrieben. Davon möchte ich hier auf Webstories mehr lesen.

Christian Dolle (16.08.2015)

Hallo Mes,

ich mag Deine Vielseitigkeit. Hier behandelst Du ein Thema, das nicht oft in Geschichten Eingang findet: Das Dasein im Alter, wenn man das Gefühl bekommt, das Leben würde aus einem herausgesogen und damit einhergehend das Verlieren der Realität.
Es hat mich zum Nachdenken über das Altern animiert.

Viele Grüße
Frank-Bao


Frank Bao Carter (26.06.2015)

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