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Himmelsturz (3 von 4) - Satanel hetzt gegen den neuen König

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Eineinhalb Wochen waren vergangen. Mir war es wie eineinhalb Ewigkeiten vorgekommen. Vergebens weggeschmissene Zeit. Denn Raphael war wieder untergetaucht. Wo versteckte sich dieser Schisser nur immer? Ich dachte schon, ich wäre eines der mutlosesten und schüchternsten Mädchen des ganzen Himmels. Aber dieser sonst so große Krieger übertraf mich anscheinend spielend. Wieso machte er das? Wir waren uns an der Quelle doch so verdammt nah gekommen. Und alles hatte unter der alten Birke völlig normal gewirkt. Er war ein attraktiver Mann, ich eine wunderschöne Frau. Was sonst als Liebe sollte passieren, wenn sich zwei solche Geschöpfe allein im Wald trafen? Folgerichtig war genau das geschehen. Und ich meine noch immer, dass es richtig gewesen ist. Der Erzengel hatte mir mein Herz gestohlen. Und meinen Verstand. Beides mit meinem Einverständnis. So war ich nur noch Bauch, nur noch Schoß geworden. Hatte mich vollends gehen lassen und mich selber mit Glück überschüttet.

Und nichts, aber auch gar nichts hatte darauf hingedeutet, Raphael hätte nicht eine einzige Sekunde unseres Zusammenseins nicht genossen.
Den ganzen Weg zur Stadt, die Stunde bei der Andacht in der Kapelle, das anschließende Mahl – stets hatte er meine Hand gehalten. Einen Spaß hatten wir uns daraus gemacht, einhändig zu essen. Gekichert hatten wir wie Siebenjährige. Und der begehrliche Blick in seinen Augen, wenn ich meine Lippen um seine Gabel geschlossen und genussvoll seine Gabe abgezogen hatte. Zum Teufel auch, war das erotisch gewesen.
Und am nächsten Morgen teilte man mir lediglich mit, er wäre mit einer wichtigen Depesche abgereist.
Zwei Tage lang hatte ich alle Tode der Welt durchlitten. Immer wieder von vorne. Am dritten war ich endlich auferstanden aus meiner Gruft. Um mich abzulenken, hatte ich mich in Aktionismus gestürzt. Tag und Nacht hatte ich mit Satanel und seinen Jüngern an unserem politischen Manifest gearbeitet. Reden hatten wir geschrieben, mit denen die redegewandtesten Cherubim losgezogen waren, neue Mitstreiter zu rekrutieren. Selbst unter die Seraphim waren wir gegangen. Doch dieses Engelgeschlecht hatte sich unseren reformatorischen Ideen gegenüber sehr reserviert gehalten. Verwurzelt in den jahrtausendealten Strukturen fürchteten sie sich vor Veränderung. Zwangsläufig musste ich hochnäsig zu ihnen herabschauen. Ergeben in ihr Schicksal. Ausgeliefert der Willkür der herrschenden Strukturen. Lemminge auf dem Weg zum Meer.

Allein deshalb wollte ich kein Engel sein. Ein Teufelchen wollte ich ihnen sein, eine Luzifera, die sie mit schrillen Taten und aufpeitschenden Worten aus ihrer Lethargie erweckte.
In meiner Euphorie des Aufbruchs hatte ich nicht die wahren Motive Satanels erkannt. Ich wollte nur den Teil seiner Rede, seiner Worte, seiner Versprechungen wahrnehmen, die sich mit meinen Idealen deckten. Selbst nach seiner ketzerischen Rede über die Propheten der Juden war ich nicht aufgewacht. Satanels Ziele waren nicht wirklich die Reformen gewesen, er wollte nach den Sternen greifen. Und ich, nein, wir alle hatten ihm dabei geholfen. Niemand von uns hatte den Preis gesehen, den wir dafür zu zahlen hatten.
Nur eines hatte ich zu diesem Zeitpunkt erkannt: Satanel und Raphael standen auf vollkommen entgegengesetzten Positionen. Ich mitten zwischen ihnen. Um zu überleben durfte ich weder den einen noch den anderen verraten. Dabei war ich junges Huhn im Taktieren und Paktieren nicht besonders gut ausgebildet. Mir blieb also nur, mir immer wieder auf die Zunge zu beißen. Eine Gratwanderung, bei der ich hoffte, nicht abzustürzen.

Den ganzen Tag debattierten wir in Satanels Gefolgschaft. Unzählige Rollen Papyrus beschrieben wir. Im Tempel war es erdrückend heiß.
Am späten Nachmittag waren wir alle erschöpft und müde von der Arbeit und der Hitze. Das war der Augenblick für Satanels aufwieglerischer Rede:
„Und nun ist es an euch, liebe Verbündete, Farbe zu bekennen. Stellt euch vor, ihr solltet euch einen König wählen, der die Vorhersagen eurer Propheten mit Füßen träte, der sich mit den Feinden zusammenschlösse, der die Befreiungsversuche eures unterdrückten Volkes unterlaufen würde . . .“
„Niemals!“, brüllten wir alle aus weitaufgerissenen Kehlen. Mein Gekeife war deutlich unter den vielen Männerstimmen herauszuhören.
„Die Zeloten, die Essener, die Pharisäer, sie alle erwarteten den in den alten Schriften verkündeten Messias, der sie in den siegreichen Krieg gegen die Römer, die Sadduzäer und die Samaritaner führen würde. Stellt euch vor, täglich wird euer Volk gepeinigt, ans Kreuz geschlagen, über Steuern ausgepresst, um den Krieg und das Morden gegen euch zu bezahlen . . . und dann kommt ein Scharlatan daher, verkündet der Messias zu sein und will, dass ihr alle Waffen ablegt.“
„Gottloser Verräter! Handlanger der Macht! In den Kerker!“

Alle im Raum waren wir derselben Meinung. So einem König wäre die Gefolgschaft zu verwehren. Satanel berichtete weiter:
„Aber es wird noch schlimmer, liebe Freundinnen und Freunde. Dieser König ruft aus, dass nicht nur die Feinde Menschen sind, sondern auch die Ungläubigen, die Blinden, die Ausgesetzten, die Zöllner, die Huren, die Armen, kurz, der ganze Abschaum der Gesellschaft. Und er beruft sich auf die Schrift, indem er einen Heiden höherstellt als die eigenen Genossen und einen angesehenen Rabbi verleumdet.“
„Blasphemie! Sein Haupt dem Henker! Was war sein Frevel?“
„Sein Frevel? Ha! Nichts Minderes als die falsche Auslegung der Thora.“ Satanel machte eine kleine Pause und schaute uns alle intensiv an. Als die Spannung weit genug aufgebaut war, fuhr er fort: „Der Scharlatan tat ein Gleichnis kund: „Es begab sich zu der Zeit, dass sich ein Heide auf dem Weg zum Rabbi Schammai aufmachte. Bei ihm angekommen, sagte der Heide, dass er zum Glauben des Rabbi übertreten würde, wenn dieser ihm die gesamte Thora in der Zeit lehren würde, die der Heide auf einem Bein stehen könnte. Der Rabbi Schammai antwortete, das sei eine irrationale Forderung und verwies den Heiden aus seinem Haus. Daraufhin ging der Heide zu dem Rabbi Hille und stellte diesem dieselbe Frage. Da lachte der Heilige liebevoll auf und sprach: Was du nicht willst, das man dir tut, das füge auch keinem anderen zu. Das ist die ganze Thora, der Rest ist nur Kommentar.“

Männer und Frauen reckten die Fäuste in die Höhe, schrien und keiften. Ich dagegen war kurzzeitig irritiert. So schlecht fand ich den Gedanken des fremden Propheten gar nicht: Alle Menschen sind gleich. Er stellt sich wie ich gegen die herrschenden Regeln und Auffassungen; spricht von der wahren Freiheit, die auch ich anstrebe. Das Abschaffen der Zwänge der Moral, der sinnlosen Verurteilung der Mitmenschen, nur weil sie anders sind – einen eigenen Kopf haben. Wenn alle so dächten wie dieser Messias, gäbe es endlich Frieden. Dann gäbe es keine Notwendigkeit mehr, sich gegen unterdrückende Regime aufzulehnen, gegen patriarchalische Herrscher wie gerade in unserem Himmelreich. Sowie dieser Gedanke bei mir angekommen war, hob sich auch meine kleine Faust über meinen Kopf. Der Prophet stellte der Wirklichkeit eine Illusion entgegen. Das erachtete ich als falsch. Mit seiner Lehre wäre mir hier oben nicht geholfen. Von daher schloss ich mich innerlich wieder ganz der Rhetorik des stärksten Engels an.

„Er macht sich über das Fasten lustig, die rituellen Waschungen, die Abgaben an die Priester“, hetzte Satanel uns weiter auf. „Darüber, am Sabbath zu arbeiten, die Sünder nicht zu hassen. Und er schreckt nicht davor zurück, das Land der Gottlosen zu betreten und in deren Tempeln zu predigen. Kann man besser den Götzen unserer Feinde huldigen? Den Feind ehren und aufwerten? Ich sage euch, so einen König dürfen wir nicht auf unseren Thron lassen.“
„Du hast Recht, Satanel. Einzig die Kleinigkeiten zählen. Vergiss nicht, die Ungläubigen haben eine andere Sprache, einige blonde Haare und helle Haut, andere sehr dunkle Haut und krauses, schwarzes Haar. Die einen blaue Augen, die anderen grüne, wieder andere braune. Ihnen müssen wir unbedingt Frieden und Freiheit verwehren. Sie sind und bleiben unsere Feinde, bis in alle Ewigkeit. Und derjenige, der hier etwas Anderes postulieren würde, ist ins Verlies zu werfen. Schließlich darf Frieden und Freiheit nur für einen Teil der Menschheit gelten. Und damit dieser Grundsatz nicht umgestürzt wird, muss unterdrückt, gefoltert, gemordet und gebrandschatzt werden.“ In der Tür stand Raphael. Sein weißes Gebetsgewand wehte im Nachmittagswind. Alle Waffen hatte er abgelegt. Bis auf eine: seinen messerscharfen Geist.

Ich war beschämt.
Und ich war es nicht allein.
Raphaels überspitzter Sarkasmus hatte uns die Augen geöffnet.
Wir alle spürten in Raphaels Worten eine tiefe Weisheit. Während Satanel in altgewohnter Weise die Welt in gut und schlecht, schwarz und weiß einteilte, kehrte Raphael den spirituellen Grundsatz der Harmonie aller mit allen in den Vordergrund, den dieser Messias predigte.
Doch nicht deswegen war mir ein lautes „Raphael“ aus dem Mund gerutscht. Zwar hatte ich mir sofort meine Hand vor meine Lippen gehalten, doch es hatte nicht meine Freude verklingen lassen können, die mit diesem Wort über meine Lippen geweht war.

Satanel hatte alles vernommen.
Intensiv und nachdenklich musterte er mich.
Daraufhin Raphael.
Dieser hielt dem Blick nur kurz stand. Dann wand er sich um und ging. Mich keines weiteren Blickes würdigend. Dafür bewegten sich die Finger seiner rechten Hand, als wollte er Regen anzeigen.
Ich verstand sofort.
Heute Abend sollte ich zu „unserer“ Quelle kommen.

(Fortsetzung folgt)


Diese himmlischen Geschichten der Reihe „Himmelsturz“ sind im Dezember 2022 in dem E-Book „Schwarzer Engel – Verlorene Seele“ von Mats Hoeppner bei allen bekannten E-Book-Vertreibern erschienen.
 
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Kommentare  

Sehr spannend. Habe alle Teile gelesen. Locker flüssiger Schreibstil. Einfach gelungen.

Else08 (20.04.2023)

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