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12 Seiten

Marvin und Jaga

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
„Das Leben ist absurd.“ Die Worte hallen noch etwas nach. Es dauert eine Weile, bis sich ein Arm und dann auch ein Finger in die Höhe erhebt. Herr Rudimentär nimmt die Person dran, die sich so brav gemeldet hat. „Ja, bitte?“
„Herr Rudi-Ru-Rudimentel“ stammelt die Person und wird von Herrn Rudimentär verbessert.
"Ja, äh, Herr Rudelmentär.“
„Nein, das ist immer noch nicht ganz richtig.“
„Was?“ Der blonde Lockenkopf scheint verwirrt zu sein.
Herr Rudimentär seufzt laut auf und sagt dann: „Na, wie du meinen Namen aussprichst.“
„Nicht richtig?“
„Nein.“
„Wie wird er denn richtig ausgesprochen?“
„Herr R-u-d-i-m-e-n-t-ä-r“.
„Ach“. Der blonde Lockenkopf scheint nun darüber nachzugrübeln.
„Ja, und?“
„Ja und was?“
„Was wolltest du mich denn fragen?“ Herr Rudimentär verdreht etwas die Augen.
„Zu was?“
Wieder seufzt Herr Rudimentär. „Na, du wolltest mich doch etwas fragen, oder nicht? Deshalb hast du dich doch gemeldet, oder etwa nicht?“
„Ach ja, nun, äh, hab ich vergessen.“
„Nun gut, macht ja nichts. Sollte es dir noch einmal einfallen, kannst du dich ja einfach ein weiteres Mal melden.“
„Ja, ist gut, Herr Rudeltär“.
„Äh, nein, Moment.“ Kurz sieht es so aus, als wolle Herr Rudimentär dazu noch etwas sagen, scheint es sich dann aber im letzten Moment doch anders zu überlegen. „Ach, lassen wir das.“ Er schaut auf die Uhr. Es ist nun kurz vor Schulschluss. Dies ist die letzte Schulstunde an diesem Tag. „Wisst ihr was, Kinder?“
„Nein“, rufen alle unisono zurück.
„Wir machen für heute einfach mal etwas früher Schluss, was haltet ihr davon?“
„Yuhuuu!“, ist die einzige Antwort aller Kinder auf diesen Vorschlag und es fliegen plötzlich wie aus dem Nichts diverse Papierflieger durch das Klassenzimmer und, woher auch immer, hüpfen plötzlich auch zwei aufgeblasene bunte Luftballons von einem Kind zum anderen. Kurz fragt sich Herr Rudimentär, ob er sich darüber nun vielleicht wundern sollte, entscheidet sich dann aber dagegen. Es in diesem Moment einfach als Tatsache hinzunehmen, erscheint ihm gerade einfach weniger kraftaufwendig zu sein, als wenn er sich jetzt auch noch damit hätte auseinandersetzen müssen. Stattdessen greift er sich einfach seine Tasche, und macht sich davon. Morgen ist schließlich auch noch ein Tag, um solcherlei Kuriositäten zu klären oder es erneut sein zu lassen.
Marvin, das ist übrigens der blonde Lockenkopf, trifft sich heute noch mit Jaga, das ist der Spitzname seines besten Kumpels, am See. Sie haben gehört, er sei zugefroren und dass es verboten sei, ihn zu betreten. Dies muss schon alleine deshalb auf jeden Fall mal ausprobiert werden. Wäre ja noch schöner, wenn man sich alles verbieten lassen würde. Dann hätte man ja gar keinen Spaß mehr!
Marvin schnappt sich seine Tasche und macht sich schleunigst davon. Vielleicht hat er jetzt noch die Chance, als erster am See zu sein um so auch als erster Sachen dort ausprobieren zu können, wie zum Beispiel einen möglichst großen Stein auf die Eisfläche zu schmeißen.
Die Sonne scheint. Selbst Marvin mit seinen 9 Jahren ist schon aufgefallen, dass es im Winter nur dann richtig kalt wird, wenn die Sonne scheint. Bei Wolken wird es niemals richtig kalt. Aber auch nur dann besteht auch die Chance, dass es schneit. In diesem Winter hat es bisher noch gar nicht geschneit. Eine echte Enttäuschung mal wieder! Was soll man denn mit einem Winter anfangen, an dem es nicht schneit? Es ist ein Winter ohne Schlitten den Berg herunterzufahren; ohne Schneeballschlachten; ohne den Schneeflocken fasziniert dabei zuzusehen, wie sie vom Himmel auf die Erde getanzt kommen; ohne durch den verschneiten Wald zu streifen, und nach Fußspuren von irgendwelchen wilden Tieren wie Rehe oder von Vögeln Ausschau zu halten.
Gut, nun war es die letzten Tage richtig kalt gewesen. Unangenehm kalt. Einziger positiver Effekt: anscheinend hat es ausgereicht, dass der See etwas außerhalb des Dorfes, in dem Marvin und sein Freund leben, ausreichend zugefroren ist, damit es möglich geworden ist, ihn verbotener Weise zu betreten und oder Steine und dicke Äste so lange drauf zu werfen, bis das Eis bricht. Durch die Eisdecke zu blicken, um vielleicht einen Fisch im See sehen zu können. Vielleicht auch an einem selbst gemachten Loch einen dieser Fische fangen! Bei diesem Gedanken bekommt Marvin sogar rote Wangen, obwohl es ihm bitterkalt ist.
Ach nein. Sofort ist er wieder etwas mehr auf dem Boden der Tatsachen. Wie sollte es denn für sie möglich sein, einen Fisch zu fangen. Sie haben doch gar keine Angel. Noch nicht einmal ein Netz. Und sie würden sich auch keine Angel und auch kein Netz vor Ort basteln können. Davon haben er und sein Kumpel nun wirklich keine Ahnung.
Er biegt um die Ecke. Er muss sich beeilen, es würde bald dunkel werden. Seine Eltern haben eigentlich nichts dagegen, wenn er nach der Schule noch draußen mit Freunden unterwegs ist. Es gibt dabei nur eine eiserne Regel: vor Sonnenuntergang soll er immer wieder zu Hause sein, dann würden sich seine Eltern keine Sorgen um ihn machen. Nur einmal hat er sich etwas darüber hinaus verspätet. Er hatte bei dem Spiel mit seinem zweiten besten Kumpel, mit Pete, völlig die Zeit vergessen. Er kann sich noch sehr gut daran erinnern, wie er sich gefühlt hat, als es ihm während des Spiels plötzlich bewusst geworden ist, dass sie zu spät nach Haue kommen würden. Er und Pete waren am kleinen Bach gewesen, der sich an dem kleinen, beschaulichen Dorf vorbei schlängelt. Sie haben einen Staudamm gebaut. Es war harte und verantwortungsvolle Arbeit gewesen. Sie hatten sich abgewechselt, wer der Ingenieur gewesen war und wer der ausführende Bauarbeiter. Jedes mal wollte der eine den anderen mit seiner Ingenieurskunst übertreffen. Sie sind dabei so sehr in Eifer geraten, dass das, was letztendlich dabei entstanden ist, jeden Biber wohl vor Neid hätte erblassen lassen können. Gleichzeitig war die Zeit aber so schnell dabei vergangen gewesen, dass es, als ihm dies klar geworden war, fast schon stockdunkel gewesen war. Der Weg nach Hause war schon ein Abenteuer, sie mussten ein Stückchen durch einen derart dunklen Wald, dass sie ihre Hände nicht vor ihren Augen haben sehen können. Und es war ein noch größeres Abenteuer, als sie dann zu Hause angekommen waren. Pete`s Haus lag auf dem Weg zu Marvins Haus. Beide sind sie zu Pete gegangen. Die Eltern waren ganz bleich gewesen, als sie die Tür geöffnet hatten. Marvin und Pete hatten sich einige Tage später darüber austauschen können. Sie sind zu der Übereinkunft gelangt, dass die Eltern wohl deshalb so blass gewesen waren, weil sie wahrscheinlich davon überzeugt gewesen waren, die Polizei oder die Feuerwehr würde vor der Tür stehen. Als sie dann aber die beiden davor haben stehen sehen, konnte man ihren Gesichtern sehr gut ansehen, wie sie kurz, aber nur sehr kurz, vor Freude strahlten und dann aber sofort in Zornesröte wechselten. Beide wurden mit Fragen förmlich bombadiert, die so schnell kamen, dass es unmöglich gewesen war, sie alle zu beantworten. Sie gingen dann alle zusammen zu den Eltern von Marvin rüber. Dort schien sich das Gleiche noch einmal zu wiederholen. Am Ende hatte Marvin und Pete für eine ganze Woche, auch das darauffolgende Wochenende, Hausarrest erhalten. Eine schlimme Zeit! Marvin bekommt immer noch Gänsehaut, wenn er daran denkt, wie er jeden Tag nach der Schule und nach getaner Hausarbeit in seinem Zimmer hockte und einfach nichts zu tun hatte. Alle Bücher, die ihn hätten interessieren können, hatte er schon nach zwei Tagen durch gehabt. Damals hatte Marvin gelernt, wie quälend Nichtstun sein kann. Als er wieder frei gewesen war, hat er sich gehütet, auch nur eine Minute zu spät zu Hause zu sein, als es zuvor verabredet gewesen war. Und aus diesem Grund gibt er auch heute noch einmal Gas, damit die gemeinsame Zeit mit Jaga am See auch ausreichend ist, um alles, was sie sich vorgenommen haben, auch durchzuziehen.

Marvin kommt als erster am See an. Wie wundervoll er doch aussieht! Wie erstarrt, so als sei er einfach so in seiner Bewegung eingefroren. In gewisser Weise wird es wohl auch genau so gewesen sein. Er blickt sich um. Es ist außer ihm keine Menschenseele zu sehen. Auch noch nichts von Jaga. Würde er überhaupt noch kommen? Er war schon öfter mal unzuverlässig gewesen, und hatte dabei noch nicht einmal abgesagt. In diesem Falle würde er es sich aber bestimmt nicht leisten, einfach nicht zu kommen. Hierzu hatten sie diesen Termin von viel zu langer Hand her gemeinsam geplant. Er würde kommen. Marvin hatte nun einmal früher Schluss gehabt, deshalb ist Jaga noch nicht da.
Dampfwolken treten beim Atmen aus Marvins Mund. Zum Glück war er heute wirklich gut eingepackt worden; hatte seine dicksten Sachen angezogen bekommen; seinen dicksten Schal mitbekommen. Dennoch friert er ein bisschen. Es muss also richtig kalt sein!
Er blickt sich nach einem Stein oder nach einem dicken Ast um, den er auf die recht stabil aussehende Eisfläche werfen könnte. Er findet auch etwas passendes, ein Stein in etwa mittlerer Größe. Der müsste als erster Versuch eigentlich ausreichend sein. Er dient ja nur zum Einschätzen der Lage, das heißt wie dick die Eisdecke sein könnte. Wäre doch toll, wenn Marvin seinen Freund bei dessen Eintreffen hier schon mit den ersten strategischen Informationen für die gemeinsame Operation versorgen könnte.
Marvin geht hastig zu dem Stein rüber. Er mustert ihn und kommt zu der Einschätzung, dass es eigentlich ein Leichtes sein müsste, ihn aufzuheben und auf die Eisfläche zu schmeißen. Und muss, als er seinen Plan umsetzen möchte, sofort feststellen, dass er sich wohl doch geirrt hat. Der Stein sitzt fest, ist sehr wahrscheinlich am Boden festgefroren, so wie alle anderen Steine hier auch.
Marvin schaut sich nach einem geeigneten Werkzeug um, um den Stein damit vom Boden zu lösen. Er findet einen hierzu vielleicht geeigneten Stock und muss dann aber sofort feststellen, dass auch der Stock am Boden festgefroren ist. Er versucht, an einer Stelle das Angefrorene mit seinen Handschuhen zu untergraben und den Stock vielleicht aus eigener Kraft vom Boden zu lösen. Nach einiger Anstrengung gelingt ihm dies auch. Anschließend nimmt er den Stock, und versucht damit nun, etwas ähnliches auch bei dem Stein hin zu bekommen. Es dauert etwas, bis er neben dem Stein ein kleines Loch in den gefrorenen Boden geschabt hat. Nun versucht er mit dessen Hilfe den Stein zu unterhöhlen.
Es dauert eine Weile, doch irgendwann gelingt es ihm tatsächlich, mit dieser Technik den Stein vom Boden zu lösen. Triumphierend hebt er ihn mit etwas Mühe in die Höhe. Was er seinem Kumpel jetzt schon alles berichten kann, wenn er dann schließlich doch noch gekommen ist! Ganz alleine hat er in dieser kurzen Zeit schon eine Technik entwickelt, Steine vom gefrorenen Erdreich zu lösen!
Er geht zusammen mit dem Stein in seinen Händen und mit etwas wackeligen Füßen zu dem Gewässer hin. Es ist nur ein kleiner See. Er lässt sich auch sehr gut überblicken. Mit zusammengekniffenen Augen geht er die Ränder des Sees noch einmal ab, ob nicht vielleicht mittlerweile doch jemand zu dem See gekommen ist. Er entdeckt immer noch niemanden. Auch nicht Jaga. So langsam müsste sein Kumpel aber eigentlich schon kommen, wenn er noch kommen sollte.
Er hat nun den Rand des Gewässers erreicht, hebt den Stein in die Höhe, und wirft ihn in hohem Bogen so weit und so hoch er kann in Richtung Eisfläche. Der Stein fliegt, aber lange nicht so hoch und schon gar nicht so weit, wie von Marvin beabsichtigt. Als er auf der Eisfläche landet, gibt es ein dumpfes Geräusch, das sich so anhört, als würde es sich unter Wasser weiter in alle Richtungen ausbreiten. Irgendwo in der näheren Umgebung wird davon ein größerer Vogel aufgeschreckt und dazu genötigt, sicherheitshalber sich in die Lüfte zu erheben. Er steigt auf und fliegt mit gemächlichen Flügelschlägen pfeilschnell über den See an die andere Böschungsseite, wo er landet und anscheinend davon ausgeht, erst einmal einen ausreichend sicheren Platz gefunden zu haben.
Marvin ist jetzt etwas außer Atem. Wie aus einer Dampflock steigt der Dampf aus seinem Munde empor, auch irgendwie ähnlich rhythmisch. Als sich sein Puls und damit auch sein Atem wieder etwas beruhigt haben, schaut er sich die Stelle, wo der Stein auf der Eisfläche eingeschlagen sein müsste, noch einmal etwas genauer an. Es hat sich nicht so angehört, als sei die Eisdecke durchgebrochen. Es war kein Knacksen beim Aufschlag des Steines zu vernehmen gewesen. Auch kein Wasser, das von einem Gegenstand verdrängt, nach allen Seiten weg gespritzt wäre. Die Eisfläche hat sehr wahrscheinlich gehalten. Marvin sucht nach dem Stein und findet ihn auch bald. Er ist, nachdem er auf der Eisdecke aufgeschlagen war, noch ein ganzes Stück darüber geschlittert, wahrscheinlich ähnlich wie beim Curling, und dann irgendwo ein paar Meter vom Einschlagsort entfernt schließlich zum Stehen gekommen.
Wäre ja auch ein Ding gewesen, wenn es gleich beim ersten Mal geklappt hätte! Wie hätte sich Jaga geärgert, dass er nicht dabei gewesen war.
Na ja. Man kann nicht alles haben, denkt Marvin bei sich, und sucht schon nach dem nächsten vielleicht sogar noch größeren Stein. Und bemerkt erst dann, dass er nicht mehr alleine am See ist. Jaga ist da. Er steht ein gutes Stück von ihm entfernt am Ufer und scheint intensiv nach ihm zu suchen. Ihre Blicke treffen sich. Sie winken sich gegenseitig zu. Und schon kommt Jaga um den See herum zu Marvin gesaust. Wie bei einer Dampflock steigt auch bei ihm der Qualm aus seinem Munde dabei empor.
Als er bei ihm angekommen ist, begrüßen sie sich erst einmal noch etwas atemlos. „Na“, fragt Jaga, „wie geht’s?“
„Ganz gut“, entgegnet Marvin.
„Wie hastes denn so schnell von der Schule hierher geschafft?“
„Wir haben ein bisschen früher frei bekommen.“
„Cool! Na ja, bei diesem Wetter haben anscheinend auch die Lehrer keinen richtigen Bock mehr. Haste denn schon was gemacht?“
„Oh ja!“, ruft Marvin stolz mit erhobener Brust aus. „Ich habe schon versucht, die Eisdecke zu durchbrechen.“
Nun scheint Jaga ganz aufgeregt zu werden. Mit weit aufgerissenen Augen fragt er seinen besten Kumpel: „Und?“
„Nun ja“, spielt Marvin seine Leistung absichtlich etwas herunter, „ich habe es mit einem Stein versucht.“
„Schnell, erzähl schon. Was ist passiert?“ Jaga scheint eine Antwort gar nicht abwarten zu können.
Marvin winkt ab. „Nicht viel. Die Eisdecke hat dicht gehalten und der Stein ist einfach so drüber weg geschlittert.“
„Wow!“ platzt es aus Jaga heraus. So etwas hat er noch nie gesehen. Wenn er mit seinen Eltern unterwegs ist, ist es immer streng verboten, irgendetwas auf die Eisdecke zu schmeißen. Da waren die immer extrem ängstlich. Im Grunde war nun das erste Mal eine echte Gelegenheit für ihn, so etwas auszuprobieren und so etwas auch mal sehen zu dürfen. Immer hatte er es nur aus den Erzählungen der Klassenkameraden hören müssen, wie toll es ist, wenn die gespannte Eisdecke aufplatzt und das Wasser nach allen Seiten herausspritzt. Das wird ein Fest! Er und Marvin würden mit solch einer Geschichte sicherlich ein paar Tage lang auf dem Schulhof im Mittelpunkt stehen!
„Lass es uns noch einmal probieren! Wir nehmen diesmal aber einen größeren Stein!“ Jaga ist nun voll bei der Sache. Er schaut sich energisch nach einem passenden Stein um. Irgendwann hat er einen gefunden. „Sie dir mal den an!“ ruft er und zeigt dabei auf das gefundene Exemplar.
Marvin geht zu diesem Stein hin und mustert ihn eindringlich. Er sieht zu Jaga hin und nickt ihm ganz zaghaft zu. „Ja, der ist größer“, murmelt er. Marvin hat schon wieder den Stock von dem vorherigen Stein in seinen Händen. Er beginnt mit seiner Arbeit, den Stein vom gefrorenen Boden zu lösen. Das würde diesmal nicht so einfach werden, dies merkt er dabei sofort. Nach kurzer Zeit fängt er schon an zu schwitzen. Er ist drauf und dran, sich seiner Mütze und seiner Handschuhe zu entlegen, tut es aber nicht, weil er ganz genau weiß, wie schnell man sich so eine Erkältung einfangen kann.
Irgendwann scheinen sie es tatsächlich geschafft tu haben. Der Stein beginnt sich vom Boden zu lösen. Er ist in etwa so groß, wie sie es sich vorgestellt haben.
„Los, kletter auf diesen Ast!“ ruft Jaga enthusiastisch seinem Freund zu, während er auf einen Ast zeigt, der vom Ufer aus weit in den See hinein ragt.
„Was? Wozu denn?“ Marvin versteht nicht so recht, auf was Jaga damit hinaus möchte.
„Ich reiche dir den Stein herauf, und du wirfst ihn dann von da oben aus auf den See. Dann bricht die Eisdecke mit Sicherheit!“
Marvin scheint kurz darüber nachzudenken und vor allem auch die Höhe zu mustern, in der sich der Ast vom Boden aus befindet. Dann willigt er aber ein. Es scheint ihm zumindest einen Versuch Wert zu sein.
Der Ast könnte tatsächlich kräftig genug sein, ihn zu halten. Er springt unter ihm hoch, bekommt ihn zu packen, – er war schon immer sportlich gewesen, und im Grunde ist kein Baum wirklich davor sicher, von ihm erklettert zu werden – und schwingt sich schließlich auf den Ast, so als sei es das einfachste, das man sich für einen Jungen in seinem Alter überhaupt nur vorstellen kann. Jaga hätte das sicherlich nicht so leicht hin bekommen.
Der Ast ist eiskalt. Es ist nicht die gemütlichste Position, die sich Marvin vorstellen könnte. Er möchte nur so lange wie unbedingt nötig hier oben hocken müssen. Es würde ein Kunststück werden, einmal den schon recht großen Stein von Jaga anzunehmen, ihn dann auch noch hoch zu hieven und zum anderen damit anschließend nach vorne zu preschen, damit er auch ein Stück weit auf den See damit hinauskommt.
Jaga tut sein bestes, Marvin den Stein hoch zu reichen. Er müht sich damit sichtlich ab. Irgendwann gelingt es aber tatsächlich, wobei Marvin beim Annehmen des Steines fast das Gleichgewicht verloren hätte. Im letzten Moment hatte er sich aber noch abfangen können. Anschließend hat er den Stein vor sich auf den Ast abgelegt, und nun angefangen, sich vorsichtig mit ihm nach vorne über die Böschung hinweg zu schieben. Währenddessen wird Jaga immer aufgeregter. Er tänzelt auf seinen Füßen hin und her und klatscht sogar in seine Hände.
Schließlich ist Marvin so weit nach vorne gekommen, dass es ihm ausreichend zu sein scheint, um einen Versuch zu wagen. Er sieht noch einmal zu Jaga zurück. Auch dieser gibt sein ok. Dann hebt Marvin den Stein hoch über seinen Kopf. Schweißperlen rinnen ihm über sein Gesicht. Er zögert kurz, so als versuche er sich zu konzentrieren, und lässt dann den Stein mit zusätzlichem Schwung von ihm nach unten sausen. Wieder hätte er dabei fast das Gleichgewicht verloren. Wieder kann er sich im letzten Moment abfangen.
Atemlos, wie in Zeitlupe, blickt er und Jaga dem Stein nach.
Krachend kommt der Stein auf der Eisdecke auf. Erneut erhebt sich der große Vogel von vorhin erschrocken von seinem Platz am anderen Ende des Ufers, und fliegt davon. Anscheinend hat er von diesem See erst einmal genug. Hier ist für seinen Geschmack wohl etwas zu viel los.
Der Stein bewegt sich kein Stück. Er scheint in der Eisdecke festzustecken.
Plötzlich sackt er ab und verschwindet im See. Wasser schwappt aus dem nun so entstandenen Loch in der Eisdecke heraus. Sie haben es also tatsächlich geschafft.
Jaga jubelt am Ufer. Marvin prägt sich von seinem Logeplatz hoch über dem Loch aus alles ganz genau ein, damit er bei den späteren Erzählungen auf dem Schulhof nach Möglichkeit kein einziges Detail davon vergisst zu erwähnen. Er späht mit zusammengekniffenen Augen von oben in das Loch hinein. Das Wasser darunter ist trübe, vielleicht wurde es von dem sinkenden Stein etwas aufgewühlt. Er kann dort nichts weiter erkennen, weder den Grund des Sees, noch den Stein, noch irgendwelche Wasserpflanzen. Und schon gar keine Fische.
Vielleicht ist es nun, da in der Eisdecke schon ein Loch ist, besser möglich, auch vom Ufer aus mit Steinen Löcher in das Eis zu werfen?
Das würden sie als nächstes ausprobieren.
Vorsichtig schiebt er sich auf dem Ast wieder zurück in Richtung Ufer.
Bei all der Aufregung hatten beide gar nicht bemerkt, wie spät es nun schon geworden ist. Vielleicht vergisst man nur als Kind beim Spiel derart die Zeit, weil man nur dann noch dazu fähig ist, voll und ganz und mit Haut und Haaren in einer Tätigkeit aufzugehen, ohne währenddessen an etwas anderes zu denken.
Ganz langsam beginnt es schon dunkel zu werden. Ihre Eltern wissen nicht, wo sie sind. Sie hätten ihnen dieses Abenteuer hier auch niemals erlaubt. Gerade deshalb ist es ja auch so aufregend.

Das Lokal „Zum heulenden Hund“ ist das einzige Lokal in diesem kleinen Dorf, aus dem auch Jaga und Marvin stammen. Jeden Freitagabend trifft sich dort eine kleine Männerrunde, um in erster Linie Karten zu spielen, aber sich natürlich auch feuchtfröhlich über Neuigkeiten im Dorf auszutauschen. Dabei ist über die Jahre eine kleine Stammrunde entstanden. Bei diesen Gelegenheiten wird nur sehr selten mal bis gar nicht über Politik geredet. So etwas interessiert hier niemanden so richtig, weil sie in dem kleinen Dorf das Gefühl haben, dass es sie gar nichts angeht. Es scheint sie einfach nicht zu betreffen, was weit weg von ihnen entschieden wird. Sie fühlen sich nicht relevant. Sie haben ihr eigenes Leben, an dem sich einfach nichts zu ändern scheint, wenn irgendwo anders irgendetwas entschieden wird. Sie sind in Vereinen organisiert. Dort kann etwas entschieden werden. Im Sportverein zum Beispiel. Oder im Männergesangsverein. Oder sie können bei den durch die Vereine jährlich stattfindenden Feste etwas mitgestalten. Aber alles, was mit Politik zu tun hat, dafür fühlen sie sich nicht zuständig. Das ist sprichwörtlich einfach nicht ihr Bier.
Apropos: Jakob bestellt gerade beim Wirt noch ein solches. Denn er ist gerade dabei, sein jetziges zu leeren. Er braucht dem Wirt hierzu nur kurz zuzuwinken, und schon versteht dieser. Als er dann sein leeres Glas wieder vor sich auf den Tisch gestellt hat, sagt er: „Unglaublich, dass so etwas hier bei uns in unserem Ort geschieht.“
„Was denn?“, will Friedrich von ihm wissen, der währenddessen konzentriert auf sein Kartenblatt blickt.
„Na das, mit den zwei Buben“, sagt Jakob, während er vom Wirt sein neues Bier vor sich auf den Tisch gestellt bekommt und dieser das leere mitnimmt.
„Ach, das. Ja“, murmelt Friedrich und hat sich anscheinend für eine der Karten in seiner Hand entschieden. Er legt sie auf den Stapel in der Mitte des Tisches.
Wilhelm blickt auf. „Aber man weiß doch gar nicht, was geschehen ist“, sagt er in die Runde.
„Wie meinst du das?“ Er wird von Jakob kritisch gemustert, während dieser an seinem neuen Bier nippt. Es hat anscheinend für seinen Geschmack noch etwas zu viel Schaum.
„Na, man weiß doch gar nicht, was mit ihnen geschehen ist“, erhebt wieder Wilhelm das Wort. „Man hat von den beiden Buben keine Spur gefunden.“
Fast hätte Jakob laut aufgelacht. Im letzten Moment kann er diesen Impuls aber noch unterdrücken. „Und dies soll ein Beweis für was sein?“
„Kein Beweis. Beweise fehlen ja gerade. Niemand weiß, was passiert ist. Niemand weiß, wo die beiden Buben abgeblieben sind.“
Nun sagt auch Herbert etwas dazu: „Ich habe gehört, dass man von den Freunden in der Schule erfahren hat, dass die beiden etwas geplant hatten. Sie wollten zum See.“
Wilhelm schaut zu Herbert rüber, und sagt zu diesem vorwurfsvoll: „Du bist übrigens dran. Leg erst einmal eine Karte ab, sonst werden wir mit dieser Runde hier nie fertig.“
Herbert tut, wie ihm geheißen. Dann hakt Wilhelm bei ihm noch einmal nach: „Und, was hat man am See gefunden?“
Herbert schaut etwas eingeschüchtert drein, weil er bemerkt, dass er nun anscheinend im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit dieser Runde steht. Solche Situationen mag er gar nicht. „Nun“, sagt er etwas unsicher, „ich habe gehört, man hat dort gesehen, dass jemand Steine auf die Eisdecke geworfen hat. Ihr wisst doch, die Tage war es richtig kalt gewesen. Die Eisdecke muss richtig dick gewesen sein. Die Kumpels in der Schule hatten auch gesagt, dass dies der Plan der beiden an diesem Tag gewesen sei.“
„Und hat man ansonsten dort irgendwelche Spuren der beiden gefunden?“ Wilhelm schaut Herbert fordernd an.
„Äh, nein, soweit ich weiß, nicht.“ Herbert denkt noch einmal scharf darüber nach. Schließlich will er sich in der Runde jetzt, da er mal im Mittelpunkt steht, nicht lächerlich machen. „Es hat ja erst abends angefangen zu schneien. Während die beiden dort gewesen sein sollen, war es zwar bitter kalt gewesen, es hat aber die Sonne geschienen. Der Boden war gefroren und es hat kein Schnee gegeben. Deshalb hat man auch keine Spuren der beiden dort finden können.“
Fast triumphierend platzt es nun aus Wilhelm heraus: „Dann ist also alles nur Spekulation. Niemand weiß, ob die Steine, die auf den See geworfen worden sind, von den beiden stammen. Niemand weiß mit Sicherheit, wo sie wirklich gewesen sind. Niemand weiß irgendetwas mit Sicherheit. Nur, dass die beiden verschwunden sind.“
„Aber das ist schon eine ganze Menge“ murmelt Jakob vor sich hin, während er konzentriert auf sein Blatt blickt, so als habe er es nur zu sich selber gesagt. Er ist nun mit Legen dran.
Und keiner der Anwesenden verliert an diesem Abend oder an den folgenden auch nur ein einziges weiteres Wort über diese Angelegenheit.

Sie sind spät dran. Das würde Ärger geben! Es ist schon fast vollständig dunkel. Zwar war das, was sie vorgehabt haben, ein voller Erfolg gewesen. Aber die Schimpfereien, die sie zu Hause sehr wahrscheinlich ertragen werden müssen und die Tage Hausarrest, die sie mit Sicherheit anschließend
erwarten dürfen, werden die Stimmung noch etwas trüben. Sie haben sich einfach zu sehr in ihrer Tätigkeit verloren, um mitzubekommen, wie schnell die Zeit dabei vergangen war. Erst als die Schatten der Bäume am See sehr lange geworden waren; die Sonne also schon sehr weit nach unten gerückt gewesen war, hatte Jaga auf diese Tatsache aufmerksam gemacht. Schweren Herzens hatten sie sich von ihrer Tätigkeit abgewendet.
Nun sind sie gerade in dem kurzen Stück Waldweg zwischen See und den ersten Häusern ihres kleinen Dorfes unterwegs, als die ersten Schneeflocken vom Himmel fallen. Es fängt also doch noch an zu schneien.
Es ist schon ziemlich düster, und trotzt der gebotenen Eile bleiben sie dennoch mitten auf dem Waldweg; mitten in dieser Finsternis stehen, und schauen nach oben. Die Schneeflocken, die gemächlich um sie herum in der Luft schweben und tatsächlich auch irgendwie zu tanzen scheinen, sind riesig und deshalb trotzt der Dunkelheit ganz gut zu erkennen. Dies sollte noch ein letzter Eindruck ihres Abenteuers am See sein; ein letztes Detail, das ihre Geschichte, die sie dann später auf dem Schulhof erzählen würden, abrundet.
 
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