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Die Kinder von Brühl 18/ Teil 3/ Die Russen und die Neue Zeit/Episode 7/ Ziegelroda und die Erinnerung

Romane/Serien · Erinnerungen
© rosmarin
Episode 7

Ziegelroda und die Erinnerung

„Wir müssen schnell noch die Wäsche abnehmen und zusammenlegen“, sagte Else zu Rosi. „Ich schaff das nicht alleine.“
„Klar“, war Rosi einverstanden. „Du hast ja nicht so lange Arme“, scherzte sie.
Else und Rosi nahmen die Wäsche von der Leine. Die Klammern kamen in den Klammerkorb. Die Wäsche in die Wäschekörbe. In den kleineren die normalen Sachen. In den größeren Bettwäsche und Tischtücher. Für diese Wäsche brauchte Else Rosi. Und zwar zum Zusammenlegen. Else nahm die Enden eines Bettbezugs fest in ihre Hände. „Nimm du die andere Seite“, forderte sie Rosi auf. „Dann gehe zwanzig Schritte zurück.“
Rosi nahm die beiden Bettzipfel in ihre Hände und ging Elses zwanzig Schritte zurück. "Und nun diagonal ziehen“, sagte Else. „Bis der Bezug glatt ist. Dann kommst du wieder zu mir und wir legen die zwei Seiten gegeneinander.“
Gesagt. Getan. Ein Wäschestück nach dem anderen kam an die Reihe. Wenn Rosi ihre Hälfte wieder zu Else gebracht hatte, legte Else die Wäsche mehrmals zusammen und strich sie glatt. Rosi legte sie in den Wäschekorb. So verging die Zeit ziemlich schnell. Doch es war noch früher Morgen.
„So“, sagte Else endlich. „Fertig. Die Körbe können vorerst hier stehen bleiben. Jetzt aber schnell frühstücken. Und dann ab mit uns.“

Nach dem Frühstück hob Else die kleine Margitta aus dem Stubenwagen auf ihren Arm. „Wir gehen schnell noch zu Frau Schwede“, sagte sie. „Sie hat sich ja freundlicherweise bereit erklärt, heute auf Gitti und Berti aufzupassen. Rosi, nimm mal die kleine Quasseltasche an die Hand.“
Rosi nahm die kleine Quasseltasche an die Hand. Frau Schwede stand schon in der Tür. In ihrem bunten, eng anliegenden Kleid. Unter dem ihr Bauch ganz schön gewachsen war. Genau wie Elses. Ob sie damit überhaupt auf das Fahrrad passt? So viel Platz ist ja nun auch wieder nicht. Zwischen Sattel und Lenkstange.
„Mama“, sagte Rosi, „ich glaube, du passt mit dem Baby nicht auf das Fahrrad.“
„Das lass mal meine Sorge sein“, lachte Else. „Zerbrich dir nur nicht meinen Kopf. Sowas aber auch.“
„So sind die Kinder heutzutage“, sagte Frau Schwede belustigt. „Zerbrechen sich den Kopf der Erwachsenen. Meine auch manchmal.“
Neben Frau Schwede standen Gitta und Lothar. Ihre Kinder. Die sich auch manchmal den Kopf der Erwachsenen zerbrachen.
Margitta wanderte von Elses Arm auf Frau Schwedes Arm. „Na, komm“, sagte sie zu Bertraud Johanna und nahm ihre Hand. „Bei uns seid ihr gut aufgehoben.“

Der Tag schien wieder wunderschön zu werden. Wie es sich gehört. Für einen Sommertag.
Else und Rosi holten ihre Fahrräder aus dem Schuppen. Jutta sollte auf Elses Gepäckträger. Karlchen auf Rosis.
„Es wird Zeit“, murrte Karlchen, „dass ich ein eigenes Fahrrad bekomme.“
„Das denke ich auch“, pflichtete Rosi ihm bei. „Mir wirst du nämlich auch langsam zu schwer“, neckte sie Karlchen. „Du bist ja fast so groß, wie ich.“
„Stimmt“, sagte Else, „aber woher nehmen. Wenn nicht stehlen?“
„Auf dem Schuttplatz liegen überall Fahrradteile herum“, sagte Karlchen. „Die könnten wir doch holen.“
„Könnten, ja“, lachte Else. „Aber wer soll sie zusammenbauen?“
„Na, der Richard“, schlug Karlchen vor. „Der ist doch Schlosser von Beruf.“
„Das schon“, sagte Else. „Aber ob er will, steht auf einem anderen Blatt. Außerdem ist es noch nicht spruchreif. Jetzt geht es erstmal nach Ziegelroda.“
Else holte die Taschen mit den Sachen, die die Kinder unbedingt mitnehmen sollten, aus dem Flur und hängte sie an die Lenkstangen. „So, ab geht's“, sagte sie, während sie ihr Fahrrad mit dem blauen Lenker durch den Flur schob, „bevor es wieder zu heiß wird.“
Karlchen trottete, nicht gerade begeistert, hinter Else her. Hinter ihm Jutta. Hinter Jutta Rosi. Mit ihrem Fahrrad mit dem roten Lenker.
Ob Else wohl daran denkt, dass Karl die beiden Fahrräder eines Tages heimlich vor Brühl 18 abgestellt hatte? Bestimmt nicht. Bestimmt hatte sie ihn vergessen. Jedenfalls sprach sie schon lange nicht mehr von ihm. Weder Gutes. Noch Schlechtes. So, wie früher. Aber jetzt, wo sie nach drei Jahren wieder nach Ziegelroda fahren würden, musste sie sich ja an ihn erinnern.
„Mama“, fragte Rosi, „denkst du noch manchmal an Papa?“
Vor Schreck blieb Else wie angewachsen stehen. Ihr blieb förmlich die Spucke weg. Sie schluckte und erwiderte leise: „Jetzt hör aber auf mit dem Quatsch. Und der dummen Fragerei. Es gibt Wichtigeres als an Dinge zu denken, die vergangen sind.“
„Aber ohne Papa hätten wir keine Fahrräder“, blieb Rosi hartnäckig.
„Stimmt“, gab Else zu. „Und das ist auch das einzige, dass dein Vater gut gemacht hat“, sagte sie streng. „Und den Brühl hoch schieben wir die Räder.“ Else schloss die blaue Tür ab und legte den schweren Schlüssel auf die Ablage. „Am Kleffer können Heinzi und Jutti dann aufsitzen“, fügte sie hinzu.
Als Else, Rosi, Jutta und Karlchen mit ihren Fahrrädern vor Brühl 18 traten, wurden sie fröhlich von Herrn und Frau Schmids empfangen. „Wir müssen uns doch von den Kindern verabschieden“, sagte Frau Schmids. „Was Willhelm?“
Herr Schmids, der Willhelm, der jetzt kein Nazi mehr war, sondern ein Parteimitglied der SED, nickte beflissen. „Das müssen wir wohl“, sagte er. Er legte einen Arm um Frau Schmids und küsste ihre Hand.
Frau Schmids schaute etwas verschämt zu Else. „Also dann gute Fahrt“, sagte sie. „Erholt euch gut. Und kommt gesund und munter zurück.“
„Danke“, erwiderte Else. „Nun müssen wir aber los.“

*
Das letzte Stück durch den Ziegelrodaer Forst mussten sie wieder laufen. Es ging ziemlich steil bergauf. Als Rosi den Glockenstuhl zu ebener Erde rechts von ihr und linker Hand die Dorfkneipe "Zur guten Quelle" erblickte, kamen ihr plötzlich die Tränen. Ganz deutlich sah sie die Fahrt mit Gruselrichard vor ihren Augen. Durch das schöne Thüringer Land. Dann weiter über Wiehe und Lossa nach Rossleben. Hinein in das wunderschöne SachsenAnhaltLand. Dann den Waldweg nach Ziegelroda. Hinter dem Tränenschleier ihrer Augen sah sie die Lichtung mitten im Wald. Eine Wiese voller Fliegenpilze, Anemonen und Butterblumen. Und die Mittagssonne tauchte alles in flirrendes Licht.
"Hier bleiben wir", hatte Richard gesagt. "Es ist so wunderschön hier."
Und später, genau an dieser Stelle, an der sie jetzt stand, überwältigt von der Erinnerung, hatte sie ihre Arme ausgebreitet und übermütig geträllert:
"Das ist mein Ziegelroda. Das ist mein Ziegelroda."

Plötzlich verdunkelte sich das anmutige Bild hinter Rosis Tränenschleier.
Das war Rosis Ziegelroda. Das Ziegelroda. In dem der Richard mit den struppigen, schwarzen Haaren, der Augenklappe und dem blechernen Ziegenlachen so plötzlich vor ihren Augen gestorben war.
Zu ihrem Entsetzen sah Rosi diese schreckliche Szene wieder vor sich. Nichts war vergessen. Nichts. Alles war wieder da. Als wäre es soeben erst geschehen.

„Vierzigtausend Menschen mussten ihr Leben lassen“, hatte Richard geklagt. „Vierzigtausend. Und wäre Nanny, meine geliebte Nanny, nicht gewesen, wäre ich auch unter ihnen.“
Aus Richards Augen tropften die Tränen. Ganz langsam sickerten sie unter der Augenklappe hervor. Rannen seinen dürren Hals hinab. Blieben hängen an dem vorstehenden Adamsapfel. Sein Kopf drohte, zu bersten. Sein Herz brannte. Sein Leben war zerstört. Schmerzhaft, unsäglich schmerzhaft wurde ihm bewusst, dass er nicht mehr richtig tickte. Er sehnte sich nach Nanny. Er musste so schnell, wie möglich, zurück. Zurück. Zu Nanny.
„Nanny!“, schrie Richard. „Nanny! Ich verbrenne!“ Mit beiden Händen fasste sich Richard an seinen Kopf. Dann an sein Herz. „Nanny“, flüsterte er. „Geliebte Nann…“
Wie ein Stein stürzte Richard zur Erde. Er breitete die Arme aus. Seine Hände krallten sich in das weiche Gras. Die Augenklappe rutschte über seine tränennasse Wange.
Erschreckt hatte Rosi sich neben Richard in das Gras gehockt. In seine verdrehten, starren Augen geschaut. Sein ausgemerkeltes Gesicht gestreichelt und geflüstert: „Warum weinst du? Onkel Richard? Als er nicht antwortete, hatte sie ihn trösten wollen und gesagt: „Alles wird gut.“
Doch nichts wurde gut. Richard atmete nicht mehr. Sein Leben war zu Ende.

Dieses Erlebnis hatte Rosi all die Jahre verdrängt. Nun waren die Bilder mit Macht zurück gekommen.
Rosi schmiss ihr Fahrrad auf die Erde. Weinend kauerte sie sich auf den Bürgersteig. Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Als könne sie so die traumatischen Bilder verscheuchen. Zurückdrängen in die Dunkelheit. In die ewige Finsternis. Doch es half nichts. Die Bilder verschwanden nicht. Sie wurden immer bedrohlicher.
Von Richards geliebter Nanny hatten sie auch nie wieder etwas gehört. Nach der Nachricht von Richards Tod war sie wie vom Erdboden verschwunden. Die süße Nanny. Die aussah, wie das Schneewittchen im Märchen. Und die immer ihr Mariandellied sang.

Mariandel andel - andel
Aus dem Wachauer Landel Landel
Dein lieber Name klingt
Schon wie ein liebes Wort
Mariandel andel andel
Du hast mein Herz am Bandel Bandel
Du hältst es fest und lässt
Es nie mehr wieder fort

„Schrecklich, schrecklich“, flüsterte Rosi. „Ich kann da nicht hin. Ich kann da nicht hin.“

„Was ist denn mit dir los?“, riss Elses muntere Stimme Rosi aus ihren trüben Gedanken. „Erst vorneweg rennen. Dann sitzen bleiben“, lachte sie. „Los, aufstehen. Es ist nicht mehr weit.“
Doch Rosi rührte sich nicht vom Fleck. Ihr war, als müsste sie jetzt ewig hier hocken bleiben. „Ich kann nicht“, schluchzte sie. „Es ist zu schlimm. Ich will zurück.“
„Was kannst du nicht? Wie zurück?“, wurde Else ungeduldig.
„Rosi weint“, sagte Jutta.
„Sie hat wieder ihren Bock“, gab Karlchen seinen Senf dazu.
„Sag endlich, was los ist“, forderte Else Rosi auf. „Und nimm dein Fahrrad vom Boden.“
Rosi nahm all ihre Kräfte zusammen. Sie stand auf und wischte sich energisch die Tränen aus den Augen. „Ach. Nichts“, sagte sie, während sie ihr Fahrrad nahm. „Mir ist nur etwas schwindlig geworden.“
„Das kommt davon“, gab sich Else zufrieden, „wenn man es immer so eilig hat. Wer langsam macht, kommt auch zum Ziel. Aber du musst ja immer die erste sein.“

Wer langsam macht, kommt auch zum Ziel. Da lachen ja die Hühner. Das musste ausgerechnet Else sagen. Wo sie doch ständig wie ein Quirl immer überall und nirgends ist. Und auch den Kindern kaum mal eine Ruhepause gönnt.

„Einfach lachhaft“, kicherte Rosi.
„Einfach lachhaft“, äffte Else Rosi nach. „Das ist es auch.“
„Ich geh schnell mal zum Glockenstuhl“, sagte Rosi. „Mal sehen, ob die Glocken noch klöckern.“
„Ich auch. Ich auch“, sagten Jutta und Karlchen fast gleichzeitig.
„Aber nur eine Minute“, war Else einverstanden. „Die Großeltern erwarten uns. Ich habe ihnen doch ein Telegramm geschickt.“

***

Fortsetzung folgt
 
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