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Unser schönes Land I: Sautreiben in Raubingen

Amüsantes/Satirisches · Kurzgeschichten
In den ländlichen Gebieten Niederbayerns, da, wo sich die Landschaft sacht gen Himmel wölbt und die Alpen ankündigt, gibt es immer noch alte Traditionen und Bräuche aus vorchristlicher Zeit, die den Alltag beeinflussen.
Zu den ältesten und wichtigsten gehört, im Rahmen des Heiratsmarktes, das Schweinetreiben.
Da die junge Landbevölkerung zunehmend mit der Adoleszenz lieber in die Städte umsiedelt, das Dirndl gegen Lackhosen eintauscht und zur „Bazipreiss’n-Musik“ von Mousse T. abhottet, hat für die wenigen Hinterbliebenen dieser alte Brauch, der früher mehr eine Mordsgaudi mit anschließendem Kollektivbesäufnis war, eine schier überlebenswichtige Stellung eingenommen.
„Mei“, erklärte mir die alte Moosbäuerin bei meinem letzten Aufenthalt in Raubingen, „ ‘s is hoit ni mea wie domols, wo die Jugend no g’wußt hot, wo ia ihm soane Wutz’n woarn. Mei Monn, moriosaisainaseelegnädig, hot mi domols au beim Sauntreib’n hoamg’fführt. Do da hätt ma no ohne Spiulerei an Gatt’n g’fundn.“
Die gute alte Frau fing fast an zu weinen und schneuzte sich kräftig in den alten Kartoffelsack, den sie zum Flicken auf ihren Knien ausgebreitet hat. Ja, die Niederbayern: Flache Köpfe vom Steinschlag und dicke Nasen vom Mangel an Zewa Softies.
Dieses mal war ich nicht zur Erholung nach Raubingen gekommen, sondern um dem nun mehr aus Jungfernmangel nur noch sporadisch stattfindenden Werberitual des putzigen Völkchens beizuwohnen. Glücklicherweise hatte mich der Bürgermeister rechtzeitig benachrichtigt und ich konnte schon an den Vorbereitungen des großen Festes teilnehmen. Fotografieren durfte ich freilich nicht, da die Raubinger fürchten, ihnen würde ein Teil ihrer Seele gestohlen, wenn man sich ablichten ließe. Ein Ehepaar, das sich vor dreißig Jahren bei einem Besuch im Nachbarort ein Pixifoto machen ließ, blieb bis auf den heutigen Tage kinderlos.
Ach, in welcher Pracht begann das Dorf zu erstrahlen, als ich auf meinem Esel in die Schlucht einbog. Blumen an allen Türpfosten, der Platz vor der Bürgerhütte vom Dung befreit und allüberall die jungen strammer Bauernburschen mit ihren majestätisch dahinschreitenden Sauen an blumenumwundenen Hanfstricken.
Fünfundzwanzig junge Bauern sind dieses Jahr hier angetreten und die Konkurrenz ist hart, denn es fanden sich nur drei mannbare Jungfern im ganzen Tal. Rötlich schimmert die Abendsonne auf den Rücken der riesigen Schweine, dem Stolz des jeweiligen Hofes. Drei Generationen muß ein Schwein nachweislich im Familienbesitz sein, damit niemand ein aus Preußen eingeführtes Tier antreten läßt. Nirgends ist Preußen so groß wie in Raubingen, denn es beginnt hinter der nächsten Hügelkette. Wenn der große deutsche Schriftsteller Konsalik schrieb „Niemand ist eine Insel“, dann war er gewiß nie in Raubingen.
Stille senkt sich über das Dorf und während die Burschen ihren Tieren noch mit erlesenen Kräutern vermischte Körnerkost darreichen und beschwichtigend auf sie einreden, schlagen ihre Herzen in banger Hoffnung, daß sie morgen einer der drei Glücklichen sein mögen, die eine Braut heimführen.
Am nächsten Tag erwacht der Ort schon früh zu summender Betriebsamkeit. Mit dem ersten Hahnenschrei sind alle auf den Beinen.
Die Frühmesse ist sehr gut besucht: vom jüngsten Buam bis zur ältesten Vettel (die Moosbäuerin, Anm. d. Autors) sind alle erschienen und lauschen andächtig den Worten des alten Pfarrers, welcher sein Amt vom Pfarrer vor ihm übernahm und lernte. Hier ist die Wache über das Seelenheil der Gemeinde ein Ausbildungsberuf, denn einen von „jenseits der Hügel“ oder auch nur jemanden, der dort gewesen ist und womöglich teuflisches Gedankengut oder gar die Elektrizität nach Raubingen bringen könnte, will man hier nicht akzeptieren. Obendrein bleiben beim Schweinetreiben immer genügend junge Männer übrig, die nach fünf, sechs Versuchen nur allzugern bereit sind, allem Fleischlichen zu entsagen, um fürderhin der Gemeinde zu dienen.
Ich bin auch nur ein geduldeter Gast, nach langer mühsamer Annäherung an dieses scheue Völkchen, dem Erlernen ihres sonderbaren Idioms und durchleiden geheimer Jungmännerrituale in Vollmondnächten (darüber darf ich nichts verraten, aber die Tatsache, daß nur 15% der Bevölkerung weiblich ist und mein Stammesname „der, wo mit uns oallen danzen dut“ lautet, möge ausreichend Anlaß zu Spekulationen bieten), Litern des Trinkens des einheimischen Bieres und pantomimischer Darstellung der gesamten Weltpolitik im Fackellicht. Nachdem ich mir solcherart ein Quentchen von Anerkennung erkämpft hatte, konnte ich kommen und gehen, wie es mir gefiel. Auch meine konspirativen Treffen mit den jüngeren Ehefrauen des Dorfes, und hier spreche ich als ethisch fest in unserer Gesellschaft verankerter Anthropologe, nicht als Wüstling, zur Erweiterung des Genpool ob des eventuellen Aussterbens der Dörfler entgegenzuwirken.
Die Andacht ist wundervoll, einfach gehalten und der melodiöse, stellenweise gutturale Vortrag, wie er nur in dieser seit Jahrhunderten von äußeren Einflüssen bewahrten Sprache möglich ist, greift auch nach meiner Seele und weckt in mir fast den Wunsch, ewig zwischen diesen guten Menschen verweilen zu dürfen. Doch gleichsam ist mir bewußt, welchen Verzicht ich üben müßte, um diesen Traum zu erfüllen: keine Hosen mit Reißverschluß, nie wieder das Meer sehen und, und das vor allem, nie wieder eine vernünftige Caipirinha, ganz zu schweigen von auch nur einer ihrer Zutaten.
Nachdem die Gemeinde die kleine Dorfkirche verlassen hat, schnallt sich jeder einen Ranzen mit einer Brotzeit auf, denn der Marsch zum Veranstaltungsort führt uns in die umliegenden Berge und wird bis zum frühen Nachmittag andauern.
Gegen Mittag haben wir die erste Etappe am Hang genommen, Mensch und Schwein sind gleichermaßen erschöpft, sinken aneinandergelehnt zu Boden und stärken sich mit Brot und Bier bzw. Körnermast und frischem Wasser aus dem reißenden Gebirgsfluß, an dem unser Weg entlang führt und dessen Gischt die einzige Abkühlung in der sengenden Hitze der Mittagssonne darstellt. Die Sauen suhlen sich ein wenig im schlammigen Uferbereich, um ihre empfindliche Haut zu schützen.
Für einen jungen Mann kommt bereits hier schon das Aus, den in einem unbeobachteten Moment ist seine Sau auf glitschigen Steinen ausgerutscht und hat sich die recht Vorderhaxe gebrochen. Weinend und lamentierend beginnt er, aus dem harten Gras der Uferböschung, eine Trage zu flechten. Bis wir wieder absteigen, wird sie fertig sein und das Schwein wird dann abwechselnd von vier jungen Männern zurückgetragen.
Weiter führt uns unser Weg, immer höher hinauf, bis wir den Veranstaltungsort erreichen.
Ein Plateau, fast exakt in der Mitte vom Fluß durchtrennt, breitet sich vor meinen Augen aus. Eine kräftige Brücke verbindet die Bergwiesen miteinander und nach einer weiteren Andacht im kühlen Schatten der steil aufragenden Felswand nehmen die Dorfbewohner auf beiden Seiten der Brücke Aufstellung. Über die Startpositionen entscheidet das Los, denn maximal vier junge Männer können auf einmal antreten.
Unter großem Gejubel ihrer Angehörigen nehmen die ersten Kontrahenten auf der Brücke Aufstellung, ihre nervösen Schweine fest am Strick.
Der Älteste gibt das Startsignal: “Oans, zwoa, rin mit die Sauviechern!“ und mit vor Aufregung glänzenden Augen reißen die Burschen ihre zentnerschweren Tiere auf die Hinterbeine, schneiden ihnen die Kehlen durch und wuchten sie unter größten Anstrengungen über die Brüstung.
Rot schäumt das Wasser auf, als die quiekenden Schweine auf die Oberfläche prallen, doch sogleich ist es vorbei und die Tiere werden um die nächste Windung gespült und mit zufriedenen Mienen, bar aller aufgestauten Erregung, weichen die Jünglinge von der Brücke und machen den nächsten Teilnehmern Platz. Für alle heißt es nun Abwarten, die Frage von Vermählung oder Einsamkeit bis zum nächsten Sautreiben liegt nun in der Hand des Flusses.
Als die letzte Sau mit weh und ach im Wasser gelandet ist, wird eilig zum Rückweg gerüstet. Alle sind gespannt auf das Ergebnis und die jungen Burschen ziehen sich gegenseitig auf über die Qualitäten ihrer und der anderen Schweine als Schwimmer. Die Dörfler gehen nun nicht gemeinsam den Weg zurück, sondern teilen sich an den Flußufern auf und suchen sie nach den angetriebenen Schweinen ab.
Bereits nach dreihundert Metern wird das erste entdeckt, vollkommen verkeilt in eine ins Wasser gestürzte Fichte. Mit Seilen wird der Kadaver an Land gezogen und identifiziert. Der jüngste Enkel der Moosbäuerin ist aus dem Rennen, doch er nimmt es mit Gelassenheit, denn für ihn wird es noch viele Gelegenheiten geben, am Sautreiben teilzunehmen.
Je weiter wir absteigen und je ruhiger der Fluß wird, desto häufiger stoßen wir auf die angetriebenen Tiere. Hier eins an einen Felsen angetrieben in der Flußmitte, da eins einfach ans Ufer gespült. Als das Dorf in Sichtweite ist, sind nur noch drei Schweine unaufgefunden und ihre Besitzer im höchsten Maße aufgeregt. Sie treiben den Konvoi zu immer größerer Eile an, denn noch ist nicht jeder von ihnen unter der Haube. Nicht einmal, als eins der Schweine unweit des Dorfes in einer sachten Biegung entdeckt wird, verlangsamt sich das Tempo. Im Gegenteil, als der letzte Verlierer aufheulend über seinem toten Schwein zusammenbricht, beschleunigt die Gemeinschaft noch ihren Schritt, denn der Sieger darf seine Braut auswählen und bekommt von jedem Teilnehmer ein Ferkel aus dem letzten Wurf der angetretenen Sauen.
So mischen sich denn auch Enttäuschung und Freude im Verhalten von Joseph Steirhof, als sein Schwein in den Untiefen in der Mitte des Dorfes gefunden wird. Der Sieger steht fest und kann sich doppelt und dreifach freuen, denn seine Sau liegt, zerschunden zwar, aber noch gut zu erkennen, dreizehn Meter hinter der bisherigen Rekordmarke, die vor über hundert Jahren von seinem Ururururgroßvater und seiner Sau, die eine direkte Vorfahrin des aktuellen Tieres ist, aufgestellt wurde.
Ein ereignisreicher Tag neigt sich dem Ende zu, doch das Dorf ist durch die Aufregungen der vergangenen Stunden noch so munter, daß sich die Feier bis zum Hahnenschrei fortsetzt. Nach und nach verwinden die Verlierer ihre Enttäuschung und reihen sich ein in die Gesänge und Tänze ihres Volkes.
Ich hingegen sitze am Rande des Festplatzes, ein Fremder in ihrer Mitte, und kann die Tränen der Rührung kaum unterdrücken.
Mag uns dieses Ritual auch barbarisch und wild vorkommen, sichert es doch den Fortbestand des Dorfes und führt uns vor Augen, wie wichtig es ist, stille Reservate zu erhalten und das Eindringen unserer Zivilisation zu verhindern.
Vielleicht führt eines Tages eine besonders schwimmfähige Sau die Bewohner von Raubingen in unsere Welt und verändert sie und uns, aber ich hoffe, daß bis dahin noch viele friedvolle Jahre in den Tälern Niederbayerns vergehen werden und noch so manches „Quuuuuiiiiiieeeeeekplatsch“ von den hohen Felshängen widerhallt, die dieses freundliche Volk beschützen.
 
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Kommentare  

Ach!, wie schlägt mein Hobbyethnologinnenherz Purzelbäume vor Freude. War ich mir doch von jeher der schmerzlichen Bildungslücke bewusst, die das Nichtwissen um die geheimen Fruchtbarkeitsrituale des prätouristischen Homo Sapiens Niederbayriensis bei mir hinterlassen hat! Endlich ist die Lücke geschlossen, die tiefe Sehnsucht befriedigt - dem Autor mein tiefempfundener Dank.
Eine leise Wehmut bleibt zurück, ein Sehnen nach jenen fernen Gefilden, wo sich um eine einzelne Jungfer noch 23 stramme "Mannsbuider" reißen, auch wenn diejenige gegen Sandra Bullock und Sharon Stone nicht anstinken kann. Wer weiß, vielleicht fasse ich mir irgendwann ein Herz und beantrage die niederbayrische Staatsbürgerschaft...?
Volle fünf Pünktchen - würde mehr geben, wenn's möglich wäre.


Gwenhwyfar (05.07.2002)

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