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5 Seiten

Der Verschlag

Trauriges · Kurzgeschichten
© Kyra
Sie saß neben ihrer Matratze auf den Steinfliesen und legte mit den durchweichten Resten ihrer Cornflakes eine seltsame Form auf den Boden. Was sie dort sorgfältig auslegte ähnelte entfernt einem Tier, hatte allerdings nur drei Beine und einen winzigen Kopf. Immer wieder schob sie einzelne Teile etwas zu Recht, bis sie mit dem Ergebnis zufrieden war. Ihr Oberkörper pendelte zufrieden zu einer unhörbaren Melodie, während sie mit schief gelegtem Kopf ihr Werk betrachtete. Dann wischte sie mit beiden Händen die nassen Flocken zu einem Häuflein zusammen, steckte das ausgelöschte Bild in den Mund und kroch auf ihre Bettstadt zurück. Hier umschlang sie die dreckige Wolldecke mit Armen und Beinen, legte den Kopf auf den rauen Stoff und begann leise einen hohen Ton zu singen - es war keine Melodie, nur dieser eine klagende Ton, den sie lediglich unterbrach, um keuchend neue Luft einzusaugen.
In die dämmrige Kammer fiel das Tageslicht durch eine einzelne Reihe Glasbausteine in zwei Wänden, diese lagen so hoch, dass sie nicht hindurch sehen konnte.
Später, als das Mittagslicht in der Kammer bis auf den Boden fiel, erhob sie sich wieder von ihrem Bett und ging, die Wolldecke hinter sich herschleifend, in die Ecke in der außer einem Blecheimer mit Deckel noch ein Haufen alter Wäsche, Flicken, Bretter, ein Christbaumständer und eine abgeschabte Nussknackerfigur lagen. Dort breitete sie unbeholfen die Decke aus, setzte sich breitbeinig hin und zog den Nussknacker zu sich. Vorsichtig öffnete sie den riesigen Mund der Figur und steckte ihren abgemagerten Zeigefinger hinein. Langsam schloss sie den Mechanismus, ließ den Finger bis zum letzten Augenblick darin, um ihn dann mit einem höhnischen Lachen wieder herauszureißen. Schließlich packte sie die Holzfigur an den Beinen und hieb deren Kopf heftig auf den kalten Boden. Dieses Spiel wiederholte sie einige Male, bis ihr vor Kälte die Zähne aufeinander schlugen und sie sich mit der Decke wieder auf ihr Lager zurückzog. Eingehüllt hockte sie sich hin und starre mit weit zurückgelegtem Kopf nach oben auf den Lichtstreifen. Sie wiegte sich sachte, ihren nassen Mund geöffnet, die Zunge rammte in monotonem Rhythmus gegen die beiden letzten, bereits lockeren Schneidezähne. Von draußen drangen Geräusche, Lachen und vereinzelte Worte in ihren Kerker, sie achtete nicht auf die vertrauten Laute die keinen Sinn für sie hatten. So blieb sie lange Zeit sitzen, bis nahes Kindergeschrei ihre Aufmerksamkeit erregte.

„… das geeehöhhrt miiiir….daaas geheeehöört miiiiiiir….“

Sie versuchte die Laute zu formen…

„… das geeehööhhrrrt miiiirrr….daaasss geheeehöörrrt miirrrr….

Ihre Stimme war etwas heiser, unmelodisch - kippte manchmal wie bei einer Taubstummen. Sie wiederholte die Worte immer wieder, bis die Töne aufhörten kehlig zu klingen, geschmeidig wurden,

„… das geeehöhhrt miiiir….daaas geheeehöört miiiiiiir….“

Ein weites Lachen brach aus ihrem mageren Körper. Plötzlich sah sie zur Decke empor, verstummte, beugte ihren Kopf nach vorne und schlug sich mit den Fäusten auf den Schädel, zerrte an ihrem dünnen gelblichen Haar und biss sich schließlich grausam in die Unterarme, bis der Schmerz ihr schließlich einen Laut entlockte, der keine Worte mehr kannte. Erschöpft ließ sie sich nach hinten sinken und fiel in einen leichten Schlaf.
Jetzt, wo ihre Gesichtszüge entspannt waren, erkannte man das Antlitz eines Mädchens - Ruhe ließ die Zartheit wieder in ihre Züge fließen. Auf dem Körper einer Fünfjährigen trug sie den Kopf eines doppelt so alten Kindes. Ihr Schädel war an einigen Stellen kahl und grindig, an anderen stand ihr filziges Haar vom Kopf ab, darunter ein völlig verschmutztes, blasses Gesicht. Der kleine Körper schien sich in seiner Entwicklung vom Kopf getrennt zu haben, dem er alleine das Wachstum überlassen hatte. Ausgezehrt, grade noch stark genug sich aufrecht zu halten, lag sie nackt auf der schmutzstarren Matratze.
Als sie erwachte, wollte das stumpfe Licht im Raum keine Farben mehr preisgeben und sie vernahm Schritte vor der Tür, eine bekannte Stimme schrie wütend etwas, dann wurde der Schlüssel im Schloss umgedreht und eine wuchtige Frau betrat den Raum. Einen Augenblick blieb sie in der Dämmerung stehen, tastete nach dem Lichtschalter über dem Türrahmen – plötzlich wurde der Raum von einer Deckenlampe erhellt, so gleißend, dass das Kind auf der Matratze sich mit einem Kauzenschrei unter der Wolldecke verkroch. Durch den fadenscheinigen Stoff beobachtete sie ängstlich die Frau, als diese mit angewidertem Gesicht den Eimer aus der Ecke nahm, hinausging und wenig später mit dem nassen Gefäß zurückkehrte. Scheppernd stellte sie den Blecheimer ab, beugte sich über das verschmutzte Lager und befühlte die Matratze, als sie eine feuchte Stelle fand, schlug sie wortlos auf das zugedeckte Mädchen ein. Wimmernd versuchte das Kind mitsamt der Wolldecke auf allen Vieren vor der niederfahrenden Hand zurückzuweichen, ein kopfloses Tier auf der Flucht. In der entferntesten Ecke blieb sie zitternd kauern, sah mit qualvollem Entsetzten die Frau an, die einen Augenblick Anstalten machte, sie zu verfolgen, dann aber von ihr abließ, um sich ärgerlich ihr wirres Haar wieder aufzustecken. In diesem Augeblick sah ein neugieriges Kindergesicht in die Zelle, ein hübscher Junge von ungefähr fünf Jahren sonnenblond und fröhlich. Wütend sprang die Frau zur Tür und schlug diese so heftig zu, dass loser Mörtel am Rahmen herunterrieselte, während sie schrie,
„Tausendmal habe ich euch gesagt, dass ihr hier nichts zu suchen habt… sie ist krank, wie oft soll ich das noch sagen…wollt ihr auch krank werden, oder was?“
Das Kind verstand die Worte nicht, zu lange war es her, dass jemand mit ihr gesprochen hatte. Ihre Erinnerung an früher verblasste immer mehr, sie wusste zwar noch, dass sie die Frau einst Mama nennen durfte, aber dies war ihr schon seit langem verboten, zudem hatte sie vergessen was dieses Wort bedeutete.
Schweigend stellte die Frau eine Schüssel mit Nahrung vor sie hin, kleine braune Kugeln und einen Plastikkrug mit Wasser. Dann löschte sie das Licht und verließ den Raum.
Draußen schüttelte die Frau angewidert den Kopf, wollte das Elend schnell aus ihren Gedanken scheuchen. Durch einen schmalen Hof kam sie von dem kleinen Anbau in die Küche, dort wartete nicht nur der blonde Junge an einem gedeckten Tisch auf sie, sondern noch drei ältere Buben und ein kleines Mädchen auf einem Kinderstühlchen. Ein schmaler Mann stand am Herd und rührte in einer riesigen Pfanne mit Speck und Kartoffeln, zu seinen Füßen fraß ein alter Jagdhund das gleiche Futter aus einem Napf, welches sie eben dem Kind gebracht hatte. Seufzend setzte sich die Frau an den Tisch und ließ sich mit einem Nicken den Teller auffüllen. Nachdem der Mann allen etwas aufgetan hatte, setzte er sich still neben sie. Er war wohl etwas jünger als sie, aber Gram schien seine Jugend vorzeitig aufgezehrt zu haben. Die Kinder beachteten das elterliche Schweigen nicht, zankten sich, schrieen und balgten sich. Allein an der dumpfen Stille der beiden Erwachsenen zerschellte schließlich auch ihr Übermut und sie aßen beinahe leise zu Ende.
Als alle schon schliefen, starrte die Frau mit ebenso leeren Augen zu der Decke wie das Mädchen in seinem Verschlag. Sie hatte Angst, Angst vor der Entdeckung, die einmal kommen würde, da war sie sich sicher. Fünf Jahren hielt sie das Kind schon dort unten eingesperrt, seit sie mit jenem Mann zusammen war, der jetzt leise neben ihr atmete. Dieses Mädchen war immer schon etwas schwierig, empfindsamer als die drei Jungen, aber als sie wieder schwanger wurde, war es einfach nicht mehr auszuhalten gewesen. Ihr ging es damals auch nicht gut in der Schwangerschaft, ihr neuer Mann kam nicht mit den Kindern zu Recht, vor allem nicht mit ihr. So sperrte sie die Kleine einmal für einen Tag in die Kammer – so einfach war das gewesen. Sofort war zu merken, wie viel unbeschwerter sich alle fühlten, vor allem sie und dieser liebe Mann der sie genommen hatte, trotz ihrer vier Kinder. Ohne dass sie jemals darüber sprachen, blieb das Kind immer länger eingesperrt, bis sie nach einigen Monaten ihren Kerker nicht mehr verlassen durfte. Zu Beginn hatte die Frau immer wieder daran gedacht, dass man sie wieder einmal herauslassen müsse, aber diese Gedanken verschwanden mit der Zeit. Heute verdarb ihr das Mädchen von ihrem Gefängnis aus das Leben, immer stärker wurde ihre Angst vor Entdeckung, der folgende Schande, die sie alle in einen Abgrund reißen würde. Als könnte dieses entsetzliche Kind sich noch aus der Tiefe an ihnen rächen. Dabei hatte sie die Kleine früher geliebt, mehr geliebt als die Söhne, was konnte sie dafür, dass sie plötzlich so schwierig wurde…
Zwei Monate später geschah im frühen Morgenlicht genau das, wovor sich die Frau so gefürchtet hatte. Sie wurde mit ihrem Mann und den Kindern von der Polizei unter den Augen aller Nachbarn weggebracht. Aber zuvor hatten sie den Verschlag geöffnet und das verängstigte Mädchen auf einer Trage hinausgebracht. Kraftlos weinend lag sie darauf, ihr schmerzen die Augen von dem grellen Licht der aufgehenden Sonne als sie zum Krankenwagen getragen wurde, sie hielt die abgemagerten Arme schützend vor das Gesicht.
Der Ruf einer Kinderstimme ließ sie aufhorchen - ein Wort dessen vertrauten Klang sie längst vergesse hatte
„Sarah… Sarah….“
Sie öffnete die Augen und lächelte verzerrt – plötzlich wusste sie wieder, dass sie, sie selber, Sarah war.

 
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Kommentare  

Eine Traurige Geschichte, erinnert mich ein wenig an Kaspar Hauser. Man könnte fast meinen man hätte einen Film gesehen, weil die Worte so viele Bilder freisetzen. Es ist schrecklich, was heute so passiert/ passieren kann. Die Geschichte ist leider kein Märchen. Soetwas gibt es in der bösen Welt viel zu oft. 5 Punkte. lg Sabine

Sabine Müller (14.04.2006)

Menschen sind in ihrer Grausamkeit die
entsetzlichsten und erbarmungslosesten
Lebewesen dieses Planeten, wie ich finde.. nicht nur
den anderen Mitbewohnern der Erde gegenüber,
sondern vor allem auch sich selbst. Und gerade
deshalb bedrückt diese Geschichte so, weil einem
nicht im Geringsten die Hoffnung gegeben wird, so
etwas könnte nicht passieren. 5 Punkte auch von
mir!


Trainspotterin (02.12.2002)

Bin erst relativ kurz dabei und noch dabei, mich so langsam, langsam durch sämtliche Geschichten nach hinten durchzulesen, daher bin ich erst jetzt (durch einen Eintrag von Stefan im Forum) auf die Geschichte aufmerksam geworden.
Zunächst einmal: Fünf Punkte auch von mir. Etwas anderes käme bei einer solchen Geschichte überhaupt nicht in die Tüte. Und wie auch schon meinen Vorschreibern, sind mir diese fast zuwenig.
Das absolut Ungewöhnliche ist, dass Du hier ganz bewusst auf den moralischen Zeigefinger verzichtest, die Unmenschlichkeit dieser "bösen" Menschen nicht so überzeichnet in den Vordergrund stellst - Deine Geschichte will gar keine Empörung im Leser wecken! Keine Selbstgefälligkeit Marke "Gott, ich danke dir, dass ich besser bin, ich würde sowas NIEEEE tun", kein "Pfui" in Richtung der Mutter und der restlichen Familie. Deutlich fühlt man die Hilflosigkeit, die Überforderung der Frau, die schließlich in diesem Fehlverhalten endete. Die restliche Familie ist mE ebenso zu bedauern wie das unglückliche Kind. Einen kleinen Wutanfall habe ich nur an der Stelle bekommen, wo ich las, dass die Frau dem armen Kind scheinbar Frolic oder sowas zu essen gegeben hat. Das war die einzige bewusste Schikane.
Es hätte alles auch anders ausgehen können. Die Familie hätte beschließen können, die von dem Kind ausgehende und ständig wachsende Gefahr zu "beseitigen". Insofern kann man hier, obwohl vermutlich ein irreparabler Schaden entstanden ist, fast von einem Happy End sprechen.
Und jetzt stürze ich mich auf die anderen Geschichten aus Deiner Feder...


Gwenhwyfar (18.07.2002)

Das ist eine außergewöhnlich harte Geschichte.
Wut und Hass hört man allerdings nicht raus.
Du erzählst sachlich und ruhig, dazu sind bei einem solchen Thema nicht viele fähig.
Zum Thema selbst :
Menschen die aus welchen Gründen auch immer ein behindertes Kind, wie Sarah, in ein Heim oder zur Adoption geben, haben mein vollstes Verständnis. Alleine schon aus dem Grund damit sowas, wie in der Geschichte beschrieben, nicht passiert.Wird jedoch ein solches Kind unter unwürdigen Verhältnissen gehalten, versteckt vor der Aussenwelt, dann habe ich kein Verständnis dafür und frage mich warum solche Eltern das tun. (5 Punkte)


Wolzenburg (17.07.2002)

Oh Junge, Junge! Bei dieser Geschichte braucht man eine Kotztüte! Ehrlich! Selten habe ich etwas Aufwühlenderes gelesen. Bei den letzten Sätzen hätte ich beinahe angefangen zu weinen. Das hat bisher nur eine einzige Geschichte bei mir geschafft: „Das Geheimnis der Puppe“ von Petra Hammesfahr. Auch in der Geschichte wird ein kleines Mädchen in einen Verschlag gesperrt ...
Schlimm ist, dass solche Dinge tatsächlich im wirklichen Leben passieren. Immer wieder kommen solche ungeheuerlichen Fälle ans Tageslicht und es ist nur die Spitze des Eisbergs.
Deine Geschichte ist bisher das BESTE, das ich bei www.webstories.cc gelesen habe!!!
Ich kann nur fünf Punkte vergeben, möchte aber fünfzehn geben!!! Absolut das Beste!


Stefan Steinmetz (01.03.2002)

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