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3 Seiten

Ich träume...

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Manchmal habe ich so ein Gefühl, als ob ich nicht vorankommen würde. Meine Mutter hat immer gesagt, es läge am Alltag der Menschen. Denn Menschen gehen gerne im Kreis, und das jeden Tag - immer und immer wieder. Deswegen müssen wir auch im Kreis gehen. Weil alles der Ordnung der Menschen folgt. Nun ja, ich kenne das auch nicht anders.
Meine Mutter ist sehr früh gestorben. Ihre Beine konnten sie nicht mehr tragen, hieß es. Aber sie hatte gar keine Schmerzen. Sie war einfach nur schrecklich müde gewesen. Müde davon im Kreis zu gehen. Müde bin ich auch geworden. Aber ich habe mir vorgenommen, dass die Müdigkeit mich nie komplett überwältigen wird.
„Höre nie auf zu träumen!“, hat meine Mutter an dem Tag gesagt, an dem sie fortgebracht wurde. Damals habe ich sie nicht verstanden. Ich war zu jung dafür. Heute weiß ich aber, dass Träume die Müdigkeit ersticken. Aber träumen ist manchmal ganz schön bitter. Früher war ich zufrieden damit, mit den anderen auf der Wiese zu toben, und die war nicht einmal besonders groß. Ich würde heute eher sagen, dass diese Wiese zu klein ist, um auf ihr ein ganzes Leben zu verbringen. Aber was weiß ich schon? Ich kenne nur diese Wiese, die kleine Straße, die daneben entlang führt und die vielen kleinen grauen Häuser, die sich dahinter unendlich weit zu erstrecken scheinen.
Im Winter ist der Boden der Wiese oft schlammig und wir sind nur kurz draußen. Im Sommer ist der Boden hart und trocken. Gras wächst dort kaum. Aber ich habe mich daran gewöhnt. Man gewöhnt sich ja an alles - neue Stallgenossen, neue Menschen. Menschen regen wenig zum Träumen an. Die meisten mag ich nicht besonders. Das beruht wohl auf Gegenseitigkeit. Ich frage mich manchmal, ob sie wissen, dass wir sie beobachten und über sie reden.

In der Box neben mir steht Sean Og. Er ist ein altes Shetland Pony. Er mag mich nicht und sagt, ich würde zu viel reden und zu viele Fragen stellen. Aber was soll ich denn machen? Sean Og ist einer derjenigen, die nicht ihr ganzes Leben in diesem Stall verbracht haben. Er kommt von sehr weit her, von dort, wo die Träume ihren Ursprung haben.
Er hat das große blaue Meer gesehen. Bis er hierher kam, wusste ich nicht einmal was das Meer ist, ganz zu schweigen davon, dass es das Meer gab. Er hat mir von seltsamen weißen Vögeln erzählt, die so unerträgliche Laute von sich geben können, wie kleine Menschenkinder es oft tun. Aber noch viel wichtiger sind die Wiesen von denen er erzählt. Endlose, saftige, grüne Wiesen. Mit Tautropfen an den Grashalmen in den Morgenstunden. Kleine Wasserfälle, die in Bäche übergehen. Blumen, unendlich viele Blumen und Schmetterlinge, sobald die Sonne den letzen Schnee geschmolzen hat.
Ich kann dieses Land ganz deutlich vor mir sehen, wenn im Stall das Licht ausgeht und man im Dunkeln nur noch das Atmen der anderen hört. Oh ja, wenn das Mondlicht den Stall erhellt, dann stelle ich mir manchmal vor, dass ich nicht mehr in meiner Box stehe, sondern dort draußen auf meiner Wiese bin und den Mond ansehe. Und dann weiß ich für einen kurzen Augenblick, wie das Meer riecht und wie es klingt. Ich beginne zu laufen. Im Mondlicht donnere ich dahin. Ich bin stark und ausdauernd und verstehe, was Freiheit wirklich bedeutet. Ein Leben ohne die Gesetze der Menschen. Aber wenn am Morgen die Stalltüre aufgeht, dann beginnt der Kreis von neuem.

Heute stehe ich wie so oft draußen auf der Koppel. Hier und da liegt noch etwas Schnee, aber die Sonne scheint warm auf meinen Rücken. Eines der jüngeren Ponys neckt mich und fordert mich zum Spielen heraus. Aber ich drehe mich weg, schaue auf die befahrene Straße und frage mich wohin sie mich bringt, wenn mein Leben endet.
Ein Mädchen öffnet das Gatter und kommt auf mich zu. Jetzt beginn das Anstrengende, das was die Müdigkeit zu nähren scheint. Aber Menschen scheinen selbst Freude daran zu haben von uns im Kreis herumgetragen zu werden.
Sie führt mich aus der Koppel heraus, und ich folge ihr lustlos. Während sie versucht das Gatter hinter sich zu schließen, gleitet ihr der Führstrick aus der Hand. Sie ist neu hier und weiß noch nicht, dass man das Tor ein wenig anheben muss, um es zu schließen. Ich trete unbewusst ein paar Schritte zurück und das Mädchen starrt mich erschrocken an. Für einen Moment begreife ich nicht, doch als sie mit süßer, aufgeregter Stimme meinen Namen ruft und ihre Hand nach dem Strick ausstreckt, wird mir bewusst, welche Chance sich mir in diesem Moment bietet. Ich werfe den Kopf in den Nacken und trete hastig noch weiter zurück. Die anderen haben anscheinend nichts bemerkt, aber ich weiß es jetzt. Als das Mädchen einen weiteren Versuch unternimmt nach mir zu greifen, drehe ich mich auf meiner Hinterhand herum und stürme blindlings los. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich keine Ahnung habe, wohin ich laufen soll. Ich hab den Hof ja noch nie verlassen. Einfach die Straße entlang? Ich laufe weiter. Das Rufen des Mädchens interessiert mich nicht. Nur eins zählt noch: Ich bin jetzt frei.

By Mes Calinum, September 2001
 
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Kommentare  

Hi Kalimera!

Vielen Dank für deinen Kommentar! :)


Mes Calinum (04.03.2004)

Hi,

kann mich nur den anderen anschließen.
Manchmal ist weniger mehr. Kurz und knapp, aber echt gut. (Ok, könnte natürlich durchaus auch fortgesetzt werden)
Wußte am Anfang auch nicht, daß es sich um ein Pferd handelt.
Die Gefühle wurden echt gut rübergebracht.

MfG


Kalimera2002 (04.03.2004)

Wunderschön geschrieben. Als ich das Ende las, hatte ich feuchte Augen. Ich gönn dem armen Pferd seine Freiheit. Hoffentlich läuft und läuft es weiter und wird niemals eingefangen.
Diese Geschichte bringt einen zum Nachdenken. Nie denken wir Menschen darüber nach, wie die Tiere sich eigentlich fühlen. Wenn wir glauben, es geht ihnen gut, sind sie es wirklich?
5 Punkte für diese rührende Geschichte.


Metevelis (30.06.2003)

Hübsch und ohne falschen Kitsch!
Die traurige Situtation eines Reitschulpferdes aus der Sicht des Tieres geschildert. Erst dachte ich, es ist ein menschliches Kind, vielleicht in einem Flüchtlingslager.
Natürlich werden sie das arme Viech bald wieder einfangen, aber das verschweigt die Geschichte barmherzig.
Sehr schön fand ich den "Traum vom Pferdeland" in Irland.
Nur Wenige schaffen es, auf so knappem Raum (gerade mal anderthalb Seiten!) eine komplette Geschichte gut zu erzählen. Fein gemacht!!!
5 Punkte


Stefan Steinmetz (02.06.2003)

Leben, Leiden, Frust und Fernweh aus der Sicht eines Pferdes. Interessante Idee, die geschichte hätte ruhig noch länger sein und in die Abenteuer eines Pferdes übergehen können.
Was es so erlebt in der neu gewonnen Freiheit.
Wäre das neue Leben besser gewesen als die Sicherheit im goldenen Käfig?
Deine Geschichte könnte der Anfang einer spannenden Tierstorie sein.
4 Punkte


NewWolz (16.05.2003)

Ich merkte auch erst nach der Einleitung, dass es um ein Pferd ging, aber dann war ich drin in der Geschichte und hätte weinen mögen.

Wie sehr ich mir wünsche, das Pferd möge die Wiesen am Meer finden, das wage ich hier gar nicht zu sagen.

Aber das Wissen, es wird wieder eingefangen, ist zu stark...schade, auf ewig schade....
Warum geht es den Geschöpfen in Tiergeschichten immer und ausnahmslos mies. Denn dies ist ja auch nur eine abzusehende Freiheitsphase.

Egal 5 Punkte.

Gruss Lies


Lies (15.05.2003)

Sieh da, sieh da :)
Sehr schön geschrieben, wie schon einmal erwähnt, also hier die 5 Punkte ;-)


Drachenlord (15.05.2003)

mhh... dieser langsame einstieg, bei dem man rätselt um was für ein Wesen es sich wohl bei dem Protagonist handelt ist dir echt gut gelungen... und die pysche sehr gut dargestellt... macht irgendwie nachdenklich. 4 Punkte

Becci (15.05.2003)

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