157


4 Seiten

Erinnerungen an unsere Zukunft

Kurzgeschichten · Erinnerungen
Der Pfarrer ließ sich durch den stärker werdenden Regen nicht von seiner Rede abhalten, und während die Besucher der Beerdigung die Mäntelkragen höher schlugen, um sich vor Nässe und Kälte zu schützen, erinnerte ich mich zurück an jenen Abend vor fünf Jahren, der lange Zeit nur als diffuser Nebel in meinen Gedanken existiert hatte.

„Was tust du da?“ Stefan war neben mich getreten und folgte meinem Blick, der auf ein kleines Dorf unten im Tal gerichtet war. Die Lichter erhellten die frühe Nacht.
Hinter uns zeriss das grausame Geplärr einer Modern Talking Coverversion die Stille. Fast der komplette - nicht zu vergessen - stockbesoffene Abi-Jahrgang brüllte im Chor dazu.
„Nichts.“ Mir war nicht nach reden zu mute.
„Du siehst unglücklich aus.“ Er trat ungeduldig von einer Stelle auf die andere, aber ich schwieg.
„Warum feierst du nicht mit uns?“
Ich zuckte nur mit den Schultern und starrte weiterhin auf das Dorf, bevor ich herausbrachte, was mich bewegte.
„Hast du dir jemals die Frage gestellt, was für ein Schicksal hinter jedem Haus dort unten verborgen liegen mag?“
„Hmm?“
Ich konnte seinen verwirrten Blick spüren ohne mich umzudrehen und seufzte leicht genervt. Es war so typisch Stefan. Nie interessierte ihn, was andere dachten.
„Jedes Haus dort unten steht für das Leben eines Menschen - einer Familie“, begann ich erneut in der Hoffnung er würde mich endlich verstehen. „Ich frage mich, wie das Leben dieser Leute sein mag, … wie es sich nach der Schule verändert hat. Sind die Leute, die in diesem Haus wohnen glücklich oder haben sie es schwerer, ist gar ein Familienmitglied kürzlich gestorben? Wer sind diese Leute?“
„Au weh.“
„Willst du gar nicht wissen, was die Menschen dort unten über das Leben wissen? Sie kennen die Dinge, die auf uns zukommen werden, egal ob gut oder schlecht.“
„Warum bist du an einem Tag wie heute so depri?“
„Ich weiß nicht. Denkst du gar nicht über so etwas nach?“
„Doch … schon.“ Er machte eine kurze Pause. „Aber doch nicht heute.“
Bryan Adams löste Modern Talking ab und sang über den Sommer von 1969. Mir war danach, über die Ironie des Liedes zu philosophieren, aber die Bierflasche in Stefans Hand schien mich auf eine gewisse Art zu beschwören. Sie wusste, dass es nichts bringen würde.
Okay, nicht heute, dachte ich mir. Aber wann dann?
Den Rest dieses Abends verbrachte ich allein in einem nahen Waldstück, in dem nur die Glühwürmchen die Zeit beherrschten, während ein Song den anderen jagte, bis der Morgen graute. Die Zeit des Feierns war endlich beendet.

Dieser Junge und ich, wir sind zusammen in einer hessischen Kleinstadt aufgewachsen und waren die besten Freunde, bis nach der Förderstufe. Diese Art von Freunde, die jeden Tag zusammenhingen und die Umgebung erkundeten, als wäre sie eine Welt voller Abenteuer und Wunder. Danach kam wohl eine Zeit, die uns alle automatisch zu verändern schien. In der die besten Freunde andere Wege gingen.
Man teilte sich in zwei Sorten von Leuten auf dem Schulhof. Die Beobachter und die Experimentierer. Die Experimentierer taten das, was die Lehrer am meisten hassten: Sie rauchten hinter ihren Rücken, saßen betrunken im Unterricht und suchten ihr Glück in Satan, statt in Gott.
Die Beobachter waren einst die Freunde der Experimentierer, doch standen sie abseits von ihren einstigen Freunden, nicht mehr in der Lage einzugreifen. Sie verstanden die Welt nicht mehr. Sie waren eben nur Beobachter. Keiner würde auf sie hören.
Ich wusste nicht, wie Stefan diese Zeit überstanden hat. Vermutlich nur, weil sein damaliger bester Freund, die Schule geschmissen hat, um zum Bund zu gehen und er für sich allein weiterkämpfen musste. Und es konnte auch nicht sein, dass der Weg eines so brillanten Hirns beim Bund endete.
Eine Intelligenz die kein Lehrer zu retten vermochte, selbst wenn sie unter die einzige Klausur, die sie von diesem Schüler zu sehen bekamen, die beste Note der Klasse schreiben mussten. Es war als hätten Lehrer und Schüler einander einfach aufgegeben. Das nannten sie fördern.

Nach dem Abend, an dem die meisten von uns feierten, als wäre es die letzte Möglichkeit sich vor dem Schritt in das Leben der Erwachsenen zu retten, habe ich Stefan für eine sehr lange Zeit nicht mehr gesehen. Mein Leben begann seine eigene Geschichte zu schreiben, mit allem was dazu gehörte, die Konflikte mit Studium und Beziehungen - Gewinne und Rückschläge.
Von Stefan hörte ich nur über einige Freunde, die Kontakt zu mir hielten. Sie waren es auch, die mir berichteten, dass sich sein damals bester Freund letztendlich umgebracht hatte und Stefan selbst einige Zeit in einer Klinik für Psychotherapie verbringen musste. Ich suchte in dieser Zeit mein Glück im Ausland; inspiriert von Geschichten wie Siddharta, machte ich die Erfahrungen, dass das Leben auch am anderen Ende der Welt sich nicht von meinem alten Unterschied. Die Probleme bleiben überall dieselben und es scheint, als versuchten wir sie alle mit Alkohol zu beantworten. Das war die Philosophie meines Studiums.
„Wenn du dir die Frage auf den Sinn des Lebens beantworten müsstest, was wäre deine Antwort?“, fragte ich vor nicht allzu langer Zeit einen australischen Studenten in einem Pub in Sydney.
„Victoria Bitter“ Er lachte glücklich und hielt mir die Bierdose direkt vor die Nase. Es war die Zeit nach den Prüfungen und natürlich waren alle pissed like a newt, wie sie es so schön nannten.
Also setze ich mein Leben dort fort, wo ich aufgehört hatte und kam zurück nach Hause, das ich zum ersten Mal wirklich als zu Hause empfand. Vermutlich der einzige Grund, der mich zu dieser Beerdigung führte.
Letzte Woche habe ich Stefan dann wieder gesehen. Ich war über dieses Treffen mehr überrascht als er.
Er stand an einem Zeitungsstand und starrte auf eine Ausgabe der Bildzeitung, deren eine Hälfte in seiner zusammengeballten Faust zu Tode gequetscht wurde. Vermutlich die einzige Behandlung, die diese Zeitung verdiente, dachte ich mir in diesem Moment noch schmunzelnd. Doch diese positive Gefühlsregung, verging mir, als ich Stefan ins Gesicht sah. Er hatte Tränen in seinen Augen.
„Warum bin ich schuld?“, schluchzte er und hielt mir eine zerrissene Seite vor das Gesicht. Das Wort Kollektivschuld sprang mir regelrecht entgegen, und ich glaubte zu verstehen, dass es das leidige Thema war, das der Zentralrat der Juden immer wieder Anschnitt. Ich lag sehr falsch, denn für Stefan stand etwas hinter diesen Zeilen geschrieben – etwas, dass nichts mit den Juden zu tun hatte.
„Warum … warum?“, stotterte er.
„Oh weh, warum lässt du dich von so was runterziehen?“ Ich verstand in diesem Moment noch nicht, was er wirklich meinte.
„Haben Sie sich noch nie gefragt, … warum wir an allem Schuld haben? Dass wir uns nicht aussuchen können, dass wir geboren werden … dass wir sind.“ Er wirkte trotz der Tränen merkwürdig gefasst. „Ich habe keine Schuld.“
Das Zeitungspapier in seiner zitternden Hand knisterte. Sein Blick folgte ihm auf den Boden, als er es fallen ließ. „Ich hab dieses Leben nicht gewollt ... nie!“
Dann ging er auf die U-Bahnstation zu und ließ mich völlig verblüfft zurück. Ich hätte ihm vermutlich folgen müssen, aber ich tat es nicht.

Und heute, nur ein paar Tage später, bin ich auf seiner Beerdigung. Alles was mir bleibt sind diese Erinnerungen an einen Jungen, der vor vielen Jahren genauso gespannt wie ich der Grundschullehrerin gelauscht hatte, als sie uns erklärte, dass wir die Zukunft seien und diese Welt in unseren Händen läge - von der wir beide zu träumen begannen, als würde sie uns alles versprechen.
Dieser Junge, von dem man mir erzählte, dass er nicht einmal mehr in der Lage war, seine Außenwelt richtig wahrzunehmen, stand als Zeichen dafür, dass viele von uns die Welt, die uns die Erwachsenen aufgehalst hatten, nicht in unseren Händen halten wollten. Diejenigen, die das verstanden, waren heute zu dieser Beerdigung gekommen. Nur eine handvoll Leute, die sich noch an Stefan erinnern konnten, aber wir wussten alle, was Stefan uns hatte sagen wollen. Wir fühlten alle dasselbe. Und hier waren wir wieder diese Kinder, die sich nach der Beerdigung zusammensetzen würden, um sich an ihn zu erinnern und ihr eigenes, nichtiges Leben mit einem Bier willkommen zu heißen. Keiner wagte es zu sagen, wie lange wir noch durchhalten würden.
 
Wenn du registriert und angemeldet bist und selbst eine Story veröffentlicht hast, kannst du die Stories bewerten, oder Kommentieren. Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diese Story kommentieren.
Weitere Aktionen
Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diesen Autoren abonnieren (zu deinen Favouriten hinzufügen) und / oder per Email weiterempfehlen.
Ausdrucken
Kommentare  

Danke für den Kommentar! ;)

Mes Calinum (08.02.2005)

Schuld oder nicht schuld, an was auch immer, schuldig genug um sich umzubringen.
Und die Jungs auf der Beerdigung sind nur mit sich selbst beschäftigt, verstehen gar nichts.
Stoff zum Nachdenken.


Chris Stone (08.02.2005)

"... dass viele von uns die Welt, die uns die Erwachsenen aufgehalst hatten, nicht in unseren Händen halten wollten."
Schön ausgedrückt und wahr: Wer will schon Schei... in die Hand gedrückt bekommen?!?
Aber wenn man das offen sagt als junger Mensch, ist man ja "so undankbar!", nicht wahr?
Nicht wahr?


Stefan Steinmetz (22.06.2004)

Und vielen Dank fuer den Kommentar natuerlich. :)

Mes Calinum (13.11.2003)

Hi Lies!

Eigentlich war das nur ein Spiel mit dem Wort "Schuld". Sozusagen ein Art Dominostein, der einen psychologischen Vorgang im Kopf weiter zum Rollen bringt. Hatte nicht wirklich was mit den Juden zu tun. Vielleicht muss ich die Stelle noch etwas deutlicher hervorheben, habe schon vor der Ueberarbeitung gesagt bekommen, dass es missverstaendlich sein koennte. *g*

Aber weil das Thema trotzdem interessant ist:
Ich befuerchte unsere Generation wird vermutlich sich aus einem Grund nicht dagegen wehren: Wir glauben nicht an die Politik, also resignieren wir lieber, als dagegen anzukaempfen.
Das ist traurig, aber da steckt wohl ein Funke Wahrheit drin.


Mes Calinum (13.11.2003)

Ich denke, Kommentare zu Deiner Schreibform willst Du wohl nicht hören, erübrigt sich auch, es gibt nichts auszusetzen.

Die Reaktion auf die Kollektivschuld allerdings, die macht mich wütend.
Es wäre an der Zeit, dass die Jugend sich auf die Hinterbeine stellt und jeden in die Flucht schlägt, der diesen unsäglichen Begriff manifestieren will, bis die Hölle einfriert.
Sogar ich war bei Ende des Krieges erst 11 Jahre alt, aber mein Zorn auf diese hinterfotzige Art, eine Quelle der Wiedergutmachung nicht versiegen zu lassen, die bewirkt, dass ich mich langsam zu fragen beginne, wann denn die viel Jüngeren endlich auf die Barrikaden gehen.
Nie??

Ansonsten halte ich Selbstmord aus Weltschmerz nicht für realistisch, aber wer ist das schon, wenn er gerade untergeht.
So glaube ich also auch nicht, dass es nur Dinge wie die angebliche Kollektivschuld sind, die ein Leben aus der Bahn werfen, es ist eine Zusammenballung von *Versagen* und *Nichtverstehen*.

Bei denen, die sich ansonsten *angenommen* fühlen dürfen, bekommen derartige Dinge ihren richtigen Stellenwert.
Allerdings verändert *Flucht* niemals etwas. Man muss die Dinge, die man für unrecht und gegen die Moral hält, anprangern und sie tätig verändern.

Gern gelesen, trotz unterschwelligem Zorn auf die Laschheit der Nachkriegsgenerationen.
Zu Kreuze kriechen für den Rest seiner Tage hat noch nie etwas gebracht.
Offene, tätige Verweigerung eher.
Auch wenn der Fall Hohmann dem gerade zu widersprechen scheint.

Gruss Lies
P.S. Wenns nicht das war, was Du auslösen wolltest, kann ich mich nur entschuldigen, aber die Gedanken eines Lesers sind nun mal nicht kontrollierbar:-)


Lies (13.11.2003)

Login
Username: 
Passwort:   
 
Permanent 
Registrieren · Passwort anfordern
Mehr vom Autor
Über die Mumien  
Sternenstaub  
Am Strand  
Life Energy  
Rosenduft (60 Minuten ...)  
Empfehlungen
Andere Leser dieser Story haben auch folgende gelesen:
---
Das Kleingedruckte | Kontakt © 2000-2006 www.webstories.eu
www.gratis-besucherzaehler.de

Counter Web De