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Der Schwur

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Er saß in der zugigen Holzbaracke, die er mit vierzig anderen Kriesgefangenen teilte, auf seiner Holzpritsche, die seit nun-mehr fünf Jahren seine Lagerstatt, sein Rückzugsort und sein zwei Quadratmeter großes, stinkendes und verwanztes Zuhause bildete. Seine verfilzten Haare, sein ungepflegter Bart, die tiefen Furchen und die aschgraue Farbe seines Gesichtes, die tiefliegenden Augen mit ihrem leeren Blick, zwingen zu der Frage, wann ein Mensch noch ein Mensch ist, ebenso wie bei jenen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe Verurteilten. Aber keiner der hier eingepferchten Gefangenen stellte sich diese Frage, weil sie nicht satt machte und somit theoretischer Luxus war.

Sein Lagergenosse unter ihm auf seiner Pritsche schrie nach oben "Nimm Deine stinkenden Füße weg." Von den anderen schaute niemand auf. Sie lebten allesamt teilnahmslos in ihrer trüben Welt. Ihre menschlichen Wünsche, Hoffnungen und Bedürfnisse waren zu der einzigen Frage zusammenge-schrumpft, ob sie jemals noch einmal satt zu essen haben würden.

In diesem alles verneinenden Augenblick schickte die Sonne einen Lichtstrahl in diese Finsternis und traf unseren Freund ins Herz. Als er plötzlich dieser unbekannten, innerlichen Wärme gewahr wurde, kam sein Blick aus der Leere zurück, sah den Lichtstrahl und verfolgte ihn vom Barackenfenster bis hin zu dem hellen Fleck auf seiner verschlissenen Uniform-jacke in Höhe seines Herzens.
"Das ist ein Zeichen," murmelte er lautlos, "Ich lebe noch." Und er ergriff diesen kurzen lebendigen Augenblick zu dem Mut nach Hoffnung: "Sollte ich jemals die Meinen wieder-sehen dürfen, so schwöre ich hiermit, daß ich dann unser Dorf nie weiter verlassen werde, als es die Sichtweite zu unserem Kirchturm zuläßt."

Als die Gefangenen am nächsten Tag wieder mit der Er-richtung eines Knüppeldammes in den morastigen Birken-wäldern geschunden wurden, tauchte ein Militärfahrzeug auf, dem ein blankgeputzter Offizier entstieg. Dieser wechselte mit dem Führer der Bewachung ein paar Worte, worauf die Ge-fangenen zum Lager zurückgeführt wurden.

Vier Wochen später war unser Freund wieder bei den Seinen. Bis an sein Lebensende hat er seinen Schwur gehalten. Er hat sich nie mehr außer Sichtweite des Kirchturmes seines Ortes entfernt, selbst nicht anläßlich der Hochzeitsfeier seiner Tochter im Nachbardorf.

1.XII.2003
 
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Kommentare  

Redfrettchen hat hier doch gar nicht gepostet?

 (10.02.2004)

Hallo Redfrettchen,
also, hier spricht der Autor! Ist ja unglaublich, welche Mühe Du Dir mit meinen Geschichten machst. Deine Kommentare sind geradezu wunderbar Aber ich schlage Dir, meinem Chefkritiker, vor, leite die Geschichten - von wem auch immer geschrieben - direkt in Deine rechte Gehirnhälfte. Da sitzen die Fantasie, das Gefühl und die Intuition, dann hat man keinen Ärger mit seinem Verstand bzw. Ego.
Vielen Dank
Klaus Asbeck


Klaus Asbeck (13.12.2003)

Den Wert des Lebens? Wenn wir uns beschweren, dass der Zug mal wieder zu spaet ist und die Bahnangestellten unhoeflich sind, sollten wir vielleicht daran denken, dass manche Leute ihr Leben lang auf den Zug warten, der sie nach Hause bringt. Und dass deren 'Bahnangestellte' mit Gewehren bewaffnet sind, die sie einsetzen wann immer es noetig oder unnoetig ist.

Ich finde die Geschichte richtig toll, ergreifend. Und traurig, weil sie mich an meinen Opa erinnert, der nahezu das Gleiche durchgemacht hat.


Regina (05.12.2003)

wie häufig: lesenswert, aber sehr nachdenklich machend. was lernen wir daraus?...

Achim Kaul (02.12.2003)

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