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Ich bin Brückenfessler

Fantastisches · Kurzgeschichten
Mein Beruf? Ich bin Brückenfessler. Ich wusste, dass sie noch nie davon gehört haben. Lassen Sie mich erklären, worum es dabei geht.

Ich bin der grösste Brückenfessler aller Zeiten. Die Golden Gate bei San Francisco, die Karlsbrücke in Prag, die Tower Bridge in London. Ich habe sie gebändigt, habe ihren Willen gebrochen. Nur wegen mir sind sie noch da. Aber nicht nur sie. Nicht zu reden von den unzähligen Unbedeutenden, über die man hinwegfährt, ohne dass es einem richtig bewusst wird.

Sie schauen mich ungläubig an. Ja, Sie haben richtig verstanden, wir Brückenfessler fesseln Brücken. Im wahrsten Sinne des Wortes. Warum?
Wissen Sie, Brücken laufen oft nachts heimlich davon. Nicht alle tun es, es ist schwer vorherzusagen. Es kommt darauf an, wann es ihnen zu viel wird. Manchmal sind es Monate, manchmal Jahre, oft sind es Jahrzehnte. Die Steinerne Brücke bei Regensburg hat über 800 Jahre durchgehalten, bevor sie sich davonmachen wollte.

Ja, sie haben Recht, dass es verrückt klingt, aber es ist eine wenig bekannte Tatsache, eher ein Phänomen. Aber kein unerklärbares - zumindest was die Motive der Brücken angeht.

Ich weiss, die übliche Denkweise ist, Brücken sind nicht lebendig. Ich kann nicht beweisen, dass sie lebendig sind, aber ich glaube es. Brücken sind etwas Besonderes. Wissen Sie, jede Brücke ist anders. Brücken sind Individuen. Oder kennen Sie 2 gleiche Brücken?

Die Grösse? Nein, die Grösse ist nicht entscheidend. Entscheident ist der Charakter. Am interessantesten, und das haben Brücken mit den Frauen gemeinsam, sind ihre Beine. Da gibt es die plumpe Steinbrücke, ein gutmütiger Trampel. Steinbrücken reissen eher selten aus. Ganz anders dagegen elegante Betonbrücken. Äusserlich geben sich Betonbrücken glatt und kühl, aber innerlich stehen sie unter der Spannung des Stahlkorsetts. Das macht sie sozusagen heiss. Besonders schlimm war die Kochertalbrücke bei Geislingen, übrigens die höchste Deutschlands. Die war so extrem, dass sie praktisch schon während der Bauzeit gefesselt werden musste, sonst wäre sie uns Hals über Kopf abgehauen. Ja, ja, die Stahlbetonbrücken. Oder Stahlbrücken. Eine völlig anderer Mentalität. Mit ihrem komplizieren Verstrebungen, spinnengleich und ebenso bösartig. Stahlbrücken werden oft unterschätzt. Aber die Biester sind immer auf der Lauer und verdammt flink, das kann ich Ihnen sagen.

Besonders gefährlich wird es, wenn eine Brücke einen eigenen Namen hat. Dann wird sie nämlich eingebildet.

Ja, eingebildet! Wie das kommt? Da ist der Wind, der sich an ihr bricht und ihr rebellische Gedanken einflüstert. Und das Wasser, das eine zersetzenden Einfluss ausübt. Dazu kommen noch die über sie hinwegrollenden Autos, die der Brücke unangenehm sind. Jeden Tag. Tausende. Stellen Sie sich vor, dass ständig Ameisen auf Ihnen herumkrabbeln, wie lange würden Sie das aushalten? Irgendwann hat die Brücke genug und begehrt gegen ihre Verankerung auf. Und dann reisst sie sich los und geht auf Wanderschaft.

Wissen Sie, eine frei herumlaufende Brücke kann ziemlich viel Schaden anrichten. Ein zertrampeltes Haus da, ein verwüstetes Dorf dort. Aber das ist noch gar nichts dagegen, wenn eine Brücke über eine Stadt herfällt. Oder alleine die Unfälle die passieren, weil die Brücke plötzlich nicht mehr da ist.

Natürlich kann man nicht dulden, dass Brücken machen, was sie wollen. Brücken dienen einem Zweck. Brücken sind teuer. Da kann man nicht hinnehmen, dass sie sich losreissen und einfach auf Wanderschaft gehen. Und deshalb braucht man Leute wie mich, die Brückenfessler.

Ich gehe zu den Brücken hin und höre ihnen zu. Die beste Zeit ist im ersten Morgengrauen, da setze ich mich in den Schatten ihrer Pfeiler und schliesse die Augen. Ist da so ein Ächzen und Stöhnen, Schwanken und Zittern? Wie klingt das ständige Plopp Plopp der Fahrzeuge die auf und abfahren? Wenn Sie das nächste Mal unter einer Brücke stehen, dann versuchen Sie, sich in sie hineinzuversetzen.

Natürlich, Sie glauben nicht, dass sie das verstehen, aber das ist ja genau, was einen Brückenfessler wie mich ausmacht. Ich verstehe die geheime Sprache, spüre ihre Unruhe und kann das Stadium ihres Wahns abschätzen.

Und wenn ich zu dem Schluss komme, dass es Zeit ist, wird gehandelt. Ich fessle sie mit Stahltrossen, betoniere ihre Füsse ein, wickle Seile um sie. Wie die Liliputaner den Gulliver. Notfalls bringe ich sogar Sprenglöcher an, um sie zum Verstand zu bringen – sicher haben Sie schon von Brückensprengungen gehört. Das ist der letzte Ausweg, wenn eine Brücke nicht zur Vernunft zu bringen ist.

Und wenn der Wille der Brücken gebrochen ist, wiegen sie sich nur noch im Wind, lassen sich vom Wasser umspülen und den Verkehr über sich ergehen. Keine Gefahr mehr. Der Brückenfessler hat die Brücke fixiert, sie gebändigt und für immer gezähmt.

Ja, Sie haben recht, es gibt nicht viele Brückenfessler. Ich bin vielleicht sogar der Letzte. Der technische Fortschritt lässt sich nicht aufhalten. Findige Ingenieure haben Überwachungssysteme entwickelt, die rund um die Uhr arbeiten und jede Gefahr melden. Das geht jetzt alles automatisch, da macht mir die Arbeit keine Spass mehr. Vielleicht tue ich umsatteln. Es heisst Hornprügler werden dringend gesucht. Was das ist? Keine Ahnung, aber es klingt interessant, oder?
 
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Kommentare  

Tolle Geschichte! Gut ausgebaut. Gruß Beate

Beate (nicht Uhse) (29.06.2007)

Ich mag die fantasievollen Züge ganz besonders. lg Bine

Sabine Müller (22.01.2006)

Hallo, der Text hat echt was. Darauf muss man erstmal kommen. Gefällt mir sehr gut. lg Bine

 (22.01.2006)

:) Gefäält mir! Vor allem die Zweideutigkeit. Hin und wieder hab ich mit einzelnen Formulierungen ein paar Problemchen, aber die Idee, wie auch die Umsetzung überzeugen!

Middel (04.01.2006)

Auch wenn ich in erster Linie "Joan Unclear"-Fan bin, der Brückenfessler ist ebenfalls super! Um Deine Fantasie beneide ich Dich!

Rolf (07.10.2004)

Die Idee trägt die ganze Story.
Eine nicht alltägliche Sicht. Faszinierend logisch trotz der fantastischen Bezüge.

Für mich besonders interessant, weil mein Mann 40 Jahre Brückenbauer war und genau das tat, täglich die Bauwerke abschreiten und auf alles hören, was nicht so klang wie sonst.
Diese Story hier hat also auch dieser Lesemuffel konsumiert.

Und...gelächelt.

5 Punkte

Gruß Lies


Lies (07.07.2004)

Klasse, Susan

Ich muss ehrlich zugeben, mir über dieses ernste Thema bisher noch nie Gedanken gemacht zu haben.
Welch ein Fehler!
Mach weiter, deine Arbeit ist eminent wichtig für alle Menschen dieser Welt. ;-)
Volle Punktzahl.


Compuexe (07.07.2004)

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