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4 Seiten

Aris oder Die Tür zu meinem neuen Leben

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
© Suédoise
Meine gesamte Kindheit und Jugendzeit war eine Illusion. Ich erhielt eine scheinbar normale Erziehung, geprägt von Verständnis, Liebe und Akzeptanz.
Jedoch verstärkte ein erschreckendes Erlebnis den Wunsch mich dieser Heuchelei zu entziehen, mit Recht. Heute lebe ich in der Realität, in einem realen Zuhause: Ein Zuhause, nach dem ich mich immer gesehnt habe. Ein Zuhause, aus dem mir, mit dem Umdrehen des Schlüssels im Schloss, eine Wärme entgegen kommt, die mich alle Probleme von draußen vergessen lässt. Ein ehrliches Zuhause, das offen ist und akzeptiert.
Dieses Zuhause zu bekommen hat mich viel Überwindung und Kraft gekostet. Trauer, Hass und Schmerzen waren dabei meine engsten „Freunde“.

Wir lernten uns am 20.Juli 2001 unter weniger romantischen Umständen kennen. Ich war nicht wie gewöhnlich mit dem Bus nach Hause gefahren, sondern hatte die Straßenbahn genommen. Gehetzt stieg ich in die nächste Bahn ein und setzte mich auf den Platz neben einer älteren Dame, die die nächsten zehn Minuten damit verbrachte mir ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Als wir bei den Erdbeeren in ihrem Vorgarten angelangt waren, bemerkte sie, glücklicherweise, dass sie jetzt aussteigen musste und verabschiedete sich. Endlich, dachte ich. Es hätte nicht viel gefehlt und sie hätte angefangen über ihre Radieschenzucht zu berichten.
An den nächsten Haltestellen passierte nichts Aufregendes. Gedränge, Hektik und Lärm. Das übliche Hergehen in einer Straßenbahn. „Na, was haben wir denn da leckeres?“, lallte ein, durch Alkoholeinfluss gealterter Mann, der mit seinen beiden noch betrunkeneren Freunden gerade zugestiegen war. „Na Weib, wie wär’s mit uns zwei? Von so einem Kerl wie mir hast du doch schon immer geträumt.“, tönte es aus der Ecke. Ich drehte mich weg und wünschte mir irgendwer oder irgendwas hätte mich daran gehindert in diese Straßenbahn einzusteigen. Plötzlich fühlte ich eine nasse und klebrige Hand auf meinem Rücken, die sich langsam runtertasten wollte. Ich schob die Hand beiseite und sprang auf. „Lassen Sie mich gefälligst in Ruhe.“, schrie ich. Ich lass mich nicht von Ihnen angrabschen.“ „Sei mal nicht so frech, du Göre. Du hast wohl lange keinen mehr abgekriegt.“ Er zerrte mich am Arm, so dass ich auf seinen Schoß fiel. Niemand tat etwas. Jeder drehte sich weg oder schaute mich mitleidig an. „Lassen Sie sie los.“, sagte eine ausdrucksvolle Stimme, die, wie ich bemerkte, zu einem sehr gut aussehenden jungen Mann gehörte. „Was hast du gesagt? Ich fürchte, ich hab mich verhört.“, konterte der Betrunkene. Er stieß mich heftig von seinem Schoss, damit er zu einem Schlag ausholen konnte, dem der schöne Unbekannte gerade noch auswich. „Lassen Sie sie los!“, wiederholte er.
„Halt’ s Maul! Was interessiert’ s mich, was du sagst? Ich kann machen, was ich will. Wer will deine Fresse hier schon sehen. Verschwinde dahin, wo du hergekommen bist.“ „Ganz sicher werde ich das. Sobald ich ausgestiegen bin und sie angezeigt habe.“, Er nahm mich an der Hand und versetzte mir einen leichten Schubs in Richtung Tür, so dass wir beide kurz darauf auf der Haltestelle standen. Der Betrunkene und seine Leidensgenossen fuhren mit hochrotem Kopf davon und die Leute schauten uns mit aufgesperrtem Mund nach. „Ähm… danke ...und Entschuldigung, dass ich dir soviel Ärger gemacht habe.“, stammelte ich, nachdem ich der Straßenbahn lange genug hinterher geschaut hatte. „Ach, nichts zu danken. Hat mein Einsatz denn gereicht, um dich auf einen Kaffee einzuladen? “, fragte mich mein Retter. „Es wäre doch nur gerecht, wenn ich dich auf einem Kaffe einladen würde.“, antwortete ich. Diesem Kaffee folgte eine Einladung bei mir Zuhause.

Freitagabend, noch eine halbe Stunde bis Aris, so hieß der schöne Unbekannte, kommen würde. Gespannt und wortlos saßen wir um den Esstisch herum, auf dem eine kleine Schale mit allerlei Knabbereien stand. Ich hatte meinen Eltern von dem ritterhaften Auftritt meines Helds erzählt. Darauf hin wollten sie ihn unbedingt näher kennen lernen. Die letzten Minuten lief ich aufgeregt zwischen Tür und Fenster hin und her. Es klingelte. Mein Vater hielt mich dazu an mich zu setzen und ging zur Tür. „Wir verschenken nichts. Gehen sie woanders betteln!“, hörte ich ihn sagen und mit einem lauten Knall fiel die Tür zu. „Nur ein Bettler.“, sagte mein Vater, als er ins Wohnzimmer zurückkehrte und sich in seinen Sessel fallen ließ. Es klingelte wieder. Ich sprang sofort auf und lief zur Tür. Mit einem breiten Grinsen empfing ich Aris. Er gab mir einen zärtlichen Kuss auf die Wange und hauchte mir ein liebevolles „Hallo!“ ins Ohr. Mein Vater kam aus dem Wohnzimmer, um Aris zu begrüßen. „Was macht der denn schon wieder hier? Hatte ich Ihnen nicht gesagt, dass wir für Bettler kein Geld haben?“, fuhr er Aris an. „Aber Papa, das ist er. Das ist Aris“, sagte ich mit einem empörten Unterton. Was? Aber der… der ist ja schwarz“, sagte mein Vater aufgebracht und schockiert. „Na und. Das ist doch gar nicht wichtig. Wichtig ist doch nur, dass er mich gerettet hat“, gab ich zurück. „Einen Schwarzen dulde ich nicht in meinem Haus. Nein, soweit kommt’s noch. Sofort auf dein Zimmer und Sie, Sie halten sich in Zukunft von meiner Tochter fern. Haben sie das verstanden?“, Mein Vater lief rot an vor Wut und stieß Aris rückwärts zur Tür hinaus, bevor er auch nur ein Wort sagen konnte. „Papa, das kannst du nicht machen. Lass mich zu ihm.“

Ich saß an meinem Fenster und wartete. Doch worauf wartete ich? Dass er zurückkommt? Er würde nie wieder kommen. Würde ich ihn je wieder sehen? Wieso hatte mein Vater das getan? Wieso hatte er nur alles zerstört? Alles zerstört- mit Wörtern. Wörter können so verletzend sein. Sie werden nie vergessen.
Es klopfte. „Ja?“ Ich wischte mir die Tränen ab. „Es tut mir Leid“, sagte mein Vater mit angespannter Stimme. „Ich will nur nicht“, fuhr er fort „dass du von so einem Neger verdorben wirst. Das verstehst du doch sicher, mein Schatz. Warum hast du uns nicht gleich gesagt, dass er schwarz ist? Dann wäre es nie soweit gekommen.“ Er kam auf mich zu und wollte mich in seine Arme schließen, doch ich drehte mich weg und sprang auf. “Fass mich bloß nicht an. Warum ich dir nicht gesagt habe, dass er eine andere Hautfarbe hat, als wir? Das fragst du mich? Weil es mir nicht aufgefallen ist, ok? Ich habe es nicht gemerkt, weil es mich nicht interessiert. Er war der Einzige, der mir in der Straßenbahn geholfen hat. Im Gegensatz zu unseren musterhaften Weißen war er der einzige, der nicht weggeschaut hat“, schrie ich.
„Wie konntest du ihn nur so erniedrigen? Wie konntest du nur? Ich schäme mich für dich. Dafür, dass du so denkst. Ich erkenne dich nicht wieder. Habt ihr mir nicht beigebracht alle Menschen zu akzeptieren? Du selbst hast immer gesagt, es gibt genug Hass auf der Welt. Ich kann deinen Worten nicht mehr glauben, ich kann dir nicht mehr vertrauen. Jedenfalls möchte ich nicht mit jemanden zusammen wohnen, der so denkt. Ich ziehe aus.“ „Das kannst du nicht. Wo willst du denn hin? Der Aufstand lohnt sich nicht wegen diesem Neger!“, hörte ich meinen Vater hinterher rufen, als ich das Zimmer verließ. „Und ob sich das lohnt. Allein, um mir selbst treu zu bleiben. Außerdem denke ich, dass ich mit 19 Jahren alt genug bin, um ein eigenes Leben anzufangen.“
Mit einem kleinen Schmunzeln und dem Wunschtraum der Gerechtigkeit ein Stück näher zu kommen, verließ ich die Wohnung.
Die Tür fiel ins Schloss. Mit ihr schloss sich ein Kapitel meines Lebens und öffnete mir gleichzeitig ein neues.
 
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Kommentare  

Ja so ist das Leben und es werden noch viele Jahre vergehen bis Hautfarben kein Problem mehr sind. Gut geschriebener Bericht, ohne Schnörkel. Diskriminierung wird es aber immer in irgendeiner Form geben, das wird sich nicht ändern. Auch du diskriminierst:
Bist du, bzw. deine Protagonistin, nicht froh, als die alte Frau endlich aussteigt, die, evtl. aus Einsamkeit, ihr ganzes Leben erzählt und dich damit zutextet? Mir wärs auch auf den Geist gegangen, will mich da nicht ausschließen. Irgendwas nervt immer, was andere als normal betrachten.Punkte gebe ich keine.


NewWolz (31.10.2004)

Die Überarbeitung gefällt mir gut, jetzt kann ich beruhigt 4Punkte geben.

Freiheit (26.09.2004)

Schöne Geschichte, auch die sprachliche Umsetzung ist dir gelungen.
Was mich jedoch verwirrte: Ist Prota in der Zeit, wo sie ihren Retter kennen lernt, noch in diesem Zuhause, was sie nicht als solches empfindet, oder in diesem Neuen?
Weil die Eltern ja ihren Retter kennen lernen wollten, was darauf deutet, dass sie ein gewisses Interesse am Kind haben (was nicht zu einem Zuhause passt, dass einem Gefängnis gleicht). Und andererseits streiten sie sich mit der Tochter über die Hautfarbe des Retters, was in einem guten Zuhause ja so, nicht vorkommen sollte...


Freiheit (23.09.2004)

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