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5 Seiten

Teufelskreis

Trauriges · Kurzgeschichten
Ich musste mich beeilen damit ich nicht zu spät komme. Peter hat mir gestern eine SMS gesandt, dass er ausgiebig mit mir quatschen wolle. Er habe die Schnauze gestrichen voll. Ihn kotze alles an. Wieder mal. Und er wollte nur einfach mal reden. Sein Herz ausschütten. In unserer gemütlichen Kneipe. Aller drei bis vier Wochen trafen wir uns dort. Wir einigten uns auf 18:00 Uhr.

Das Auto ließ ich zu Hause. Öffentliche Verkehrsmittel waren nicht mein Ding. Ich ging zu Fuß. Es war sehr kalt. Meine Handschuhe hatte ich vergessen. Wie fast immer. Ich vergrub meine Hände in den Manteltaschen. Langsam wurden sie wärmer. Ich genoss die reine Luft. Das Schneetreiben wurde immer dichter, was mich aber nicht störte. Im Gegenteil. Es machte Spaß, frische Spuren im jungfräulichen Schnee zu hinterlassen. Das knirschte so angenehm. Am Stadtrand angekommen schaute ich in ein Schaufenster. Meine schwarzen Locken gab es in diesem Moment nicht mehr. Sie hingen mir ungewellt ins Gesicht, klebten nass an meiner Stirn. Im Fenster spiegelte sich auch meine mittlerweile weiße Mütze. Das sah irgendwie lus-tig aus. Ich musste schmunzeln und ging weiter. Auf dem halb eingeschneiten Plakat entdeckte ich eine Blondine. Als ich sie vom Schnee befreit hatte, verstand ich ihre Botschaft. Ja ich hatte auch Appetit auf eine Zigarette. Meine wiedererkalteten Hände wühlten in allen Taschen. Vergebens. Es fand sich nur mein Feuerzeug ein. Das hatte mir Peter geschenkt. Da der auch immer klamm war, kaufte ich mir am nächsten Kiosk eine Schachtel Zigaretten. Die Verkäuferin bedankte sich artig lächelnd und fingerte einen Glimmstengel aus dem Päckchen, das ich ihr unter die Nase hielt. Ich steckte mir auch eine an und die soeben gekaufte Abendzeitung in die Innentasche meines Mantels. Ich schloss die Augen und nahm einen tiefen Zug. Dann ging ich weiter. Allmählich bekam ich Hunger und freute mich auf ein frisch gezapftes Bierchen. Mein Magen signalisierte großen Appetit. Mittlerweile sah ich wohl aus wie ein Schneemann. Aber da ich kaum jemandem begegnete interessierte mich dies auch nicht sonderlich.

Endlich an meinem Ziel angekommen schüttelte ich den Schnee ab so gut es ging und hängte den Mantel an einen Haken. Ich begrüßte den Wirt und die Kellnerin und setzte mich. Ein Blick durch die Kneipe verriet mir, dass Peter noch nicht da war.
Der Aschebecher verlor schnell seine Unschuld und auf mein erstes Bier musste ich nicht lange warten. Paulina brachte schnell die Speisekarte. Pro forma. Sie wusste ja eh was ich immer esse.

Ein Blick auf meine Uhr verriet, dass es mittlerweile fast halb sieben war. Pünktlichkeit war noch nie Peters Stärke. Eigentlich freute ich mich auf das Treffen mit meinem Bruder. Wie immer. War es doch mal wieder eine Abwechslung in meinem Studentenalltag. Obwohl Peter eine verkrachte Existenz war hatte ich ihn noch nicht ganz aufgegeben. Bei unserem letzten Treffen hier in der Kneipe haben wir unseren 23.Geburtstag gefeiert. Nur wir zwei. Er hatte sonst niemanden. Zu unseren Eltern kam selten Besuch. Wir waren es nicht anders gewohnt, also wunderten wir uns auch nicht darüber. Aber uns Kindern machte das damals nichts aus. Wir spielten trotzdem immer heimlich zusammen mit den Nachbarkindern.

Paulina riss mich abrupt aus meinen Gedanken. Elegant schwenkte sie den Teller an meiner Nase vorbei und stellte ihn auf dem Tisch ab. Der leckere Duft verlangte nach Taten. Sie wünschte mir einen guten Appetit, und während ich meinen ersten Bissen zum Munde führte, warf sie mir ihr breites Grinsen zu, schüttelte ihre langen blonden Haare und ging einladend mit der Hüfte schwenkend in ihrem viel zu engen schwarzen Leder-Minirock gen Theke.

Ich hing wieder meinen Gedanken nach. Peter wollte auch was von ihr. Aber sie ließ ihn jedes Mal abblitzen. Er wäre nicht ihr Typ. Keine Chance. Er akzeptierte es. Aber er wurde immer so schnell ausfällig. Und unsachlich. Er meinte, um Paulina wäre es nicht schade. Es gäbe noch genug andere Frauen. Außerdem sei sie nicht hier in Deutschland geboren.

Ich aß in Ruhe weiter. Ausgezeichnet! Tausendmal besser als in meiner Junggesellenküche wo es immer nur dasselbe gab. Allmählich machte ich mir Gedanken. Paulina brachte das zweite Bier. Peter war schon über eine Stunde zu spät. Das war ungewöhnlich. Was war nun wieder los mit ihm? Vielleicht war er krank geworden. Als ich mein Essen beendet hatte, holte ich mein Handy aus dem Mantel. Vielleicht hatte er seine Absage aufs Handy gesprochen. Ich schaute nach. Nichts. Hoffentlich hatte er nicht wieder eine Dummheit begangen. Ich schickte ihm eine kurze SMS und wartete auf die Antwort.

Derweil schweiften meine Gedanken wieder ab. Allmählich musste Peter sich endlich entscheiden. Das ist nun mal so. Er muss seinen Weg finden. Ich habe schon oft mit ihm darüber gesprochen. Mit Engelszungen auf ihn eingeredet. Aber ich biss immer auf Granit. Seit 23 Jahren wohnt er in Deutschland. Er wurde hier geboren. Unser Vater arbeitet als Dolmetscher. Unsere Mutter ist Kinderärztin. Peter ist groß und kräftig. Durchtrainiert. Großflächig tätowiert. Aber nicht sonderlich intelligent. Sein kahlrasierter Schädel gefällt nur ihm selbst. Peter, der Einzelgänger. Außer seinem Hund Tyson hat er keine Freunde. Mich vielleicht ausgenommen. Aber das ist ja anders begründet. Schon in der Schule war das so. Allerdings teile ich mitnichten seine Ansichten. Seine eigenartige Weltanschauung macht mir sogar manchmal angst.

Ich rief nun doch bei ihm an. Fehlanzeige. Die Mailbox meldete sich. Ich sprach ihm etwas nettes drauf. Mir gegenüber saß eine Frau, die genau sein Typ war. Er solle sich beeilen. Oder absagen. Wenn er krank sei. Bei diesem Wetter kein Wunder. Dann holte ich meine Zeitung aus dem Mantel. Ich bin auch einer von denen, die sie von hinten nach vorn lesen. Der Sportteil ist interessant. Die Bayern hatten wieder ein Testspiel gewonnen. Das wird Peter freuen. Er ist ein großer Fan von ihnen.

Aber eigentlich ist Peter nicht nett. Er ist ein Arsch. Der personifizierte Unsympath. Er hasst alles und jeden. Unseren Vater. Unsere Mutter. Unsere Schwester. Ausländer. Schwule. Andersdenkende. Er hat eine kleine Wohnung. Keine Freundin. Die Lehre hat er abgebrochen. Er ist arbeitslos. Seine Freizeit verbringt er in der Kneipe. Und im Kraftsport-Zentrum. Oder bei „seiner“ Fußball-Mannschaft. Wenn er mal Geld übrig hat. Die Bayern sind die Größten. Zumindest im Fußball. Für ihn.

Ich blättere mich weiter durch die Zeitung. Bei einem Artikel über den Zweiten Weltkrieg bleibe ich hängen. Ich lese mich fest und muss wieder an Peter denken. Er selbst ist weit abgerutscht. Er wollte schon immer ein Skinhead sein. Er unternahm alles, um bei denen Aufnahme zu finden. Als ich ihn darauf hinwies, dass Skinhead kein deutsches Wort sei, rastete er schon wieder aus. Er war laut eigener Aussage der festen Überzeugung, dass in seinen Adern arisches Blut fließe. Meine energischen Versuche, ihm dies mit allen Mitteln ausreden zu wollen, fruchteten nicht. Und ich hielt lieber meinen Mund. Denn er wurde dann immer schnell aggressiv. Und unberechenbar. Deshalb achtete ich immer darauf, dass er zumindest bei unseren Treffen wenig trinkt. Dies klappte bisher immer sehr gut. Wenn er alleine war, passierte immer etwas anderes. Sobald er sich von irgendjemandem provoziert fühlte, schlug er zu. Und das nicht zu knapp. Manchmal erzählte er mir davon. Erst neulich hätte er wieder einige Türken aufgemischt, die seine arische Herkunft bezweifelten. Irgendwie hatte sich dieser Begriff in seinem kranken Hirn festgefressen. Wie ein Krebsgeschwür. Und es wurde immer schlimmer mit ihm. Auch die Skins, bei denen er immer und immer wieder anfragte und um Aufnahme in deren Reihen buhlte, nahmen dies irgendwie nicht ernst. Sie bedeuteten ihm jedes Mal, dass seine Dienste bei ihnen nicht gefragt seien und lachten ihn aus. Dies machte Peter noch wütender. Immer wieder provozierte er andere Menschen. Zumeist Ausländer. Die schlug er dann zusammen. Meine Appelle an das letzte Quentchen Vernunft in seinem Hirn verpufften.

Da er bei den Skins erfolglos war, versuchte er es bei den Hooligans. Aber auch die wollten ihn nicht haben. Obwohl er sich ständig für seinen Verein prügelte. Dies brachte ihm etliche Knochenbrüche, ungezählte Narben am ganzen Körper und einige Krankenhausaufenthalte ein. Sein Vorstrafen-Register stieg ebenfalls an. Auch eine Haftstrafe hatte er schon abgesessen. Weil er einen polnischen Gastarbeiter ins Koma geprügelt hatte. Eine Abkehr seiner Einstellung bewirkte dies allerdings nicht. Es war zum verzweifeln mit ihm. Was konnte ich für ihn tun? Wie konnte ich ihm überhaupt helfen?

Mittlerweile war es nach 21:30 Uhr. Ich musste gähnen. Morgen stand eine anstrengende Vorlesung auf meinem Programm, die ich nicht verpassen durfte. Meine Zeitung legte ich beiseite und beschloss, gleich bei Peter vorbeizuschauen. Ich wollte wissen, was mit ihm los ist.
Paulina kam auf mein Zeichen. Sie freute sich über mein bescheidenes Trinkgeld, zwinkerte mir mit ihren rehbraunen Augen zu und wünschte einen schönen Nach-Hause-Weg. Bei dieser Glätte solle ich etwas vorsichtig gehen. Ich zählte meine Striche auf dem Bierdeckel und sagte ihr, dass diese vier großen Biere kein Problem für mich und meinen Heimweg darstellten. Während sie wieder davonschwebte glitt mein Blick vom Bierdeckel auf die danebenliegende Zeitung. Ich hatte sie halb zusammengefaltet, so dass nun die Schlagzeile zu lesen war.

Ich brannte mir eine Zigarette an und faltete die Zeitung auf. Ich las, dass heute Mittag in unserer Stadt drei Skinheads festgenommen wurden, die einen Farbigen derart mit Schlagringen und Baseball-Schlägern zusammengeschlagen hatten, dass dieser noch auf der Straße an den Folgen dieser brutalen Misshandlungen verstorben sei. Der unbekannte Tote war bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Wieder einmal hatten die Passanten weggesehen. Wieder einmal hat keiner zu seinem Handy gegriffen. Die drei schwer betrunkenen Täter wurden noch am Tatort verhaftet und waren geständig.

Mir wurde ganz übel. Ich las den Bericht noch mehrmals durch und schaute mir immer und immer wieder die Bilder an. Mir war zum heulen zumute. Aber ich vermied es. Ich legte die Zeitung weg und winkte Paulina nochmals heran, sie solle mir bitte einen doppelten Whisky bringen. Sie tat dies und fragte erschrocken, ob mir schlecht sei und warum ich plötzlich so blass wäre. Ich sagte, dass alles okay sei und versuchte zu lächeln. Danach trank ich mein Glas in einem Zuge leer und steckte ihr 10 Euro zu. Ich stand auf, streifte meinen Mantel über und verabschiedete mich vom Wirt und von Paulina. Vor der Tür atmete ich erst einmal tief durch und zog den Reißverschluss zu. Die Kälte tat gut. Ich ging zwar Richtung Peters Wohnung, aber da musste ich nicht mehr hin. Meine Schritte lenkte ich Richtung Polizeipräsidium. Ich zitterte, aber nicht wegen der Kälte. Ich wollte eine wichtige Aussage machen, denn die Beschreibung der unbekannten Leiche aus der Zeitung traf zu 100% auf meinen Bruder Peter zu ...
 
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Kommentare  

Furchtbar - und wunderbar geschrieben. Ich hoffe, dass es "nur" eine Geschichte ist !

Simon Templar (15.03.2009)

*schluck*

 (11.07.2006)

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