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19 Seiten

Wie der Wind, der kommt und geht

Romane/Serien · Nachdenkliches
Die Nacht wich dem neuen Tag, den ein blassblauer Streifen am weit entfernten Horizont ankündigte. Und es dauerte nur eine geraume Weile, bis der große, glutrote Feuerball den Trennungsstrich zwischen Erde und Himmel durchbrach und die vor ihr liegende Erde erst in dunkelrotes Licht und dann zunehmend in ein immer helleres Gelb tauchte, so dass sich der sternenübersäte, endlos dunkle Himmel zurückzog und das Frösteln der Nacht mitnahm.

Er saß mit gekreuzten Beinen auf einem Teppich vor seinem schwarzen Zelt aus grobem Webstoff, das jedem Sandsturm standhielt.
Auch dieses Mal, wie am Neubeginn eines jeden Tages, schaute er in die aufgehende Sonne und war erfüllt von der Stille und Grenzenlosigkeit dessen, was er wahrzunehmen imstande war. Doch seine Andacht war nicht ungestört. Sie wurde beeinträchtigt durch die Erlebnisse der vergangenen Nacht, die ihm wieder neue Kraft und eine in seiner Situation nicht näher greifbare Zuversicht geschenkt hatten. Diese Kraft war immerhin so stark und beharrlich, dass sie wieder bis einige Tage nach dem nächsten Vollmond reichte, der gerade um wenige Tage überschritten war.

Denn dann saß er jedes Mal bei Anbruch der Nacht wartend in seinem Zelt, bis sich der Zelteingang lautlos teilte und zwei Hände ihn sanft aber zwingend rücklings in die Kissen zwangen, und zwei ihn sacht streichelnde Brustwarzen immer wieder an eine entrückte Zeit seiner Rettung erinnerten. Und wenn ihn dann die beschützende Schwere und Fülle ihres aber nicht uferlosen Körpers in das Jetzt zurückzwangen, dann verspürte er wieder die erlösende Geborgenheit, die ihm bis dahin jedes Mal das Weiterleben ermöglicht hatte.
Und wenn sie ihm sodann den Nacken mit irgendeiner Essenz einrieb, und er in einem Farbenwirbel unter ihren rhythmischen Bewegungen in eine leichte Trance abglitt, dann hatte seine Seele Friede, der noch sein Erwachen überdauerte, wenn sie längst wieder verschwunden war, die Namenlose. Nur der Sandelholzgeruch ihres Körpers, der an ihm haftete, versicherte ihm, dass er nicht nur geträumt hatte.

Und wie immer an diesen besonderen und regelmäßig wiederkehrenden Morgenden suchten seine Gedanken Halt in der Erinnerung an seinen Ursprung, sein früheres Leben, doch blieb es ihm hinter einem undurchsichtigen Schleier verborgen. Seine Erinnerung reichte nur bis zu dem Tag, wo er unter Schmerzen stöhnend auf einer Lagerstatt aus Teppichen und Decken zum ersten Mal seit vielen Tagen wieder die Augen öffnete und neben sich stehend jene Frau wahrnahm, die ihn jetzt in seiner neuen Umgebung regelmäßig besuchte, dem Mondstand folgend. Damals konnte er nur die Augen bewegen, und er wusste nicht, ob er wirklich gelähmt war, oder ob ihn nur die Schmerzen an einer Bewegung seines Körpers hinderten. Die Frau hatte sich danach, als er seine Augen zum ersten Mal öffnete, zu ihm niedergebeugt und ihm eine bitter schmeckende Flüssigkeit eingeflößt, die ihn sanft entschlummern ließ.
Wie lange er seinerzeit geschlafen hatte, wusste er nicht. Die Schmerzen hatten jedoch merklich nachgelassen, sodass er sein Augenmerk auf seine Umgebung richten konnte, soweit es seine Lähmung zuließ. Er lag damals in einem dunklen Zelt mit dem Gesicht zum geöffneten Eingang, der tagsüber die einzige Lichtquelle abgab, und die bei der plötzlich einsetzenden Dunkelheit von einer Öllampe ersetzt wurde.
Er brauchte nicht lange zu warten, da betrat dieselbe großgewachsene Frauengestalt sein Zelt, die nach Erwachen aus seiner anfänglichen Ohnmacht bei ihm gewacht hatte. Für unzählige Tage war sie der einzige Mensch, den er zu Gesicht bekam. Sie beugte sich über ihn, wobei ihre schwarzen hüftlangen Haare auf ihn niederfielen und sein Gesicht bedeckten, so dass er nichts mehr sehen konnte. Da auch seine Arme gelähmt waren, strich sie ihm ihre Haare beiseite. Zum ersten Mal schauten beide sich in die Augen, er in ihre unergründlich dunklen und sie in seine durchsichtig hellblauen. Und zwei Blicke verwebten sich zu einem einzigen.
Sodann schlug sie seine Decken zurück und begann seinen gesamten Körper mit einem nach Minze riechendem Öl abzureiben, nachdem sie die Tücher unter ihm erneuert hatte. Nachdem sie ihm einen süßlich schmeckenden Brei eingeflößt hatte, entfernte sie sich ebenso hoheitsvoll, wie sie gekommen war, und überließ ihn einem entspannten Schlaf bis zum nächsten Morgen. Wenn er dann noch schlief, tippte sie ihm leicht auf die Stirn, bis er die Augen öffnete. Vor dem Brei flößte sie ihm sodann wieder jene bitter schmeckende Flüssigkeit ein und begann anschließend, wenn die restlichen Schmerzen unter der Wirkung der bitteren Flüssigkeit gewichen waren, seinen Körper mit einem geruchlosen Öl leicht zu massieren. Und wenn er dann ein wohliges Stöhnen nicht unterdrücken konnte, dann erschien ein flüchtiges Lächeln auf ihrem edel geschnittenen Gesicht, das von leicht betonten Backenknochen und kräftig geschwungenen Lippen beherrscht wurde, die sich in ihrer bräunlichen Farbe nur schwach von der hell bräunlichen Gesichtsfarbe abhoben.

Und so vergingen die Tage, einer wie der andere. Und er nahm diese Frau in ihrer steten Sanftmut wahr, die einem tiefen Wissen und innerer Stärke zu entspringen schien.
Nach einer ihm unendlich vorkommenden Zeit, wo ihn zwar seine Schmerzen aber nicht seine Lähmung verlassen hatten, erschien sie eines Morgens nicht wie gewohnt in ihrem schwarzen Umhang, sondern in einem dünnen weißen Gewand und blieb damit für Augenblicke in der Zeltöffnung stehen, so dass die schräg einfallenden Sonnenstrahlen ihren deutlich weiblich geformten Körper umspielten. Und er nahm sie zum ersten Mal als das wahr, was sie war, als jenes göttliche Weib. Er sah, dass sie nicht eigentlich dick war, sondern dass sie den rassigen, breiten und gleichwohl zarten Bau jener Stuten hatte, die er täglich von seiner Lagerstatt durch den offenen Zelteingang draußen bewundern konnte.

Nachdem sie ihm ausgiebig diesen Augenblick geschenkt hatte, ließ sie ihr Gewand fallen und beugte sich so über ihn, dass ihre steifen, großen Brustwarzen leicht seine entblößte Brust streichelten, und entlockte ihm damit ein leises Stöhnen. Sodann deckte sie ihn wieder zu, zog sich an und verließ hocherhobenen Hauptes das Zelt. Auch dieses wiederholte sich nun jeden Tag, solange, bis sich das Kribbeln unter seiner Haut so verstärkt hatte, dass er plötzlich aufschreiend seine Arme hochheben konnte, und seine Hände ihre festen, schweren Brüste umgreifen konnten. Dies ließ sie für einen Augenblick geschehen und entwand sich dann aber seinen Griffen. Und ab da an erschien sie morgens wieder in ihrem schwarzen Umhang. In ihrem Blick aber schwang ein liebevoller Triumph mit, denn nun wusste sie aus den Tiefen ihres Inneren, dass die eigentliche Heilung bei ihm eingesetzt hatte. Und sie nahm ihn mit ihrem untrügerisch weiblichen Instinkt einer Wüstenfrau fortan als den Mann wahr, den ihr die Vorsehung bestimmt hatte.

Sie hatten bis dahin kein Wort miteinander gewechselt. Als er sie dann aber eines Tages nach ihrem Namen fragte, und sie ihm ihren Finger auf den Mund legte, erkannte er die Sinnlosigkeit seiner Frage. Aber er erfuhr damit zum ersten Mal, dass er sprechen konnte. Und sie in ihren noch jungen Jahren erfuhr zum ersten Mal den begehrlichen Blick eines Mannes, auf den ihr eigener Körper nun heftig reagierte. Und beide ertrugen in stiller Übereinkunft die aufgezwungene Zurückhaltung.

Eines Morgens traten mehrere Frauen in sein Zelt und hoben ihn auf eine Sitzbahre, nachdem er Tage vorher seinen Oberkörper hatte aufrichten können. Sie setzten ihn unter dem Vordach seines Zeltes ab, von wo er das Treiben des Stammes überblicken konnte. Dabei fiel ihm auf, dass der Stamm offensichtlich nur aus Frauen bestand, alle großwüchsig und stolz wie seine Heilerin – oder wie sollte er sie nun bezeichnen?
Es war jedoch ausschließlich sie, die sich weiterhin um ihn kümmerte. Die übrigen Frauen des Stammes hielten deutlich Abstand. Nur die Kinder kamen bis auf wenige Schritte zu ihm hin. Es waren nur Mädchen, Jungen konnte er keine sehen. Sie diskutierten offensichtlich über seine Fremdartigkeit, seine langen blonden Haare, seine hellblauen Augen, seine ungewohnt kleine Nase und seine immens großen Füße, die unter seinem Burnus nackt hervorragten.

Sie brauchte ihn nicht mehr zu füttern. Und während er seine Speisen zu sich nahm, deren Zusammensetzung nunmehr abwechslungsreicher war, setzte sie sich in den Sand neben ihn. Und irgendwann begann sie damit, im weichen Sand nach und nach die Geschichte aufzuzeichnen, wie die Frauen ihn schwer verletzt im heißen Wüstensand gefunden hatten. Und das wiederholte sie so lange, bis er nach und nach die Zusammenhänge erkannte und sich ein Bild von den Geschehnissen machen konnte. Danach war er wohl mit einem Apparat vom Himmel heruntergesegelt und derart heftig auf einem Felsbrocken aufgeschlagen, dass er ohnmächtig und verletzt daneben im Sand liegengeblieben war. Die Frauen ihres Stammes, die zur Jagd unterwegs gewesen seien, hätten gesehen, wie er vom Himmel heruntergesegelt sei und wären zu seiner Landestelle geeilt, wo sie ihn dann gefunden und in ihr Lager transportiert hätten. Alle hätten dann beraten, wer sich um ihn kümmern sollte. Dabei sei die Wahl auf sie als Heilerin gefallen.
In dem Augenblick, indem er all dies begriffen hatte, nahm er ihre Hand und küsste sie leidenschaftlich. Und er sprach: „Wer immer Du sein magst, mein ganzes Ich dankt Dir bedingungslos.“ Als er so ihre Hand in der seinen festhielt und diese wieder zu seinem Mund führen wollte, kam aus ihrer Kehle ein einzigartig dunkles, glucksendes Lachen, womit sie ihre Hand der seinen entzog. Und daraufhin schrieb sie in den Sand vielleicht ihren Namen, denn er konnte die Schriftzeichen nicht lesen und die zischenden Laute nicht verstehen, die sie dabei aussprach.

Vor seinem Zelt sitzend, konnte er mit seinen Sinnen am Leben auf dem Zeltplatz teilnehmen. Ausnahmslos alle Frauen trugen in dem Gürtel vor ihrem Bauch einen reich verzierten Krummdolch. Und einige hatten ein Gewehr über der Schulter. Wie sie ihm später erklärte, waren es jene Frauen, die gerade zur Jagd ritten oder das Lager bewachten, das auf einer sanften Erhebung lag, und wovon man weit ins Land sehen konnte.

Abends trugen die Frauen ihn wieder in sein Zelt zurück und betteten ihn auf sein Lager. Als es dunkel geworden war, schlüpfte sie in sein Zelt und legte sich geräuschlos neben ihn. Er wagte nicht sich zu rühren. Doch als ihre Hand nach seinem Glied tastete und es festhielt, suchten seine Hände ihre Brüste. Doch sie stand unvermittelt auf und verschwand wie sie gekommen war. Am nächsten Morgen, als er wieder vor der Hütte saß, suchte er ihren Blick nach einer Erklärung ab, aber sie schüttelte nur traurig den Kopf. Als sie in der Folgezeit nachts seinem Lager fernblieb, hatte er keine andere Wahl als zu begreifen. Und eine tiefe Verzweiflung bemächtigte sich seiner.

Eines Tages traten dann zwei Frauen links und rechts neben ihn, hoben ihn an, unterfassten seine Schultern und trugen ihn über den Stammesplatz, wobei seine Beine hilflos über den Sand schleiften, so sehr er sich auch bemühte, sie zu gebrauchen. Dies wiederholte sich nun täglich. Und eines Tages, als seine Taubheit in den Beinen einer Spur von Gefühl wich, ließen sie ihn in sengender Hitze unvermittelt fallen und entfernten sich. So lag er flach auf dem Bauch und seine Hände verkrampften sich im Sand, fanden jedoch keinen Halt. Die jungen Mädchen standen um ihn herum und riefen ihm unverständliche Worte zu. Keines von ihnen lachte. Etwa fünfzehnmal seine Körperlänge trennte ihn von seiner Sitzbahre vor seinem Zelt. Sein Oberkörper bewegte sich, ohne ihn vorwärtsbewegen zu können. Doch er spürte immer deutlicher, wie sich das anfängliche Lebensgefühl in seiner Hüfte in seine Beine bis zu einem starken Kribbeln fortsetzte. Und plötzlich fühle er volles Leben in seinen Zehen, die sich in den Sand bohrten. Und langsam konnte er sich millimeterweise vorschieben, wobei seine Finger sich tief in den Sand gruben. Dies gab ihm die Kraft, in seinem verzweifelten Bemühen fortzufahren. Und je weniger er seine Situation als eine erbärmlich empfand, desto stärker wurde sein Willen. Kurz vor seiner Sitzbahre brach er erschöpft zusammen.

Er wachte auf seinem Lager in seinem Zelt auf. Sie begann seinen Unterkörper und seine Beine mit einer schwärzlichen zähen Substanz einzureiben und massierte damit zuletzt auch sein Glied, das aus langer Ohnmacht erwachte und in ihren Händen plötzlich stattlich steif wurde. Als es ihr unter Aufbäumen seines Körpers seinen Samen entgegenspritzte, lachte sie laut und begehrlich auf. Er hörte noch ihr kehliges Lachen, bevor er spontan in einen leichten Erschöpfungsschlaf fiel. Als er in dieser Nacht wach wurde, legte sie sich sanft auf ihn. Und es kam zu der lang ersehnten Vereinigung, vorsichtig und behutsam, wissend um die Zerbrechlichkeit des Augenblicks und seiner Außergewöhnlichkeit.

Am kommenden Tag schleppten ihn die Frauen wieder über den Gemeinschaftsplatz und deuteten immer wieder an, ihn fallen zu lassen, bis seine Beine etwas Stand fanden, seinen Körper aber noch nicht tragen konnten. Das wiederholte sich alle Tage, bis er eines Tages alleine stehen konnte. In diesem Augenblick erscholl um ihn herum das Sieges- und Freudentrillern dieser stolzen Beduinenfrauen, die absichtlich alleine lebten. Und dann, wenn sie Lust verspürten, riefen sie gedanklich aus dem nicht weit entfernten Männerstamm, mit dem sie dieselbe Rasse bildeten, ihren jeweiligen Favoriten zu sich auf ihr Lager.

Deshalb mussten diese Männer unfreiwillig alleine leben, zumal es andere Frauen ihres außergewöhnlichen Geschlechts sonst nirgendwo gab. Diese Männer hielten sich im übrigen zur Verrichtung von Frauenarbeiten schwarze, kleinwüchsige Frauen aus dem fernen Süden des Kontinentes als Sklavinnen. Diese schwarzen Frauen zogen auch alle gemeinsamen männlichen Kinder der beiden Stämme auf. Die gemeinsamen weiblichen Nachkommen blieben jedoch im Lager der Frauen. Dies alles erfuhr er erst später von ihr, nachdem beide gelernt hatten, sich durch Zeichensprache und einige wenige Worte besser verständlich zu machen.

So war denn der Tag nicht mehr fern, dass er vorsichtig, auf einen Stock gestützt, ein Bein vor das andere setzten konnte. Und als seine Genesung so weit fortgeschritten war, dass er sich frei und ohne Hilfe bewegen konnte, da biss sie ihn eines Morgens nach ihrer Vereinigung kräftig in die Schulter und verschwand. Dieser Biss sollte ihn noch mehrere Tage wohlig schmerzlich an diesen Abschied erinnern.

Als er nämlich, wie gewohnt, bei Anbruch des Tages vor sein Zelt trat, da warteten zwei berittene Männer auf dem leeren Platz auf ihn und bedeuteten ihm auf das mitgeführte dritte Pferd zu steigen, das einer an einem Strick führte. Und als er Anstalten machte sich zu weigern, stieg der größere der beiden Männer von seinem Pferd und hob ihn mit einem einzigen Schwung in den Sattel. Und dessen Miene zeigte an, dass er keinen Widerspruch gewohnt war. Sodann setzten sich beide auf ihren Pferden in Bewegung, das dritte Pferd am Strick mitführend. Er schaute sich um, doch er konnte von ihr keine Spur erblicken. Er konnte überhaupt keine der Frauen erspähen. In seinem schockartigen Zustand fehlte ihm jedoch jede Initiative, irgendetwas gegen den Willen seiner Entführer zu unternehmen. Und der ungewöhnliche tief eingeschnittene Sattel sorgte ohne sein Zutun für seinen nötigen Halt.
Er verfiel in eine tiefe Resignation, eine ohne bewusste Vergangenheit und eine ohne erkennbare Zukunft. So sehr er sich auch abmühte, in seiner Erinnerung Antworten auf die Fragen zu seiner Identität zu finden, ein undurchdringlicher Nebel breitete sich über allem aus.
Bislang hatte das tägliche Bemühen um seine Genesung, die Freude an deren Fortschritten und die tiefe Zuneigung zu seiner Heilerin jeden aufkommenden Schatten eines Verlorenseins vertrieben. Aber mit seiner Verschleppung jetzt brachen diese Stützen ein, und alles um ihn herum verfinsterte sich zu einem feindlichen Grau.

Am späten Nachmittag war das Ziel offensichtlich erreicht. Sie ritten in eine wohlgeordnete Ansammlung von den üblich dunklen Zelten und machten auf dem Platz in ihrem Mittelpunkt halt. Seine beiden Entführer glitten behende von ihren Pferden und halfen ihm lachend aus dem Sattel. Die umstehenden Männer begrüßten ihn, wie man einen Gast begrüßt, indem sie ihre linke Hand erst an die Stirn führten und sodann auf ihr Herz legten. Ein junger, hinkender Mann führte ihn zu einem größeren Zelt, das offensichtlich ab sofort das Seine sein sollte. Er war zu erschöpft, um seiner Einrichtung Beachtung schenken zu können. Er missachtete die für ihn auf einem Teppich niedergestellten Speisen und ließ sich auf der weichen Lagerstatt niedersinken, wo er sofort in tiefen Schlaf verfiel. In diesem begegnete ihm ihr schönes Gesicht, das ihn liebevoll anlächelte.

Mit diesem nächtlichen Eindruck wachte er morgens auf, so dass der neue Tag nicht gar so grau begann, wie der Vortag geendet war. Benommen trat er vor sein Zelt und schaute in eine rotglühende Felsenlandschaft um ihn herum. Die Sonne hatte schon von dem neuen Tag Besitz ergriffen. Unter dem Vordach waren auf einem Teppich eine silbrige Teekanne nebst Glas, ein großes Stück Fladenbrot sowie getrocknete Datteln in einer Schale abgesetzt. Daneben lag ein in Leder eingewickelter Gegenstand, der sich beim Auswickeln als ein geladener Revolver entpuppte, und den er als solchen erkannte. Vor dem Zelt stand, an einem schattenspendenden Baum angebunden, ein aufgezäumter Schimmel, der dann später bei zunehmender Hitze weggeführt wurde. Da wurde es ihm gewiß, dass er hier keineswegs als Gefangener festgehalten wurde. Aber es ließ sich keiner vom Stamm bei seinem Zelt sehen, das abseits von den übrigen stand. Er setzte sich also mit übergekreuzten Beinen, wie er es bei den Frauen gelernt hatte, auf den Teppich unter dem Vordach und trank den süßlich bitteren Tee, aß von dem Fladenbrot und probierte die Datteln. Und ein wenig der inneren Anspannung fiel von ihm ab.

Als die Sonne sich anschickte die Schatten zu verkürzen, da ging er in sein Zelt und fand zu seiner Verwunderung neben seinem Kopfende einen schweren silbernen Armreif, den er wohl am Abend zuvor übersehen hatte. Wie oft hatte er diesen und keinen anderen bewundert, zumal in jenen Momenten, wo sie nur noch ihn getragen hatte und sonst nichts, und der sich so deutlich von ihrem hellbraunen Körper abgezeichnet hatte. Da wusste er, dass er sie wiedersehen würde.

Eine alte Schwarze schlurfte in sein Zelt und stellte eine dampfende Schüssel auf seinen Essteppich ab. Sie verschwand, um eine Karaffe mit frischem Wasser zu holen und eine Schale mit Zitronenwasser. Er nahm auf einem Kissenberg davor Platz, tunkte die Fingerspitzen seiner linken Hand in das Schälchen mit Zitronenwasser und langte danach damit in die Schüssel, um abwechselnd Reis und Fleischstücke zum Mund zu führen. Als er gesättigt war, wusch er sich die Finger beider Hände in dem Zitronenwasser und legte sich zum Schlafen nieder, nachdem er sich den silbernen Armreif von ihr über sein linkes Handgelenk gestreift hatte.

Als er danach aufwachte, sah er an den längeren Schatten von seinem Zelt, dass die sommerliche Sonne ihren Höchststand längst verlassen hatte. Er trat vor sein Zelt, wo der junge Mann, der ihn vortags zu seinem Zelt geführt hatte, offensichtlich auf ihn gewartet hatte. Dieser grüßte ihn lächelnd und forderte ihn durch Gesten und unverständliche Worte auf, ihm zu folgen. Der junge Mann schlug hinkend den Weg zu einem näher stehenden Felsen ein, aus dem eine Quelle mäßig aber stetig sprudelte. Er schöpfte daraus mit den hohlen Händen Wasser und trank es. Sodann säuberte er sich das Gesicht in dem kleinen Wasserbecken, in das sich die Quelle ergoss. Der junge Mann ließ ihn allein, so dass er sich endlich von all dem Schweiß und Staub der letzen zwei Tagebefreien konnte.

Die nächsten Tage verliefen ähnlich, wobei man offensichtlich keine Eile zeigte, sich mit ihm in irgendeiner Form näher zu befassen. So wartete er in zunehmender Ungeduld ab, was mit ihm geschehen würde.
Als ein paar Tage dergestalt vergangen waren, und man immer wieder vormittags das gesattelte Pferd vor seinen Zelt fortgeführt hatte, da erschien plötzlich an einem späten Nachmittag der hinkende junge Mann und setzte sich wortlos neben ihn unter das Vordach des Zeltes. Nachdem beide wortlos in die Ferne geblickt hatten, sagte der junge Mann zu ihm „Karim“, wobei er mehrmals auf seine Brust tippte. Und dann zeigte der junge Mann auf ihn. Doch er konnte Karim nur mit einem Kopfschütteln antworten. Gewiß kannten die Männer und somit auch Karim die Umstände, die ihn in diesen Winkel der Welt verschlagen hatten, denn in der weiten Wüste gab es keine Geheimnisse. Alles teilte sich allen auf sonderbare Weise mit. Karim schaute ihn daraufhin offen und direkt mit seinen wachen Augen an, was selten vorkam. Er schien intuitiv die Dinge zu erfassen, indem er mit dem Kopf nickte und mehrfach ein Wort aussprach, dessen Bedeutung er später von Karim als „verlorener Fremder“ erfuhr.

Karim besuchte ihn nun jeden Tag und fing an, mit Gesten und Zeichnungen im Sand ihm ein paar Begriffe des täglichen Lebens seiner Sprache zu erklären. Auch machten beide zusammen kurze Ausflüge in die nähere Umgebung, wo dann Karim auf einzelne Pflanzen, Tiere oder tote Gegenstände zeigte und das dafür bestimmte Wort aussprach, was der andere dann jedes Mal wiederholen musste. So verrann die Zeit wie in einer Sanduhr, langsam und stetig. Und er begriff alsbald, dass Karim die Aufgabe hatte, ihn auf das Gemeinschaftsleben mit den anderen vorzubereiten, behutsam und gemächlich. Denn offensichtlich wollte er doch von ihrem großzügigen Angebot keinen Gebrauch machen, mit dem täglich bereitgestellten Pferd fortzureiten.

Als der Mond sich anschickte, seine Scheibe zu runden, wurde sein Schlaf immer unruhiger. Und jede Nacht trat er sehnsuchtsvoll vor sein Zelt unter dem großen Sternenzelt mit seinem klaren tausendfachem Gefunkel. Er prüfte die Mondscheibe, ob sie schon im Abnehmen begriffen sei, kniete nieder und bat einen neuen Gott, der hier zuständig war, er möge sie ihm schicken. Aber es bedurfte dieses Gebetes nicht, denn es stand schon längst geschrieben, dass sich ihre Seelen zusammengetan hatten. Und so geschah es in der Folgenacht, dass sich ihre beiden Wesen und Körper wieder in einer nicht enden wollenden Umarmung vereinten, was ihm erneut diese wundersame Kraft verlieh, die Zukunft, wie ungewiss sie sich im Moment auch zeigte, ertragen zu können.

Bei Morgengrauen war sie dann längst verschwunden. Und später, als seine Verständigung mit Karim schon ganz gut war, erklärte dieser ihm, dass es eigentlich gegen die strengen Sitten seines Stammes verstoßen würde, dass sie hier nachts das Lager mit ihm teilen würde. Aber da sie als Heilerin höchstes Ansehen genießen würde, und da man davon ausginge, dass er ihre Botschaften nur in günstigen Augenblicken im Traum empfangen könne, so würde in diesem Fall eine Ausnahme geduldet, allerdings unter der Bedingung, dass sie nur nach Anbruch der Dunkelheit in sein Zelt käme. Und warum er sie denn nicht in ihrem Lager aufsuchen dürfe, wollte er von Karim wissen. Weil nur sie ihre unfruchtbaren Tage kennen würde, erwiderte Karim, und erläuterte dies damit, dass das oberste Gesetz beider Stämme die Erhaltung der Reinheit ihrer Rasse vorschreiben würde. „So kann ich sie also nur hier und nur des nachts treffen?“, fragte er Karim. Und dieser lachte „Aber nein, Ihr könnt euch beide doch irgendwo tagsüber treffen. Mach es ihr klar, und sie wird wie üblich die Initiative ergreifen.“ Was sie dann später auch tat, und ihm dabei die schönsten Plätze der näheren und weiteren Umgebung zeigte, wo sie sich liebten und wo sie, wie bereits in der Vergangenheit, immer wieder von ihm geküsst werden wollte; sosehr hatte sie daran Gefallen gefunden.

Eines Morgens erschien Karim bei ihm mit zwei Gewehren. Sie ritten in eine nahe Schlucht, wobei er sich darüber wunderte, wie problemlos er sein Pferd dirigieren konnte, nachdem ihm Karim ein wenig die Zügelführung gezeigt hatte. Manchmal schien es ihm, als würde er von unsichtbaren Kräften geleitet. Und manchmal schien es ihm im nachhinein, dass er etwas scheinbar Neues aus Routine heraus getan hatte. So war es dann auch mit dem anschließenden Schießen auf Blechdosen, die Karim in einiger Entfernung aufgestellt hatte. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals ein Gewehr bedient zu haben. Aber irgendwie glückte ihm das auf Anhieb. Und auch das Zielen war ihm nicht fremd. Doch verfehlte er jedes Mal das Ziel. Und Karim erging es nicht besser. So ging er zu den Blechdosen hin und untersuchte die Abstände der Aufschläge zu den Zielen. Da diese Abstände beträchtlich waren, konnte der Grund nicht ein fehlerhaftes Zielen sein, sondern musste an den klapprigen Gewehren liegen. Der Abstand zu den Zielen musste also deutlich verringert werden, was für Karim eine neue Erkenntnis dazustellen schien, denn er versicherte, dass die Männer des Stammes auf alle Entfernungen schießen würden, was dann sicherlich auch ein Grund für den verhältnismäßig bescheidenen Erfolg der Jagdausflüge war. Sie verkürzten also die Distanz zu den Zielen um die Hälfte, so dass die Streuung der Gewehre nur noch eine geringe war. Und Karim war sichtlich erfreut über seine hohe Trefferzahl, wozu allerdings noch eine andere Erkenntnis beitrug. Er machte nämlich Karim darauf aufmerksam, dass die Gewehrläufe, die sie zum besseren Zielen auf harten Stein auflegten, jedes Mal bei Schussabgabe geringfügig nach oben sprangen. Als sie dies also dadurch vermieden, dass sie eine weichere Unterlage schufen, erhöhte sich nochmals die Trefferzahl.

Am kommenden Tag, als Karim die Schießgenialität des Fremden im Lager bereits verbreitet hatte, erschien er in aller Frühe in seinem Zelt und gab ihm aufgeregt gestikulierend und redend zu verstehen, dass die Jäger ihn an diesem Tag zur Jagd einladen würden, und dass er sich fertig machen solle. Im Sattel sitzend, reichte ihm Karim dann Minuten später ein Gewehr hoch. Sodann trafen sich alle Jäger beritten auf dem großen Platz, und Karim schärfte ihnen ein, in Sichtweite des Wildes abzusitzen und sich so nah wie möglich anzuschleichen und erst dann zu schießen. Denn bei Abgabe eines verfrühten Schusses war die Chance für Stunden bei der Spärlichkeit des Wildes vertan, was auch jeder wusste. Doch an diesem Tage wurde kein Wild gesichtet, was hauptsächlich aus den scheuen und schnellen Zwergantilopen bestand.

Mit den Einladungen zum Jagen war er endgültig in der Gemeinschaft aufgenommen worden, trug er doch nun seinen Teil zum Überleben des Stammes bei. Und nicht selten war er es, der blonde, blauäugige Fremde, der auf der Kruppe seines Pferdes eine Jagdbeute ins Lager brachte.

Ab sofort durfte er auch an den Beratungen der Stammesältesten als Zuhörer teilnehmen, die nur unregelmäßig und fast ausschließlich nur dann stattfanden, wenn es etwas Wichtiges zu entscheiden gab, was den ganzen Stamm betraf. So auch dieses Mal. Im großen Zelt saßen die Stammesältesten in einem Kreis zusammen. Ihre scharf geschnittenen, dunklen Gesichter mit der markanten Nase und dem energischen Kinn hoben sich hart von ihrer schneeweißen Kleidung ab. Sie berieten darüber, wie auf einen räuberischen Überfall auf eine der Ziegenherden des Stammes zu reagieren sei, wobei einer ihrer Männer getötet worden war. Obwohl er in der zweiten Reihe hinter den in Weiß gekleideten Stammesältesten saß, vernahm er von diesen nur ein schwaches Gemurmel, jedoch sah er keinerlei Gesten oder irgendwelche äußeren Zeichen von Emotionen. Sodann standen die Stammesältesten wie auf ein Zeichen abrupt auf und verließen einer nach dem anderen nahezu geräuschlos und gemessenen Schrittes das Zelt.
Als er Karim sodann nach dem Ergebnis der Versammlung fragte, erwiderte dieser wie selbstverständlich, dass einige von Ihnen bald aufbrechen würden, um diese elenden Schurken zu finden und zu töten. Und als er daraufhin Karim bat, an diesem Unternehmen teilnehmen zu dürfen, erwiderte Karim mit einer Bestimmtheit, die keinen Widerspruch duldete, dass er als Fremder nicht betroffen sei, und dass sein Blut deshalb nicht vergossen werden dürfte.

Die Jahreszeiten hatten sich schon zweimal wiederholt. Er beherrschte nun schon seit geraumer Zeit leidlich ihre Sprache. Als Karim und er bei Sonnenuntergang einmal wieder wie so häufig zusammensaßen, fragte ihn Karim unvermittelt, welchen Grund seine Traurigkeit habe, die ihn so gefangen hielte. Nach einigem Zögern erwiderte er Karim, dass diese wohl daher stamme, dass er nicht wisse, woher er komme und wohin er gehe, denn die Antwort, dass er einfach nicht wisse, wer er sei, wäre für diesen klugen, doch einfachen Wüstensohn zu abstrakt gewesen. Karim schien von dieser Antwort sehr beeindruckt zu sein, denn seine Stirn legte sich in Falten, was so gut wie nie vorkam.

Am folgenden Tag besuchte ihn Karim schon am frühen Nachmittag, was wegen der Hitze sehr ungewöhnlich war. Er berichtete, dass am Vormittag die Stammesältesten im Versammlungszelt über ihn beratschlagt hätten, und dass man übereingekommen sei, ihn morgen in eine kleinere Stadt mitzunehmen, wo auch viele Leute seiner Hautfarbe lebten. Es würde sich um eine zweitägige Reise handeln. Er selbst würde auch mitkommen.
Am kommenden Tag machte sich die Gruppe von insgesamt fünf Männern noch weit vor Sonnenaufgang auf den Weg, nachdem er zuvor von Karim aufgefordert war, den Revolver mitzunehmen, während alle anderen quer über dem Rücken Gewehre trugen.
Die Reise verlief ohne Zwischenfälle. Man rastete bei Hitze und ritt weiter bei ihrem Nachlassen. Zwei Packpferde trugen den Proviant, das Futter für die Pferde und vor allem das Wasser in Säcken aus Ziegenleder, denn Wasserstellen gab es unterwegs nicht. Wenn man rastete, wurde wenig gesprochen. Und auch Karim war ungewöhnlich einsilbig. So gab er ihm auf seine Frage nach dem Zweck dieser Reise eine irgendwie unzulängliche, jedenfalls gänzlich unverständliche Antwort.

Am zweiten Tag hatte es seine Begleitung eilig. Man machte schon am späten Vormittag nur eine kurze Rast im Schatten einer alten Ruine, so dass sie schon am Nachmittag am Rande der Kleinstadt ankamen und dort auf einem kleinen Marktplatz im Schatten der Bäume die Pferde anbanden.
Karim forderte ihn sodann auf, mit ihm ein wenig die Stadt zu erkunden, worin er neugierig einwilligte. Aber schon bald waren ihm der Lärm und der Gestank derart unerträglich, dass er Karim bat umzukehren. Doch dieser zog ihn mit sich fort und machte ihn auf allerlei aufmerksam: auf die vielen Menschen seiner Hautfarbe, auf die stinkenden und lauten Verkehrsmittel, oder auf die Geschäfte mit fremdartigen Waren. In einem Augenblick, wo er stehen geblieben war und sich eine Geschäftsauslage angesehen hatte, war Karim plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Ein Suchen in diesem Chaos war völlig sinnlos, so dass er sich zur Umkehr entschloss. Keuchend auf dem kleinen Marktplatz angekommen, hielt er vergebens Ausschau nach seinen Leuten. Nur sein Pferd wartete geduldig an seinem alten Platz auf ihn. Und als er über dessen Hals einen Wassersack, einen Futtersack, ein Säckchen mit Proviant und einen Blechnapf sowie über dem Sattel zwei Decken wahrnahm, da begriff er, dass sie ihn absichtlich hierhin geführt hatten, um ihn sodann zu verlassen. Nachdem sich seine anfängliche Panik gelegt hatte, konnte er sich die Zusammenhänge einigermaßen ruhig erklären. Aufgrund seines Geständnisses gegenüber Karim, warum er eine tiefe Traurigkeit in sich verspüre, hatten die Stammesältesten beschlossen, ihm die Gelegenheit zu geben, in seine Zivilisation zurückzukehren.

Obgleich erschöpft, bestieg er sein Pferd und wendete es in die Richtung, von woher sie gekommen waren. Er wollte bei Helligkeit noch so lange reiten, wie es ihm die Orientierung ermöglichte. Denn die Orientierung nach dem Sternenstand, die er von Karim gelernt hatte, wäre ihm zwar möglich gewesen, aber er vertraute doch lieber dem Tageslicht, zumal ihm das Pferd ein schnelles Vorankommen garantierte, so dass die Hitze nicht ewig auszuhalten war. Er ritt also bis in die Dunkelheit hinein und bis zu einem markanten Felsen, der sich gegen den Himmel abzeichnete. Dort schlug er sein Lager auf, versorgte sein braves Pferd, machte ein kleines Lagerfeuer aus Reisig, das der Wind an einer Felswand angesammelt hatte und schlief sodann in Frieden ein, zum ersten Mal genau wissend, was er wollte.
In dieser Nacht lichtete sich der Nebel seiner Vergangenheit ein wenig. Und er sah Bilder einer Großstadt und eines Raumes, in dem mehrere Leute auf ihn einredeten. Er umarmte eine Frau, der er zum Abschied ein Bündel Banknoten mit der Bemerkung übergab, dass er das Geld nicht mehr brauche. Und er sah sich in ein Flugzeug mit braun grünlicher Farbe einsteigen. Anschließend schloss sich der Nebel wieder zu einer undurchsichtigen Masse.
Danach erschien sie ihm in ihrem weißen, dünnen Gewand. Und sie winkte ihn zu sich. Von seinen laut gesprochenen Worten „Ich komme“, wachte er auf.

Er gab seinem Pferd aus dem Blechnapf ausreichend zu saufen und zu fressen. Er selbst aß ein paar Haferflocken durchmischt mit Rosinen und trank ein paar Schlucke Wasser. Bei Sonnenaufgang ritt er eine ihm vom Hinweg her bekannte Bergkuppe hoch, wovon er einen guten Überblick über die weitere einzuschlagende Route haben würde. Morgen gegen Mittag würde er ankommen, wenn es seine Kräfte und die des Pferdes bei der herrschenden Hitze erlauben würden. Auf der Anhöhe verschaffte er sich einen Überblick und peilte in der Ferne eine markante Felsformation an. Dann ließ er das Pferd bergab in einen leichten Trab übergehen. Doch zu spät bemerkte er vor sich eine Bodenspalte, als sich das Pferd auch schon überschlug und ihn im weiten Bogen aus dem Sattel schleuderte. Zum Glück landete er in einer seichten Sandmulde und blieb unversehrt. Das Pferd aber versuchte vergeblich aufzustehen. Ein Vorderlauf war rechtwinklig abgeknickt und spitze Knochenstücke waren sichtbar. Seine Nüstern waren gebläht und seine Augen in Panik geweitet. Ohne Zögern zog er seinen Revolver und schoss zweimal auf einen Punkt zwischen Auge und Ohransatz. Das Tier war sofort tot. Für Mitleid war keine Zeit, zumal als er feststellte, dass der Wassersack, den er in einiger Entfernung fand, einen Riss hatte, so dass das Wasser entwichen war. Aber trotzdem dachte er noch daran, den Sattel vom toten Pferd zu zerren und ihn in einer nahen Steinanhäufung zu verstecken. Sodann nahm er eine Decke auf und machte sich auf den Weg, wobei er beschloss, wegen des Wassermangels nur noch in der kühleren Tageszeit und vornehmlich nachts zu marschieren, darauf hoffend, tagsüber genügend Schattenspendendes zu finden. Sonst wäre er darauf angewiesen, seine Decke mit einem Holzstock zu einem provisorischen Sonnenschutz zu benutzen.

Um die Mittagszeit fand er den gewaltigen aber abgestorbenen Baum, an dem sie schon auf dem Hinweg vorbeigezogen waren. Er war also auf der richtigen Route, was ihm eine kleine Zuversicht bescherte. In dem Schatten des mächtigen Stammes machte er Rast, bis die Hitze endlich nachließ. Dann setzte er seinen Weg fort. Als die Dunkelheit hereinbrach, machte er Halt, um den klaren Sternenhimmel abzuwarten. Diesen suchte er sodann nach einem bekannten, strahlend leuchtenden Fixstern ab, der sich in der Nähe eines markanten Sternenbildes befand, und der in die Richtung seines Stammes wies. Karim hatte ihm die markanten Fixsterne erklärt, jeder maßgeblich für eine andere Himmelsrichtung, in der man sich dem Stammeslager nähern konnte. Der Weg war teilweise steinig und beschwerlich. Auch machte sich bereits eine leichte Erschöpfung bei ihm bemerkbar, die aber noch nicht körperlichen Ursprungs war, sondern von inneren Zweifeln und Ängsten genährt wurde.

Bevor die Sonne am nächsten Morgen aufging, legte er, an einen Felsen gelehnt, eine längere Ruhepause ein, wobei er sich mit Mühe wach hielt, um nicht die noch kühlen Morgenstunden zu verschlafen. Er zog aus der Richtung, aus der er kam, einen langen Strich in den Sand, der in Richtung seines Sternes zeigte, um dann bei Tagesanbruch vielleicht damit am Horizont einen markanten Punkt anpeilen zu können. Denn er wusste, dass auf seinem Weg noch eine Gebirgsformation lag, in der er unbedingt die Schlucht wiederfinden musste, die hindurchführte. Als der Morgen graute, und der Sternenhimmel verblasst war, sah er im bläulichen Dunst in der Ferne jene Gebirgskette, die er dann über seinen lang gezogenen Strich anvisierte. Und er merkte sich, dass er sich knapp rechts von einer spitzen Bergkuppe halten musste. Aber schon nach kurzer Zeit wurde die Hitze so unerträglich, so dass er sich niedersetzte, und mit seiner Decke und einem Stock, den er schon seit gestern mit sich führte, eine Art Zelt schuf, dass ihm einigermaßen Schatten spendete. Doch gegen den zunehmenden Durst konnte er sich nicht wehren. Und es erschienen auf seinem Gesicht die ersten salzigen Schweißablagerungen. Bei nachlassender Hitze rappelte er sich wieder hoch. Doch erst die merkliche Kühle der Nacht brachte eine kleine Linderung seines quälenden Durstes und seiner Zerschlagenheit. Mit langsamen aber möglichst großen kraftsparenden Schritten bewegte er sich in dieser Nacht fort, wobei der nachgebende Sand jeden Schritt erschwerte. Immer wieder machte er Halt, aber nur für Augenblicke, um den Körper nicht gänzlich aus der Bewegung zu bringen. Und sein Stern zeigte ihm sodann wieder die Richtung. Als er an diesem zweiten Morgen eine längere Rast einlegte, zog er wieder diesen Strich aus Sicherheitsgründen und zur Kontrolle. Bei Hellwerden entdeckte er damit wieder die Bergspitze. Zu seiner Beruhigung hatte er die Richtung in etwa eingehalten, doch schien die Bergkette kaum nähergerückt zu sein. Er kam nach kurzer Überlegung zu dem Schluss, dass er wohl über die Hälfte der Distanz hinter sich gebracht hatte, wenn man die Geschwindigkeit eines Pferdes als dreimal so schnell wie seine veranschlagte, zumal seine Kräfte zunehmend schwanden. Wenn er also durchhalten würde, dann würde er frühestens am Ende des morgigen Tages das Lager erreichen – und dies ohne einen Tropfen Wasser getrunken zu haben während zweier Tage und dreier Nächte und dies bei teilweise ausdörrender Hitze. Aber noch war der Punkt der Aufgabe nicht gekommen. Er brachte sich mit Hilfe des Stockes auf die Beine und versuchte mit langsamen und ausgreifenden Schritten weiterzuschreiten. Bevor dann die siedende Hitze wieder einsetzte, fand er Schatten unter dem Vorsprung eines einzelnen Felsbrockens, an dem er sich hochhangelte, als die Hitze erträglicher war. In dieser folgenden Nacht kam er wegen seiner Erschöpfung nicht weit und konnte seinen Weg erst kurz vor Morgengrauen fortsetzen. Er rieb sich das Salz aus seinem Gesicht und versuchte seinen ausgedörrten Mundraum irgendwie zu befeuchten, was ihm nicht gelang. Auch fiel er immer wieder hin.

Bei Morgengrauen sah er plötzlich aus dem Dunst die Gebirgskette vor sich auftauchen, und er erkannte ohne innere Anteilnahme die Felsenschlucht, die er zu durchschreiten hatte. Als er diese, nunmehr kriechend, fast erreicht hatte, brach er erschöpft zusammen. Der Wille zu überleben und die Sehnsucht nach ihr waren aufgebraucht. Aus dieser Bewusstlosigkeit wachte er im Schatten eines Felsens mit seinem Kopf in Karim’s Schoß auf, der ihm über das Gesicht Wasser geschüttet hatte und ihm eine Schale davon zum Trinken hinhielt. Karims Gesicht strahlte, und er überschüttete seinen Freund mit einem Redeschwall, den dieser nur wie aus der Ferne wahrnahm. Karim holte von seinem Pferd Decken und bereitete ihm eine den Umständen entsprechende bequeme Lagerstatt, auf der der Freund sofort in Schlaf verfiel. Noch bei stockfinsterer Nacht wurde er von Karim geweckt, der ihn sodann mühsam hinter sich auf die Kruppe seines Pferdes zog, wobei ein kleinerer Felsbrocken als Aufstieghilfe diente. Sich fest an Karim klammernd, durchquerten sie die Schlucht. Sie machten erst wieder Halt, als die Hitze ein Weiterreiten verwehrte und sie zu einer Rast im Schatten eines Fächerbaumes gezwungen wurden. Hier bereitete ihm Karim eine bequeme Sitzposition, wobei der Baumstamm als Rückenstütze diente. Karim gab ihm zu trinken, befeuchtete wiederum sein Gesicht, und bedeutete ihm, etwas von einem im Wasser eingeweichtem Hirsebrei zu sich zu nehmen. Dabei erzählte er seinem Freund, dass er das untätige Warten im Lager nicht ausgehalten und sich aufgemacht habe, ihn in der Gewissheit zu suchen, dass er zurückkehren würde. Obwohl ihm das Sprechen noch schwer fiel, erzählte er Karim, warum er sein Pferd habe erschießen müssen, und wo er den Sattel versteckt habe.

Am Nachmittag setzten sie sodann trotz der noch vorherrschenden Hitze ihren Weg fort, um vor Anbruch der Dunkelheit das Lager zu erreichen. Als sie dort mit den letzten Sonnenstrahlen ankamen, waren alle versammelt, und ließen sie durch ihr Spalier auf den Platz einreiten. Er fiel mehr von dem Pferd, als dass er hinunter glitt, wurde aber von starken Armen aufgefangen. Doch schaffte er es, aufrecht und ohne fremde Hilfe in sein Zelt zu gelangen. Dort warf er sich auf sein Lager und verfiel sofort in einen tiefen und friedvollen Schlaf. Karim breitete sodann über ihm zwei Decken aus.
Am kommenden Tag, als die Sonne schon ihren höchsten Punkt überschritten hatte, trat er wie neugeboren vor sein Zelt. Zu seinen Füßen waren für ihn auf einem Teppich das weiße Gewand der Dorfältesten ausgebreitet mit dem dazugehörenden schwarzen Dreifachkordelring, der das weiße Kopftuch festzuhalten hatte. Außerdem war ein reich verzierter silberner Krummdolch beigefügt. Draußen an seinem gewohnten Platz unter dem schattenspendenden Baum wartete wieder ein Pferd auf ihn mit dem Sattel, den er in dem Steinhaufen versteckt hatte.

Dankbarkeit und Freude bemächtigten sich seiner. Und die drängenden Fragen nach seiner Identität waren einer ausfüllenden Zuversicht gewichen. Er fühlte sich zuhause.

Er wechselte seinen braunen Burnus mit dem strahlend weißen Gewand und steckte sich den Krummdolch in den Gürtel. Und wie er es schon einmal bei der Vorführung eines Weisen in der Runde dieser Männerwelt in Perfektion miterlebt hatte, so breitet auch er nun seine Arme aus und versuchte, sich blitzschnell auf dem linken Fuß um seine eigene Achse zu drehen. Doch verlor er dabei sofort die Balance und fiel zu Boden. Karim hinkte lachend hinter dem Zelt hervor, und beide fielen sich in die Arme, was in dieser Männergesellschaft höchst unüblich war.
 
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Kommentare  

Heißer Traum - diese Phantasien kenne ich doch aus irgend einem Indianerschmöker?

Iro.Nie (24.02.2006)

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