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4 Seiten

Verspätung

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
© Serpentia
Der Wind pfeift durch die Äste der Bäume, die den kleinen Bahnhof mit nur einem Gleis wie eine Allee umgeben.
Es ist fast gespenstisch still. Nur das Rauschen des Sommerlaubes und das Zwitschern der Vögel sind zu hören.
Ich schaue auf die weiße, alte Uhr, die hoch oben an einer Laterne hängt.

Noch zehn Minuten.

Wie in Trance hole ich mein Buch aus meiner schwarzen Tasche und fange an zu lesen.
Ein Frau mittleren Alters kommt auf den Bahnsteig.
Ich kenne sie, naja, genaugenommen kennt hier jeder jeden.
In diesem 1000 Einwohner Dorf ist es nicht schwer, sich alle Gesichter einzuprägen und sich dann gegenseitig wiederzuerkennen.
Ich nicke der Fau im grauen Mantel zu, ich habe sie am Geburtstag meiner Nachbarin das letzte Mal gesehen.
Sie grüßt mich höflich. Ich merke, wie ihre Stimme zittert, ihr Gesicht sieht so sorgenvoll aus, schmerzverzehrt.
Aber ich mache mir keine weiteren Gedanken darüber, sondern versinke lieber wieder in der Welt meines Buches.
Nicht viel später kommt eine Gruppe Jugendlicher die Treppe zum Bahnhof hoch.
Einige der Jungs waren mit mir einmal im örtlichen Zeltlager, andere kenne ich aus unserer alten Grundschule, einige wiederum nur flüchtig vom Sehen oder Hören.
Sie scheinen Langeweile zu haben, denn plötzlich tauchen sie vor meiner Nase auf und fangen an rumzupöbeln.
Mit einem gekonnten "Verpisst euch, ihr Spacken!" und einem wütenden Blinzeln hinter meinem Buch mache ich ihnen schnell klar, dass ich keine Lust auf ihre Spielchen hab.
Beleidigt ziehen sie sich zurück in die hinteren Bereiche des Bahnsteiges.
Eine Windböe rauscht durch das dichte Blattwerk der Bäume und macht ein Geräusch wie ein fahrender Zug.
Immer wieder schaue ich von meinem Buch auf, weil ich denke, der Zug würde endlich kommen.
Nach und nach kommen noch andere Leute zum Bahnhof, ein Geschäftsmann, einige Imigranten, die in der großen Sozialunterkunft vor dem Dorf leben, ein Mädchen in meinem Alter, das ich aber ebenfalls nur vom Sehen und Hören kenne. Angeblich ist sie letztes Jahr aus Mainz hierher gezogen.
Sie sieht einsam aus.
Eine junge Frau mit ihrer kleinen Tochter setzt sich neben mich in die enge Wartekabine neben dem Fahrkartenautomaten, an dem die Oma einer meiner Freudinnnen gerade versucht ein Ticket zu ziehen.
Ich stehe kurz auf und biete an, ihr zu helfen. Freudig begrüßt sie mich und erklärt mir ihr Porblem.
Innerhalb kürzester Zeit tippe ich einige Sachen ein und kaufe für sie einen Fahrschein.
"Jaja, die Jugend kommt gut mit der Technik heutzutage klar", sagt sie und ich gehe mit einem freundlichen Lächeln zurück zu meinem Platz.
Als ich mich umsehe, bemerke ich, dass ich die Frau mit dem grauen Mantel gar nicht mehr entdecken kann.
War sie zurück nach Hause gegangen, weil sie etwas vergessen hatte?
Ich schaue noch einmal zur Uhr bevor ich mich wieder meinem Buch zuwende.

Noch 4 Minuten bis der Zug kommt.

Gedanken schwirren mir durch den Kopf.
Was ich noch besorgen muss, bevor ich zu meiner Freundin gehe, welche Klamotten ich heute Abend an Jo´s Party tragen würde, welcher Schmuck dazu passen würde und ob ich wieder mal mein aktuelles Date anrufen sollte.
Es dauert bis ich zum Lesen komme.
Lauter nebensächliche und doch so wichtige Sachen hämmern auf mir rum.

Noch 1 Minute.

Immerwieder schaue ich nervös zur großen Uhr, habe Angst, den Zug nicht zu bemerken, wenn ich mich zu tief in dem Buch versinken lasse oder ihn mit dem rauschenden Wind verwechsle.

4 Minuten nach 15.10.

Er ist spät.
Ich werde ärgerlich auf die Deutsche Bahn, so wie immer, wenn er zu spät kommt. Und das ist nicht nur selten der Fall.

15.20 Ich mache mir Sorgen, ich könnte meinen Bus verpassen und werde immer nervöser.

Zwei junge Teenagerinnen kommen auf den Gleis. Sie sehen abgehetzt aus.
Ich höre sie keuchen, und eine von ihnen sagt: "Ein Glück, wir haben es noch geschafft!"
Ich betrachte sie genauer, für ihre 13 oder höchstens 14 Jahre sind sie viel zu stark geschminkt, für meinen Geschmack. Und diese bauchfreien Tops und Riesenkreolen machen die Beide nur "overdressed".

15.28 Ich rufe meine Freundin an, dass ich später kommen würde, weil der Zug verspätet ist.

Sie jammert eine Weile und schimpft auf´s Schicksal, bis ich ihr sage, dass das Gespräch vom Handy zu teuer wird.
Dann streiche ich die Besorgungen von meinem Plan, sie können auch bis morgen warten, obwohl es blöd ist, wegen soetwas noch mal eine halbstündige Fahrt auf mich zu nehmen.

15.39 Fast halbe Stunde Verpätung und noch immer keine Durchsage wie lange noch.

Das kleine Mädchen neben mir fängt auf dem Schoß ihrer Mutter an zu quängeln.
Sanft versucht die junge Frau sie zu beruhigen. Ich muss ein wenig über diese Szene lächeln.
Sie bemerkt das und sagt rasch:" Entschuldige, sie kann nicht so lange warten."
"Aber nein!", entgegne ich rasch, " Sie ist sehr geduldig. Ich wäre früher nicht so lange ruhig geblieben."
Wir kommen ins Gespräch und die Wartezeit verkürtzt sich auf eine angenehme Weise.
Doch die Frau im grauen Mantel geht mir nicht aus dem Kopf, sie ist immer noch nicht wieder gekommen.

15.45 Endlich die Durchsage, doch mit einer weniger erfreulichen Botschaft.

"Wegen eines Personenschadens, fällt die Reginalbahn "der Lünener" von Dortmund nach Münster um 15.10 leider aus", tönt die kratzige Frauenstimme aus den grauen Lautsprechern.
"Was heißt Personalschaden?", fragt das kleine Mädchen.
"Das heißt das der Zug nicht fährt", antwortet die Mutter kurzgebunden.
Ich höre die Jungen weiter hinten vor Wut laut schreien, die beiden Teenies schimpfen ebenfalls.
"Da beeilt man sich mal, und dann...!"
Der Geschäftsmann holt aufgeregt sein Handy aus der Hosentasche und beginnt wild zu telefonieren.
Die alte Frau zuckt dagegen kaum merklich mit den Schultern und geht davon, die Treppe herunter, über den Parkplatz, zurück zum Dorf.
Ich kratze mich am Kopf und will ebenfalls nach Hause zurück gehen.
"Was machst du jetzt?", fragt mich die junge Frau.
"Ich denke, ich werde den nächsten Zug nehmen",antworte ich gelassen.
"Wenn der denn fährt. Bei einem Personenschaden bleibt der Verkehr oft für einen ganzen Tag still."
"Wieso denn? Wie meinen die das mit dem Personenschaden?", will ich wissen und stecke mein Buch zurück in die Tasche.
Seufzend hält die Mutter ihrem Kind die Ohren zu und sagt mit einem traurigen Blick: "Pesonenschaden heißt, dass jemand unter den Zug geraten ist. Also, dass sich jemand wahrscheinlich wieder vor die Lok geworfen hat."
"Selbstmord?", frage ich verwundert.
"Ja, passiert immer öfter in den Industrieländern", sie spricht mit einer melancholischen Stimme und erlaubt ihrer Tochter wieder mitzuhören, "Es sind meistens unscheinbare Menschen, die wir sogar beiäufig kennen. Nachaußen ganz normale Durchschnittsbürger, wie du und ich."
"Wusste ich gar nicht", meine ich beiläufig, während ich mir Gedanken mache, wie ich jetzt hier wegkomme. Warum darf man in Deutschland eigendlich erst mit 18 einen Führerschein haben? Wie soll ich so mobil und unabhängig von meinen Eltern werden?
"Ich fahre jetzt mit den Auto nach Münster. Soll ich dich vielleicht mitnehmen?", bietet mir die Frau freundlich an.
"Was? Ja, natürlich! Wenn das geht!", ich kann mein Glück kaum fassen und kriege ganz große Augen.
"Ist kein Problem, mein Auto steht unten auf dem Parkplatz. Komm einfach mit."
Sie nimmt ihr Kind auf den Arm und geht vorran.
Ich folge ihr und freue ich tierisch.
Kurz vor der Treppe lässt mich etwas innehalten.
Der Wind streift machtvolldurch die Bäume und das Rauschen macht die Geräusche wie ein fahrender Zug.
Ich drehe mich um und sehe den nun schon fast leeren Bahnsteig.
Der Geisterzug tost um mich herum.
Die Frau im grauen Mantel mit den traurigen Gesicht ist nicht da.
 
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Kommentare  

Sehr gut geschrieben, auch wenn sich, insbesondere
gegen Ende, ein paar Fehlerchen eingeschlichen haben.


Siebensteins Traum (26.05.2019)

Bei 12 views bis jetzt wage ich mal darauf zu hoffen, dass unter den nächsten 12 sich mal ein Kommi einschleicht...

Serpentia (04.09.2005)

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