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3 Seiten

Szene I

Trauriges · Kurzgeschichten
© Holmes
*Was dieser Text hier wirklich ist, weiß ich selbst nicht genau. Für mich war es ein Experiment und ein Bild, welches ich lange Zeit im Kopf hatte. Vielleicht auch eine Fingerübung nach langer Zeit. Bitte zerreißt mich nicht, wenn ihr damit nichts anfangen könnt.*



"Musst du wirklich gehen?" Seine Augen nahmen wieder den ihr mittlerweile gut bekannten verzweifelten Schimmer an.
Sie lächelte traurig. "Du weißt, ich muss. Aber ich schreibe dir. Und rufe an! Ich verspreche es dir ganz fest!" Sie legte ihren Arm um seine schmalen Schultern und zog ihn an sich. Er drückte sich an sie und sie saßen so eine ganze Weile.
Sie fröstelte ein wenig. Der kalte Oktoberwind blies ihr ins Gesicht, sodass sie die Augen schließen musste. Sie spürte seine Wärme an ihrem Körper, seine heftig atmende Brust an ihrem Bauch, seinen Kopf zwischen ihren noch winzigen Brüsten. Und sein leises Beben. Er verkniff sich seine Tränen, große Jungs weinen doch nicht. Nein, sie leiden still. Tatsächlich sah sie nur ein leises Glitzern in seinen braunen Augen, als er den Kopf wieder hob und ihr ins Gesicht sah. Sie wusste jetzt schon, sie würde ihn vermissen. Sie konnte es jetzt schon spüren, dieses Ziehen des Sich-Sehnens, dabei war sie doch noch nie umgezogen. Genau das war es ja. Sie war immer hier gewesen. Und er auch.
" Wirklich? Jeden Tag?" Er schniefte leicht.
"Nein, nicht jeden Tag. Aber mindestens einmal in der Woche. Und vielleicht kannst du mich mal besuchen, Hamburg ist ja nicht so weit weg."
"Ist das schon ein anderes Land?"
Wieder ein Lächeln. "Nein, Jakob, das ist nur ganz, ganz oben in Deutschland. Frag zuhause mal deine Mama, die zeigt es dir bestimmt auf eurer großen Karte. Da musst du noch nicht mal fliegen."
"Und da gibt es das Meer? Nimm mich doch mit, ich kenn´ das Meer doch gar nicht. Ist das so grün wie auf diesem Fotos in deinem Buch?"
"Ich glaube, es ist eher blau und ganz dunkel. Ich zeige es dir dann, versprochen!"
"Aber... ich will nicht, dass du gehst! Du bist doch meine Schwester!"
Sie seufzte leicht. Sie wollte doch auch nicht gehen. Aber was kann man als Kind schon gegen streitende Eltern ausrichten. Und Mama wollte nunmal weg, weg zu diesem Stefan.
Wieder nah sie ihn in den Arm und sah über seinen Kopf hinweg in die kleine Parkanlage. Rote Blätter lagen da verstreut, dort auf der Wiese, über die sie immer getobt hatten. Da stand auch immer das große Planschbecken, das der Kinderhort um die Ecke manchmal aufgestellt hatte, wenn es zu warm wurde. Eigentlich war sie im letzten Sommer mit ihren 11 Jahren schon zu alt gewesen, doch dank ihres Bruders durfte sie mit rein. Ohne die große Schwester machte Jakob nichts mehr. Als er von der Sache mit ihren Eltern hörte und dann von dem Umzug begriff er erst nicht. Doch er wich nun gar nicht mehr von ihrer Seite. Auch jetzt nicht, dabei wartete ihre Mama bereits im Auto auf sie. Der Möbelwagen war ja schon unterwegs. Sie sollten hinterher fahren.
Langsam und still rollten ihre Tränen. Ihr kleiner Bruder, naja, beinahe. Ein letztes Mal sollte sie ihn hier im Arm halten können, hier, wo sie doch immer gewesen sind. Sie schniefte ganz leise. Wie sollte das denn gehen, so weit weg? Und auch noch ohne ihn? Mit einem kleinen Schluchzen brach es doch aus ihr raus, Tränen schwammen in ihren Augen, sie konnte das alles nicht mehr zurückhalten. Sie hatte es ja versucht, wollte nicht, dass er sieht, wie sehr sie leidet darunter. Mama wollte es doch so. Sie sollte lächeln, sich auf ihr neues Leben freuen. Dabei wusste Mama doch genau, dass sie Stefan nicht mochte und schon gar nicht Jakob alleine lassen wollte.
Dieser drückte sich ganz fest an sie.
"Ina, wir sehen uns doch bald wieder! Ich komm dich ganz bald besuchen, versprochen! Jetzt war es an ihm, sie zu trösten. Vorsichtig wischte er ihr die Tränen aus dem Gesicht und stuppste sie auf die Nase, wie sie es früher bei ihm immer getan hatte.
Sie musste lachen. "Du Knirps stuppst mich an? Sowas!" Sie kitzelte und zwickte ihn leicht. Er kicherte erst, lachte dann schließlich laut auf und kabbelte zurück. Nach einigen Momenten des wilden Treibens beruhigten sie sich.
Erst lächelte sie, dann guckte sie ihn auf einmal sehr ernst an. "Jakob, ich hab noch was für dich. Ein Abschiedsgeschenk! Du musst aber die Augen zumachen!"
Seine Augen wurden mit einem mal ganz groß vor Neugier, dann aber schlossen sie sich.
" Nicht schummeln, ja?" Sie wedelte vor seinen Augen mit ihrem Ärmel herum. Keine Reaktion. Gut. Langsam beugte sie sich vor und drückte dem Achtjährigen ganz zärtlich seinen allerallerersten Kuss auf den Mund und verharrte so eine kurz Weile.
Dann sprang sie auf und zog den vollkommen perplexen Jakob hinter sich her über die Wiese und sie tobten noch einmal durch die Welt aus roten Blättern, die um sie herum aufwirbelte.

Inas Mutter schüttelt nur den Kopf, als sie die ganzen Blätter sah, die an Mantel und Haaren ihrer - wie wild ihrem Bruder zuwinkenden - Tochter hingen.
 
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Kommentare  

Grandios beschrieben, man kann die Gefühle der Beiden wirklich sehr gut nachvollziehen. Das kindliche in ihrem Denken und Reden hast du meiner Meinung nach perfekt rübergebracht.
LG


Destiny (14.10.2006)

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