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4 Seiten

Angstlos (Teil 1)

Romane/Serien · Trauriges
© Middel
„Nachdem er die Angst erfuhr, hatte er nurmehr Angst vor der Angst.“
(Hans Arndt)


Es gibt Menschen, die haben Flugangst. Andere können sich nicht in engen Räumen aufhalten oder Zimmern ohne Fenster. Es gibt sogenannte phobische Ängste, die sich in Panik vor Menschenmengen oder öffentlichen Plätzen äußern können. Weit verbreitet sind hier auch Tierphobien, z.B. im Zusammenhang mit Spinnen, Schlangen oder Hunden. Manche Menschen fürchten sich vor Wasser, andere vor Pestiziden, es gibt unzählige Arten der Angst und dass schon seit jeher. Schließlich graute es Kain ja auch schon vor Gottes Strafe, nachdem er seinen Bruder Abel erschlagen hatte.
Nun, ich habe keine dieser genannten Ängste, aber das alleine wäre es nicht wert hier genannt zu werden. Bei mir verhält es sich völlig anders, es ist geradezu das Gegenteil von dem, was ich eben erwähnt habe. Ich kann überhaupt keine Angst spüren. Im Grunde genommen weiß ich bis heute nicht einmal was das ist: Die Angst.

Aufgefallen ist mir das zum ersten Mal mit zwölf. Wobei „aufgefallen“ schon zu sehr impliziert, dass ich es bewusst erlebt habe. Ich habe es in diesem Alter irgendwann akzeptiert und dies war ein mehr oder weniger schleichender Prozess. Denn wie kann man etwas akzeptieren, das man nie wirklich vermisst hat, dessen Existenz einem gar nicht bewusst war? Bei mir äußerte es sich in ganz alltäglichen Situationen. Bei sogenannten „Mutproben“, die in diesem Alter unter uns Kindern weit verbreitet waren, war ich immer derjenige, der alles tat – und das bis zur Selbstgefährdung.
Ich war auf den höchsten Bäumen, sprang in die tiefsten Bäche, tat alles, was aufregend war und mir Anerkennung einbrachte. Das sollte sich auch später nicht ändern, aber erst einmal der Reihe nach.
Da Angst nicht der einzige Schutzmechanismus des menschlichen Körpers ist, substituierte ich diese in den darauffolgenden Jahren oftmals durch Intellekt und Scharfsinn. Wagemut ist das Eine, aber zu Wissen, dass man bei einem Zehnmetersprung auf Beton landend sein Leben lässt, eine ganz Andere.
Dessen ungeachtet entwickelte ich eine geradezu krankhafte Passion zu jeglicher Risikosportart. Ich kletterte quasi ohne Sicherung auf die höchsten Berge, tauchte in nahezu jede erreichbare Tiefe; Fallschirm-, sowie Skispringen, Triathlon und Bungeejumping gehörten ebenso zu meinen Hobbys. Ich probierte mich aus und ging an meine Grenzen, nur um festzustellen, dass es sie zwar körperlich gab, geistig jedoch nicht. In den ersten Jahren nach der Schule nahm ich jeden aufkommenden Extremsport dankbar an, jeder neue Trend wurde versucht, ich probierte dabei auch Auto-, sowie Motorradrennen, aber der Sport Mann gegen Natur blieb mein Steckenpferd.
Schon rein aus Zeitgründen war es mir irgendwann gar nicht möglich all diese Dinge zu koordinieren, aber da ich mich schnell langweilte und die Grenzen des machbaren immer sehr früh austaxierte, dauerte es nicht lang, bis mir der Spaß an einer Sache verging und ich mich mit der nächsten Sportart beschäftigte. Nebeneffekte dieser Passion waren zum Einen, dass ich einen sportlichen und durchtrainierten Körper bekam und zum Anderen blieben die Blessuren nicht aus. Glücklicherweise hatte ich nie ernsthafte Verletzungen, aber Zerrungen, Arm- und Beinbrüche, Quetschungen etc. gehörten für mich fast schon zur Normalität.
So ist es wohl auch nicht verwunderlich, dass ich meine erste Frau im Krankenhaus kennen lernte. Marlene war Ärztin und hatte mich schon des öfteren wieder zusammengeflickt. Nun ja, irgendwann bot ich ihr an dafür zu sorgen, dass gar nicht erst was passiert. Sie hatte schon öfter geflachst, dass ich einen „Aufpasser“ bräuchte. Sie wurde meine „Aufpasserin“.
Da ich sowieso ein leidenschaftlicher Sportfreak war, hatte ich diesen Aspekt sinnigerweise früh ausgenutzt und mich nach dem Sportstudium selbständig gemacht. Ich bot „Abenteuerreisen für Verrückte“ an, wie Marlene es nannte und konnte davon ganz gut leben. Aufpassen musste ich nur, dass ich bei meinen Planungen nicht zu weit ging. Denn selbst der verrückteste Extremsportler besaß ein Detail, das ich nicht kannte: Die Angst.

Die verrücktesten und abenteuerlichsten Unternehmungen machte ich also weiterhin alleine und hin und wieder mit meiner Frau. Ob es daran lag, dass sie mir gefallen wollte oder ob sie von mir mit dem Angstlos-Virus infiziert wurde, kann ich beim besten Willen nicht sagen, nur wurde auch sie immer risikobereiter und furchtloser. Wir probierten die gefährlichsten Dinge aus, machten es uns zum Hobby Rekorde zu brechen, die andere Verrückte vor uns aufgestellt hatten und anstatt mich zurückzuhalten, spornte Marlene mich an. Erst viel später erfuhr ich, dass sie zu dem Zeitpunkt unter Drogen gestanden hatte. Eine Erkenntnis, die mich fast umbrachte.
Dass ich etwas nicht hatte, was andere haben, habe ich damals nie so empfunden. Ich habe auch nie daran gedacht, abnorm oder krank zu sein. Ich empfand mich als mutig, vielleicht etwas verrückt, aber bei klarem Verstand. Und da ich mich mit anderen extremen Menschen umgab, kam mir mein zum Teil selbstzerstörerisches Verhalten nicht als solches vor. Erst als meine geliebte Ärztin, meine Ehefrau, tragisch ums Leben kam, fiel ich in ein tiefes Loch. Dieser Tag brannte sich in meine Seele, wie es Angst wohl nur schwer vermag. Wenn man keine Verlustangst spürt, trifft es einen wohl um ein vielfaches härter, wenn der geliebte Mensch urplötzlich nicht mehr da ist. Es ist, als wenn einem ein Teil des Herzens einfach herausgerissen wird, ganz plötzlich, ohne Vorwarnung.
Dieser tragische Tod ereignete sich, ironischerweise, nicht mal bei einer unserer gefährlichsten Unternehmungen. Es war eher ein Wochenendausflug für uns, bei dem Marlene ihr Leben ließ. Ich stellte mir später oft diese eine Frage: Warum gerade beim freeclimben? Freeclimbing war für uns schon lange keine aufregende Sache mehr gewesen. Vielleicht deshalb, vielleicht in Kombination mit den Drogen, die sie nahm, vielleicht weil ich nicht spüren konnte, was Marlene versuchte mit diesen Drogen zu hemmen: Die Angst.

Ich begann von diesem Tag an langsam zu erahnen, dass mir etwas fehlte, dass ich ein Defizit hatte. Mir wurde klar, dass mit mir irgendetwas ganz und gar nicht stimmte. Den Schmerz im Herzen und Marlenes Absturz vor Augen machte ich mich daran, mein gesamtes bisheriges Leben Revue passieren zu lassen. Sicher, ich kannte die Begriffe: Furcht, Angst, Grauen usw., setzte sie aber immer mit Feigheit gleich. Langsam kam mir in den Sinn, dass Angst mehr war, als nur die Feigheit vor einer Aufgabe. Angst musste einen Sinn haben. Es traf mich wie ein Schlag.
Ich las alle Bücher über Ängste, Phobien und verbrachte Tage und Nächte ohne Schlaf vor dem Computer, durchstreifte Foren über Foren und Blogs und Tagebücher und Lexika ... bis, ja bis mir eines Tages klar wurde, dass ich noch so viel über Angst lesen konnte, ich aber immer nur ein Fisch im Goldfischglas bliebe, der alles um ihn herum zwar sieht, aber nicht begreift. Dieser Goldfisch, ich, musste einen anderen Weg finden, um dem Phänomen Angst auf die Spur zu kommen.
Ich entschloss mich dazu, Anzeigen aufzugeben, nach Menschen zu suchen, die mir von ihrer Angst erzählen können. Im Internet, in Tageszeitungen, in Foren und über Mundpropaganda suchte ich nach Menschen, die in schlimmen Situationen Todesangst verspürt hatten und die mir davon erzählen würden. Immer in der Hoffnung, durch diese Erzählungen und Berichte mehr über sie erfahren zu können: Die Angst.
 
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Kommentare  

gefällt mir. ich werde mir mal die folgenden teile ansehen...

darkangel (09.09.2007)

Interessanter plot, spannender bogen, prot stimmig vor mich hingestellt und meine neugier auf "mehr davon" geweckt
was mir ein klein wenig fehlt - nur wenig, mit nicht allzu viel gewicht, aber dennoch: die rückanbindung an das einleitende zitat - oder hab ich's gar überlesen, subtil zwischen den zeilen?
bin also noch schwankend zwischen vier und fünf - magst mir erklärend entscheidungshilfe reichen? dann werde ich wiederkommen und bewerten ...
lg
ursula


kalliope-ues (15.04.2007)

Angst ist so ein Thema für sich.
Sollte jeder haben. Was ist mit Menschen, die keine Angst haben, es fehlt eine Hemmschwelle...furchtbarer Gedanke.
Ein Gedanke, den du aufgreifst.
Wie reagiert jemand, wie befasst er sich mit seinem "Handicap", was für Schlüsse zieht er?

Ich hoffe, du gibts bald Antworten :)

lg
Zimtsternchen


Zimtsternchen (13.04.2007)

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