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5 Seiten

Lange Nacht

Schauriges · Kurzgeschichten
Ich war gerade dabei, vom Tiefschlaf in einen halbwachen Dämmerzustand zu gleiten, als ich meine volle Blase schmerzhaft spürte. Ich würde so nicht wieder einschlafen können, wälzte mich aus dem Bett und schlich aufs Klo. Es war noch stockfinster. Gut, dachte ich, es ist noch tiefe Nacht, du kannst noch ein paar Stunden schlafen. Wieder zurück im Schlafzimmer fiel mein Blick auf die roten Ziffern des Radioweckers. 6:10. Eigenartig. Der Wecker musste falsch eingestellt sein. Um diese Zeit mussten Lichtstrahlen durch die Schlitze in den Jalousien sickern, die das Zimmer in Dämmerlicht tauchten. Ich glitt unter die Decke und griff nach meiner Uhr. 6:11. Seltsam. Ich stand wiederum vorsichtig auf, um meine Frau nicht zu wecken, und tappte steif hinunter in die Küche. Die Uhr an der Mikrowelle zeigte 6:12. Hatte ich etwa nur geträumt, es sei Mai? Ich stellte den Fernseher an, um mir mit der Uhr der Teletextanzeige Gewissheit zu verschaffen. Weißes Rauschen. Das Kabelfernsehen war ausgefallen. Ein unangenehmer Druck machte sich im oberen Brustbereich bemerkbar. Angst. Ich warf einen Blick aus dem Küchenfenster auf die Straße. Die Straßenbeleuchtung brannte, sonst völlige Stille.
Wieder im Schlafzimmer oben flüsterte ich Laura zu „Es ist schon viertel nach sechs, und noch stockdunkel!“. Plötzlich stand sie neben dem Bett. Sie hatte die gefährliche und unangenehme Gewohnheit, wie von der Tarantel gestochen aus dem Bett zu springen, sobald sie erwachte. Schlaftrunken fragte sie mich, was los sei, ich wiederholte meine Erklärung und zog den Rollladen vor dem Fenster hoch. Sie tappte zu mir. Gemeinsam stellten wir fest, dass es immer noch stockdunkel war. „Gestern war der 9. Mai, richtig?“, fragte ich. Meine Frau starrte mich an, ohne mir zu antworten. „Ich habe schon drei Uhren gecheckt.“, sagte ich. „Es ist viertel nach sechs. Es müsste hell sein.“ Laura schüttelte nur den Kopf, so, als könnte sie nichts von dem Unsinn glauben, den ich erzählte.
Sie zog nun auch den Rollladen vor der Balkontür hoch. Die Tür wies in Richtung des Sonnenaufgangs. Wir starrten hinaus. Nicht einmal ein heller Streifen war am Horizont zu sehen. Ich öffnete die Tür und trat auf den Balkon. Es war kalt. Scheinwerfer glitten auf einer entfernten Straße vorbei. Man hörte einen Zug auf der Bahnstrecke vorbei fahren, die in unserem Rücken lag.
Wir sahen uns an ohne uns gegenseitig erklären zu müssen, dass etwas nicht stimmte. „Gestern war der 9. Mai.“, sagte meine Frau. Ich ging ins Zimmer zurück, schlüpfte in ein T-Shirt und eine Hose. Vorsichtig öffnete ich Valentins Zimmertür und machte Licht. „Zeit zum Aufstehen!“ Noch wollte ich nicht von der gewohnten Routine abweichen und eher an eine Sinnestäuschung, ein besonderes Wetterphänomen oder sonst was glauben. Valentin besaß als einziger im Haus ein Radio, das vom Kabelnetz unabhängig empfangen konnte. Ich nahm es vom Fensterbrett, stieg über die Treppe ins Wohnzimmer hinunter und stellte es auf den Esstisch, um nach umständlichen Manipulationen festzustellen, dass ich es auf den Schoß nehmen musste, weil das Kabel zu kurz war. Laura kam mir nach, sie hatte sich ebenfalls angezogen. Sie probierte noch einmal das Kabelfernsehen. Tot, keine Sender. Valentins Radio hatte ich noch nie eingeschaltet, ich brauchte eine Zeit, bis ich alle Frequenzen gefunden und durchsucht hatte. Kein Sender. Ich trug das Radio zum Fenster, drehte nach einem neuerlichen Suchvorgang an der Antenne herum, nichts.
Meine Frau kaute an ihren Fingern, ein Zeichen nahender Panik. „Was sollen wir tun?“ fragte sie. „Was sollen wir denn tun? Tu irgendwas!“ Sie neigt zur Irrationalität, wenn sie mit Situationen nicht klar kommt.
Unsere Kinder hatten gespürt, dass etwas nicht in Ordnung war. Madita kam herunter. „Es müsste schon hell sein. Was ist los?“ Sie bekam keine Antwort. „Scheiße. Ich habe heute Matura.“ Sie flog aus dem Zimmer und unter die Dusche. Vorläufig hatte sie ihre Tagesplanung nicht umgestellt.
„Ich ruf meinen Vater an.“, sagte ich zu Laura. Er stand immer bald auf. Was ich brauchte, war Sicherheit – lebten wir in einer Sinnestäuschung, oder war etwas Unvorstellbares passiert?“ Mein Vater meldete sich nach dem fünften Läuten. „Papa,“ begann ich, aber er unterbrach mich sofort. „Ich weiß,“, sagte er, „es müsste längst hell sein. Sogar strahlend hell – ich kann den Sternenhimmel sehen, es gibt keine Wolken.“ „Du hast doch eine Satellitenschüssel,“ schöpfte ich Hoffnung, „kannst du…“. Er ließ mich nicht ausreden. „Kein Sender. Gar keiner. Von nirgendwo.“
Meine Stimme kippte in die Panik. „Papa, geht nicht aus dem Haus. Es muss etwas Fürchterliches passiert sein. Es wird nicht mehr hell.“ Jetzt hatte ich das Offensichtliche ausgesprochen, und für mich wurde es dadurch erst Wirklichkeit. Es wurde nicht hell. Laura war ans Ostfenster des Wohnzimmers getreten, offensichtlich in der Hoffnung, endlich einen hellen Streifen am Himmel wahrnehmen zu können, doch da war nichts.
Valentin kam zu uns. Er setzte sich auf meinen Schoß, legte die Arme um meinen Hals und schloss die Augen wieder. „Warum ist es nicht hell?“ Ich schluckte. Wie sollte ich ihm etwas so Unglaubliches erklären, von dem ich keine Ahnung hatte? Hunderte Vorhersagen über zu erwartende Katastrophen hatte ich in den letzten Jahren gelesen, von Vulkanausbrüchen, Tsunamis, Klimakatastrophen, was weiß ich. Niemand hatte uns jemals darauf vorbereitet, dass es eines Tages möglicherweise nicht mehr hell werden würde.
„Wir frühstücken jetzt.“ Ich versuchte, dem Tag – Tag? – einen normalen Ablauf zu geben. Essen mussten wir, ob es hell wurde oder dunkel blieb. „Aber wir bleiben im Haus. Wer weiß, was passiert ist.“
Laura hatte sich aufs Sofa gelegt und bis zur Nasenspitze zugedeckt. Der Wirklichkeit entfliehen, indem man sich vor ihr verbirgt. Eine kindliche Strategie, die ich sie schon so oft anwenden hatte sehen. Aber ihr Blick sagte mir, dass auch sie wusste, dass es diesmal nicht helfen würde. Es wurde nicht mehr hell.
Ich machte mich daran, ein Frühstück zuzubereiten, wie wir es an einem freien Tag am Wochenende zu uns nahmen, mit Eiern, Schinken, Tomaten, Käse, und so weiter.
Während des Tischdeckens fiel mir ein, dass doch das Internet funktionieren konnte, wenn auch das Telefon lebendig war. Ich schaltete ein, rannte während des unglaublich langsamen Hochfahrens wieder in die Küche, um die Eier abzuschrecken. „Tu auch mal was!“, rief ich meiner Frau zu, als ich wieder zum Computer verschwand. Ich brauchte nicht lange. Keine Seite war seit Mitternacht aktualisiert worden, nicht CNN, nicht unsere Zeitungen und Fernsehstationen. Alle Seiten funktionierten – mit den News von gestern. Ich ließ den PC laufen.
„Im Internet keine Information.“ Ich versuchte, sachlich zu bleiben und köpfte mein Ei. Madita kam im Bademantel mit nassen Haaren, setzte sich zu mir und begann zu essen. Valentin lag zu Lauras Füßen auf dem Sofa und starrte mich mit großen Augen an. Von mir verlangte man Erklärungen und Handeln. Ich war so ratlos wie alle anderen auch und versuchte meine Angst durch Essen zu bekämpfen. „Wer bringt mich?“ Madita schien noch immer überzeugt, dass sie heute ihre Englisch-Klausur schreiben würde. „Ruf erst mal ein paar Leute von deiner Klasse an, ob überhaupt jemand kommt. Ich probier’s bei Professor Römer. In dieser Situation…“ Er musste wach sein. Madita warf ihr Handy auf den Tisch. „Kein Netz.“ Der Festnetzanschluss hatte noch ein Freizeichen. Ich brauchte erst eine Lesebrille, bevor ich die Nummer von Maditas Englischlehrer heraussuchen konnte.
Zuerst war besetzt, beim dritten Versuch meldete er sich nach dem ersten Läuten. „Ja, es haben schon mehrere angerufen. Ich denke, so lange keiner weiß, was los ist, sollen alle zu Hause bleiben. Ich jedenfalls fahre in die Schule, was soll ich sonst auch machen, vielleicht kommt jemand.“
Ich erklärte Madita, dass die Maturaprüfung heute wohl ausfallen würde. Sie reagierte erstaunlich gelassen. „OK. Ich geh in mein Zimmer. Lesen. Solange es noch Strom gibt.“
Ich setzte mich zu Laura aufs Sofa. Sie hatte kein Wort gesprochen, während Madita und ich gefrühstückt hatte. Mir kamen die Tränen, ohne dass ich genau wusste, worüber ich weinte. Rastlos stand ich auf, öffnete die Terrassentür, mir war heiß, ich fand die Luft stickig. Ich starrte nach Osten. Laura kam leise hinter mir her, ich spürte sie erst, als sie mir von hinten die Arme um den Körper legte und ihren Kopf an meinen Rücken drückte. Es schien kein Mond, ein paar blasse Sterne glühten.
Plötzlich hatte ich den Eindruck, als hörte ich ein leises Sirren in der Luft, das gleichzeitig von nirgends und überall kam. „Hörst du es auch?“, fragte ich. „Was?“ Ich begann offenbar zu halluzinieren. Gleich darauf meinte ich ein schwaches Pumpen wahrzunehmen, etwas, das man nicht hören konnte, sondern fühlen, eine regelmäßige Druckänderung, vielleicht ein ganz leises Seufzen.
Laura hob den Kopf. Sie spürte es auch. „Gehen wir besser wieder hinein. Vielleicht ist ja alles radioaktiv verseucht, oder es sind Giftgase in der Luft.“
Uns blieb nichts zu tun, als uns zusammen aufs Sofa zu kuscheln, einander Wärme und Nähe zu geben und abzuwarten. Nach einer halben Stunde klingelte das Telefon. Mein Vater war dran. „Hört ihr auch dieses Geräusch?“ Ich hatte es mir nicht eingestehen wollen, aber ich hörte und fühlte es. Ein ganz dumpfes, regelmäßiges Pumpen, Saugen, Seufzen. was auch immer. Nun konnte man es auch im Haus spüren, und ich hatte Angst, dass es mich zum Wahnsinn treiben würde.
Erst jetzt kamen wir auf die Idee, eine DVD einzulegen, um mit unsere Angst zu verscheuchen. Wir starrten den Fernseher an, der uns eine Komödie zeigte und das grauenhafte Pumpen für einige Zeit übertönen würde.
Ich stahl mich davon und tat, was man im Angesicht von Katastrophen gelernt hat, zu tun. Ich reinigte die Badewanne und ließ sie voll Wasser laufen, damit wir Trinkwasser hatten. Alle Kerzen, die ich finden konnte, Streichhölzer und Taschenlampen häufte ich auf dem Esstisch auf.
 
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Kommentare  

Mit wenigen Mitteln gelingt es dir eine gruselige Atmosphäre zu erschaffen. Wirklich eine gelungene Kurzgeschichte.

doska (18.02.2009)

Wow, dir ist wirklich eine unglaublich spannende Geschichte gelungen. Ich kann mich in meiner Begeisterung nur Killing Joke anschließen.

Bitte, bitte, schreib weiter!

Liebe Grüße, Nausicaä


Nausicaä (20.09.2007)

joke hat es gut ausgedrückt. ich sitze auf glühenden kohlen!

darkangel (20.09.2007)

So, Deine Geschichte habe ich jetzt mit Spannung in jedem Muskel von vorne bis hinten gelesen ohne die Augen einmal abzuwenden oder einen Zug an meiner Zigarette zu nehmen. Auch mein Tee ist ein paar Grad kühler geworden. Du hast da eine ganz tolle Sache geschustert, Meister!
UND WENN DU KEINE FORTSETZUNG SCHREIBST, MELDE ICH DICH MIT ACHT RADIOS BEI DER GEZ AN!

Hier stimmt für mich fast alles, das Thema, der Stil, der unerklärliche schleichende Schrecken, die scheinbare kosmische Katastrophe, die Reaktionen der Protagonisten, eingestreute Andeutungen möglicher weiterer Unwägbarkeiten wie der Satz Maditas "Solange es noch Strom gibt.", der wunderbar SCHLEICHENDE Schrecken, der gesammte Aufbau des Fragmentes spricht mich mit jedem Wort an.

Eigentlich will ich mich jetzt auch unter verschiedenen namen hier anmelden und noch ein paar mal den grünen Knopf drücken, doch dazu fehlt leider die Fortsetzung. WARUM, verdammt und zugenäht, Jahrtausendhand und Krevetten? Warum?

Schreib, mein lieber Autor, schreib, schreib, schreib!

BITTE!


Killing Joke (16.09.2007)

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