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Fortwangers Okkasion

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Zu keiner anderen Zeit, hätte Fortwanger geglaubt. Da bis zu diesem alle vergangenen Momente falsch gewesen wären. Jetzt war er sicher.
Er beendete den Satz. Legte den Stift beiseite und riss das oberste Blatt des Schreibblocks ab. Er reichte es ihr.
„Es ist oft einfacher, wegzurennen“, hatte er geschrieben. „Den Schmerz durch etwas Unbedeutendes zu ersetzen.“
„Ich weiß“, sagte sie. „Aber rennst nicht auch du vor etwas weg? Indem du schreibst, statt zu sprechen?“
Er nahm den Stift. „Fortwanger hat nicht immer geschwiegen. Er hat nicht immer geschrieben.“
„Und wann hast du mit der Gewohnheit gebrochen?“
„Keine Gewohnheit. Dazu hat er es nie werden lassen. Es war eine Gelegenheit.“
Sie lachte, dumpf, als trüge sie einen Schal vor dem Mund.
Fortwanger sah sie weiter an, abwartend und geduldig.
„Für mich gibt es keine Gelegenheiten“, sagte sie. „Und dich verstehe ich nicht. Wenn du schreibst, schreibst du wie über einen Fremden. Und das tust du nicht, weil du wegrennst? Vor dir selbst?“
„Nein“, schrieb er. „Fortwanger will sich selbst gegenüber neutral bleiben.“
„Warum?“
„Um entscheiden zu können.“
„Was zu entscheiden?“
„Welche Gelegenheiten er nutzt. Welche nicht. Welche sich zu nutzen lohnen. Welche nicht.“
Sie schüttelte den Kopf. „Vor einer solchen Wahl stehe ich nicht. Stand ich nie.“ Sie beugte sich nach vorne. Sah hinab.
Fortwanger folgte ihrem Blick in den Abgrund und fragte sich, was sie dort unten sah. Tatsächlich ihren Ausweg?
„Ich bin noch nie geflogen“, sagte sie.
„Wohin würdest du fliegen?“ schrieb er.
Kaum merklich lehnte sie sich zurück. „Vielleicht an einen Ort, an dem auch ich Entscheidungen treffen kann. An dem es auch für mich Gelegenheiten gibt.“
„Warum einen solchen Ort bereisen? Warum ihn nicht schaffen?“
Wieder musste sie lachen und er erschrak davor. Hohl. Schallend. Als wäre ihr Inneres längst abgereist. Eine Träne wagte sich aus ihrem Auge. „Ich kann nicht mehr. Oder ich konnte noch nie. Dann wäre es umso schlimmer. Dann wäre alles niemals etwas wert gewesen und du kannst mir jetzt nicht helfen und konntest es nie.“
„Fortwanger will dir nicht helfen“, schrieb er. „Er will, dass du dir helfen kannst.“
„Wie soll ich das können?“
„Es gibt keinen Moment, in dem du es nicht könntest. Jeder Moment ist eine Möglichkeit.“
„Du klingst wie ein Therapeut“, sagte sie und schob ihren Oberkörper ein Stück dem Abgrund entgegen.
„Das glaubt Fortwanger nicht“, schrieb er. „Schrift hat keinen eigenen Klang. Sie klingt so, wie der Leser sie hört. Fortwanger glaubt wie jemand zu klingen, der sich selbst zu beurteilen weiß. Für dich klingt er wie für jemanden, den das Urteil anderer treibt.“
Ihr Mund öffnete sich, nachdem sie den Zettel gelesen hatte, aber sie sagte nichts. Stattdessen wandte sie sich ihm zum ersten Mal zu. In ihrem Gesicht stand mehr geschrieben, als Fortwanger es auf seine Zettel hätte bannen können. Er hatte sie hübsch in Erinnerung und das war sie noch, doch ihre eleganten, wie geschliffen wirkenden Gesichtszüge schienen brüchig. Die Ereignisse hatte die glatten Flächen zerfurcht, die Sprünge breiteten sich über Wangen und Hals aus. Die gefluteten Augen hatten sich tief in den Schädel zurückgezogen, während die Gegend um sie herum vertrocknete und sich dunkel verfärbte.
„Ist es das Urteil anderer, das dich an dieses Fenster geführt hat?“ schrieb er.
Ihre Hand zitterte, als sie den Zettel entgegennahm und las. Schluchzend nickte sie. „Ja. Andere haben mir die Wahl abgenommen. Gelegenheiten ausgenutzt, die meine gewesen wären.“
„Und damit haben sie dir neue hinterlassen.“
Sie hielt die Tränen nicht länger zurück und Fortwanger fühlte, dass sie sie nicht zurückhalten wollte, nicht, dass sie es nicht konnte.
„Du hast dich zum Weinen entschieden“, schrieb er. „Dazu haben dir andere Gelegenheit gegeben. Du kannst dich auch für das Leben entscheiden. Nutze, was andere dir genommen haben. Mach ihre Entscheidung zu deiner. Das ist deine Gelegenheit. Nur deine. Niemand wird sie dir wegnehmen.“
Sie sah ihn so direkt an, dass er einen Schritt zurücktrat, um in seiner Widerspiegelung nicht an den Klippen ihrer Lider zu zerschlagen. Drei letzte Worte schrieb er in großen Buchstaben auf, hielt sie hoch über seinen Kopf: „Alles ist immer…“ Dann ließ Fortwanger Block und Stift fallen und wartete.
Ihre Beine hingen ins Leere. Nur ihre Fingerspitzen hielten sie an den Fensterrahmen gekrallt. „Alles ist immer“, sagte sie und sah hinab. „Alles ist immer eine Gelegenheit.“
Zu jeder anderen Zeit, hätte Fortwanger geglaubt. Da bis zu diesem alle kommenden Momente richtig sein würden. Er war sich sicher gewesen. Er beendete den Satz.
„Warum hast du mich da oben weggeholt?“ hatte sie gefragt.
„Weil du Fortwanger die Gelegenheit dazu gegeben hast.“
 
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Kommentare  

Einfach toll!

Petra (05.03.2009)

Besten Dank euch beiden!
@nati: schön, dass der Text dir auch nach mehrmaligem Lesen noch was bietet.
@doska: freut mich, dass der Text dir gefällt.
Das die älteren Sachen noch gelesen und sogar kommentiert werden macht natürlich Drang und Motivation, endlich mal wieder was neues zu bringen, aber im Moment ist mein Kopf leider ganz woanders und überhaupt nicht beim Schreiben. Na ja, wird schon wieder...


Chrstian Hoja (04.04.2008)

Eine dramatische Geschichte in wunderbare Worte gefasst. Sehr gute Arbeit.

doska (03.04.2008)

hach ich les es immer wieder gern...

nati (03.04.2008)

@nati:
auch für diesen Kommentar bedanke ich mich herzlich ;-)
lg
Christian


Chrstian Hoja (07.03.2008)

"Schrift hat keinen eigenen Klang. Sie klingt so, wie der Leser sie hört"

gute Wortwahl...
und im ubrigen stimme ich den anderen zu... die Gefühle kommen sehr gut zum Ausdruck...


nati (07.03.2008)

Einfach genial!
Innige Sprache für tiefe Gefühle und intensive Wörter für massive Gedankengänge.
Ich kann kaum glauben, dass du noch so jung bist, Christian. Du setzt dich mit Themen und Gefühl-Gedankenkonstrukten auseinander, auf die sehr viele sich nicht einlassen würden.
Du erlebst mich begeistert.


Shannon O'Hara (08.12.2007)

"Er hatte sie hübsch in Erinnerung und das war sie noch, doch ihre eleganten, wie geschliffen wirkenden Gesichtszüge schienen brüchig. Die Ereignisse hatte die glatten Flächen zerfurcht, die Sprünge breiteten sich über Wangen und Hals aus. Die gefluteten Augen hatten sich tief in den Schädel zurückgezogen, während die Gegend um sie herum vertrocknete und sich dunkel verfärbte."

Diesen Teil finde ich besonders ausdrucksstark und in guten Bildern beschrieben, wobei ich mich aber noch frage, ob "brüchig" ein guter Ausdruck ist.


Sabine Müller (08.12.2007)

Mir gefällt es auch. Du hast eine gute Idee umgesetzt. Lg Sabine

Sabine Müller (08.12.2007)

toll

die idee ist echt spannend. die länge ist ziemlich gut getroffen und das ende ist ruhig und unspektakulär, passt aber dennoch sehr gut. gerade das ist ein guter mix, finde ich...

lg darkangel


darkangel (28.11.2007)

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