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3 Seiten

Rachels Weg bis hoch zum Mond - Teil 1 von 4

Trauriges · Kurzgeschichten
„Wisst ihr“, sagte Rachel Mingold und beugte sich über das Feuer, „wenn es jemals ein Mensch bis auf den Mond schaffen sollte, dann wird es uns allen besser gehen.“
Die sieben Kinder und Jonah staunten, ihre ausgemergelten Gesichter reckten sich ihr wie ein Vogelschwarm Richtung Süden, Richtung Wärme, Richtung Hoffnung entgegen.
„Wie geht das, wie soll ein Mensch auf den Mond kommen?“ fragte Emanuel.
„Wie, das kann ich euch nicht sagen“, gestand Rachel. „Für so etwas reicht mein Wissen nicht. Aber andere, die schlauer als ich sind, werden es wissen. Vielleicht bauen sie etwas, so riesig, dass man einfach hinauf gehen kann. Oder etwas, das einen hochschießt bis zum Mond.“
„Schießt wie ein Gewehr?“ fragte Dana.
„Ja, wie eine Gewehrkugel würde man fliegen.“
„So wie die, die Papa durch den Bauch geschossen hat?“ fragte Jonah.
Rachel schlang die Arme um ihren Sohn, zog ihn auf ihren Schoß. „Nicht ganz so eine. Solche Kugeln sollen den Menschen weh tun. Die Kugel, die jemanden zum Mond schießen könnte, würde die Menschen vor Leid bewahren.“
Der kahle Steinboden vibrierte, Mörtel bröckelte von der Decke, zerstäubte in der Luft und rieselte fein auf die verfilzten Haare der Kinder. Nur wenige Kilometer entfernt schlugen Bomben ein. Rachel sah besorgt auf. Sie löste ihren Blick ungern von dem der Kinder, denn in ihren Augen sah sie mehr, als man es in ihren Worten hörte, ob sie durchhielten. Ihre Kräfte genügten, um dem standzuhalten, was ihnen bevorstand. „Bleibt sitzen, haltet die Hände übers Feuer und wärmt euch ein wenig auf.“ Rachel setzte Jonah ab, zog sich an einem Geländer in die Höhe und die Kinder rückten näher um die vergehenden Flammen. Auf einen splitternden Holzbalken gestützt wankte sie das Treppenhaus hinab. Bei der Flucht hatte eine einstürzende Ziegelmauer ihren Unterschenkel eingeklemmt, ihr zwei Zehen abgetrennt. Sie trat auf den Absatz und zu dem halb eingeschlagenen Fenster. Rachel lehnte sich auf den Fenstersims und sah hinaus in eine Nacht, die im Osten hell orangen glomm. Rachel wusste, dass sie mit den Kindern nicht mehr lange würde bleiben können. Der Bleihagel näherte sich von neuem. Käme Dieter nur endlich zurück. Der junge Deutsche, kaum ein Mann, dem sie ihr Leben verdankten, der sie über die bewachten Grenzen jenseits der ruinösen Stadt schleusen wollte. Dessen berechenbarer, rüder Wollust sie sich hingegeben hatte, um diese Hilfe zu erzwingen. Von dem sie sich demütigen ließ. Durch den sich die Gedanken an Ilan mit einem anklagenden Schmerz füllten, der sie die Wunden spüren ließ, an denen ihr Mann gestorben war.
„Geh, Rachel. Und rette um jeden Preis jedes Leben, das du finden kannst.“
Gefunden hatten sie und Jonah eine Gruppe von Kindern. Der Preis war gewesen, was Ilan gehört hatte.
„Mama? Weinst du wieder?“
Sie erschrak, als Jonah neben sie trat. „Ist schon gut“, sagte sie und wischte abwesend mit dem Ärmel über ihre Wange und die Tränen reinigten ihre dreckige Haut und verschmutzten ihr Gewissen. „Was machst du hier? Es ist kalt am Fenster.“
„Wird niemandem mehr weh getan, wenn man einen Menschen auf den Mond schicken kann?“
Sie lächelte, soweit ihre steifen Lippen es zustande brachten. „Ja, Jonah, niemandem wird dann mehr wehgetan. All die Menschen, die heute verfolgt und getötet werden, können dem ersten Menschen folgen und sich auf dem Mond vor den bösen Menschen verstecken.“
„Folgen die bösen Menschen ihnen nicht auch dorthin?“
„Sieh mal“, begann sie, „auf den Mond zu reisen, das wäre ein Wunder. Und Wunder passieren keinen bösen Menschen. Wunder warten auf den richtigen Moment und, ist dieser gekommen, widerfahren sie nur den guten Menschen und gehören ganz allein ihnen.“
„Es wird nie wieder Krieg geben, wenn die Menschen zum Mond reisen können?“
„Nie wieder“, sagte sie. „Die bösen Menschen werden Angst vor diesem Wunder haben, sie fürchten sich vor allen wunderbaren Dingen und deshalb werden sie nicht versuchen, den guten Menschen auf den Mond zu folgen. Und eines Tages werden die guten Menschen in der Überzahl sein und die bösen Menschen werden ihre Kriege vergessen haben. Sieh auf zu ihm.“ Sie deutete zum Himmel, an dem sich für Augenblicke Wolken und Rauch vom Wind verdrängen ließen und den Mond frei gaben. „Stell dir vor, das jemand dort oben steht und zu uns hinabsieht. Dir zuwinkt. Darauf wartet, dass wir zu ihm kommen.“
„Wartet nicht auch Papa dort oben auf uns?“
„Ja“, greinte Rachel und drückte ihn an sich. „Aber ich hoffe, dass er noch ein wenig länger auf uns warten muss.“ Und dass er mir verzeihen kann, sobald wir uns wiedersehen.
Ein Poltern schallte das Treppenhaus empor, schreckte Mutter und Sohn und die Kinder am Feuer auf. Rachel lauschte. Erkannte, dass es mindestens zwei Stiefelpaare waren, die sich ihnen näherten. Dieter würde niemanden mitbringen. Sie schob Jonah von sich und mit einem bestimmten Nicken gab sie ihm und den Kindern das Zeichen zur Flucht.
 
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Kommentare  

Hallo Christian! Hab dich jetzt endlich in der Autorenliste
gefunden und gleich mal Teil 1 von Rachel gelesen. Gefällt
mir wirklich sehr gut, dein Stil ist echt vom feinsten, sehr
ausgereift und fassbar. Find ich super! Werd gleich weiter
lesen, lg Shayn


Shayn (23.01.2008)

Schöne Geschichte. Muss gleich mal lesen wie sie weiter geht.
Noch ein paar Korrekturen:
„Aber ich hoffe, dass er noch ein wenig länger auf uns warten muss.“ Und dass er mir verzeihen kann, sobald wir uns wiedersehen.
Muss das " Anführungszeichen nicht am Ende des zweiten Satzes stehen?
Ein Poltern schalte ---> schallte


Tintenkleckschen (21.01.2008)

@christian - lach. ich kann dich gut verstehen. ging mir am anfang auch so. wichtig ist wirklich das verinnerlichen. wie bei allen dingen. den gegenwind habe ich übrigens nicht gefunden beim googlen.
lg
rosmarin


rosmarin (08.01.2008)

@rosmarin: na ja, so "wörtlich" war das mit dem verweigern nun nicht gemeint und bezwecken will ich damit rein gar nix, ich geb mir bloß auch keine besondere Mühe, auf die neue RS zu achten. Da ich sie in keiner Weise verinnerlicht habe MÜSSTE ich nämlich darauf ACHTEN und das würd mich (glaube ich) vom eigentlichen Erzählen der Geschichte ablenken. Und für nachträgliche Korrekturen bin ich oft zu faul oder überanstrengt, ich will den Text dann irgendwann einfach "loslassen", weil die Entstehung meist ziemlich schlaucht.
Erwähnte Literaturzeitschrift besteht übrigens noch immer auf alter RS! Der Name der Zeitung lautet GEGENWIND und damit ist nicht das Wetter gemeint ;-)!
Ansonsten sag ich danke zu deinen netten Worten über meinen Schreibstil und meine Geschichten!
lg
Christian


Chrstian Hoja (08.01.2008)

sorry, christian, ich hab mich verschrieben. es muss natürlich christian und nicht joke heißen. und, denk nochmal über den sinn des verweigerns nach. in diesem falle wäre es für mich interessant zu wissen, was du damit bezwecken willst.
ich grüße dich
rosmarin


rosmarin (08.01.2008)

na, ja, joke, das war vor jahren. schau doch mal rein, wie es jetzt ist, wäre doch mal interessant. und pass auf, die ssßs haben auch so ihre tücken. na, jedenfalls gefallen mir deine geschichten und auch dein schreibstil. wer geht schon heute noch so ins detail. dazu braucht man eine gute beobachtungsgabe und vor allem, die liebe zum schreiben. also, ich wünsch dir was.
lg
rosmarin


rosmarin (06.01.2008)

Na ja, mit Verlagen werd ich dann schon irgendwie einig werden...:-)! Aber ich habe z. B. vor ein paar Jahren in einer Literaturzeitschrift veröffentlicht, die auf ALTER RS bestand und ich musste zusichern, dass ich meinen Text in eben dieser einreiche.
Ich persönlich bin von neuer RS einfach ziemlich genervt, weil vieles soooo blödsinnig ist und ich in meiner Schulzeit nur das letzte halbe Jahr etwas davon mitgekriegt habe, so dass ich die von dir angesprochene Komma-Änderung z. B. überhaupt nicht kannte. Aber so hat webstories eben auch noch einen Lerneffekt, schön schön ;D!
lg
Christian


Chrstian Hoja (06.01.2008)

oh, oh, christian, ein verweigerer? lach. oder eher bequemlichkeit? was hat das verweigern in diesem fall für einen sinn? solltest du deine geschichten jemals bei einem verlag veröffentlichen wollen, müssten sie ja sowieso der neuen rechtschreibung angepasst werden. mir ist es egal, wollte dich nur darauf hinweisen. hm, hm.
lg
rosmarin


rosmarin (06.01.2008)

Hallo rosmarin, Dank für Kommentar und Hinweis.
Das mit dem Komma nach ?&! konnte ich erst nicht glauben und habs gegoogelt, aber nach neuer Rechtschreibung ist das ja tatsächlich so! Deswegen werd ich es aber auch nicht verändern, weil ich, was neue Rechtschreibung betrifft, eher ein Fortschrittsverweigerer bin (falls sie überhaupt ein Fortschritt ist ;-). Ich halte mich eigentlich nur an das doppelte S (weil mein Laptop das eh automatisch korrigiert), der Rest ist mir ziemlich egal.
lg
Christian


Chrstian Hoja (06.01.2008)

hallo, christian, gefällt mir gut, der anfang dieser geschichte. ich bin gespannt, wie du das mit dem mond auflöst.
lieben gruß von rosmarin
kleine anmerkung: ... auf die verfilzten haare der kinder(n)
"..., wie soll ein mensch auf den mond kommen?", fragte ...
bei der wörtlichen rede kommt nach frage - oder ausrufungszeichen ein komma, wenn der satz weitergeht.


rosmarin (06.01.2008)

Hallo und danke für deinen Kommentar!
Die Schreibfehler sind bereits verbessert, ebenso die Stelle mit dem Holzbalken, dem Fenster und der Erklärung, die mir selbst nicht gefallen hat, ohne dass mir (zumindest bis heute morgen ;-) eingefallen wäre, wie man es umformulieren kann. Aber so gehts wohl!
"Ruinös" allerdings wird beibehalten. Laut meinem Wörterbuch: "1. baufällig; vom Verfall bedroht 2. den Ruin bringend." Passt in diesem Sinne gut, finde ich. Und ich packe ja sowieso öfters mal Worte in meine Texte, die nicht unmittelbar passend erscheinen, aber gerade bei denen kostet es mich die meiste Mühe, sie zu finden und meistens (hoffe ich...) passen sie dann eben doch.
lg
Christian


Chrstian Hoja (06.01.2008)

Hi Chris,
erneut eine Geschichte, die mit punktgenauen Formulierungen intensive Bilder zeichnet und Emotionen weckt. Klasse :-)

Wo ich noch einmal draufschauen würde, ist die Passage zum Erreichen des Fensters: Sie nutzt den splitternden Holzbalken und später erscheint die Erklärung. Würde ich andersherum schreiben, chronologisch.
Dann verwendest du "ruinös" (verherrend, vernichtend, zerstörerisch) meinst aber eher "ruiniert", "in Ruinen liegend", oder? Ruinös ist aktiv.
Und in der Äußerung von Jonah hat sich der Fehlerteufel eingeschlichen, tztzt ;-) Nicht "Mund" sondern "Mond"
Zum Schluss hin ist dir ein "s" abhanden gekommen: ... und dasS er mir verzeihen kann ...

Kleinigkeiten, die dem Lesegenuss nichts entgegenzusetzen hatten :-)

Liebe Grüße,
Shan


Shannon O'Hara (05.01.2008)

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