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10 Seiten

Lilly (Kapitel 10)

Romane/Serien · Fantastisches
Mark parkte den Wagen neben dem Wagen seiner Frau. Hastig stieg er aus und machte sich auf den Weg zum Vordereingang. Er bekam einen Anruf von Tanja, er sollte sich doch unbedingt mit ihr im Kindergarten von Lilly treffen. Die Erzieherin Marion, die auch gleichzeitig den Kindergarten leitete, bat um ein Gespräch über Lilly, die sich in einer nicht sehr schönen Lage befand. Verstanden hatte er nicht genau, was damit gemeint sein konnte, schließlich gab Lilly meistens an, im Kindergarten Spaß gehabt zu haben. Vielleicht hatte sie sich auch verletzt, aber wieso wurden dann beide zu einem Gespräch gebeten?
Er verließ den Parkplatz und stieg die Treppen hinab. Noch immer musste sich Mark anhand der Straßenschilder zum Kindergarten lotsen lassen, da er mitten in einem Waldgebiet lag, der über eine geebnete Waldstraße zu erreichen war. Der Parkplatz war eher ein Campingtreff als ein asphaltiertes Grundstück mit einer Schranke und dem Hinweis, dass nur Bedienstete des Kindergartens und die Eltern der Kinder parken durften. Der Kindergarten selbst war in einer Hütte, die so gar nicht nach Waldhütte aussah. Es war einst eine gewesen, wurde aber gründlich modernisiert, damit sie die hohen Standards erfüllen konnte, die das Gesundheitsamt und die Stadt vorgaben. Vom Parkplatz zum Kindergarten waren es noch mal einhundert Meter. Tanja klang sehr ernst, als stünde etwas auf dem Spiel. Durch sein Hasten wäre Mark beinahe über einige umher liegende Zweige gestolpert. Da es sommerlich warm war, spielten viele Kinder draußen, aber die anderen waren drinnen geblieben. Die Erzieherinnen trennten die Gruppe oft und ließen die eine Hälfte drinnen spielen und die andere draußen. Dadurch wurde das ganze Gruppengewusel entzerrt und es entstanden nicht so wahnsinnig viele Streitherde unter den Kindern. Lilly war ganz offensichtlich in der Gruppe, die drinnen spielte. Normalerweise war auch sie gerne draußen, aber sie war heute eh nicht gut drauf, denn sie war gestern leider zu spät ins Bett gekommen und heute Morgen total müde.
Mark betrat den Kindergarten und musste sich erstmal orientieren. Ihm kamen vier Kinder entgegen und er konzentrierte sich zunächst darauf ihnen auszuweichen, schritt aber weiter voran. Im großen Gruppenraum I waren nur zwei Kinder, die ein Puzzlespiel auseinander rupften. Joe, der Praktikant, der im Kindergarten sein freiwilliges soziales Jahr machte, versuchte die beiden Kinder zum Aufräumen zu motivieren, scheiterte aber schon daran, von ihnen überhaupt gehört zu werden. Stattdessen waren die beiden Jungen dermaßen laut und unruhig, dass sie eine andere Stimme kaum wahrnahmen. Joe hatte den Gesichtsausdruck eines Menschen, der dabei war sein Amt niederzulegen. Tatsächlich verriet seine Körperhaltung Mark, dass er bereits aufgab, mit den Jungen vernünftig über das Chaos zu reden und schwieg und sah nur noch zu. Bevor Joe anfing die Beherrschung zu verlieren und rumzubrüllen, ließ es er lieber sein. Er schien wohl nicht der Typ zu sein, der Konflikte offen anging, dachte sich Mark insgeheim. Beim letzten Elternabend gab es auch eine Situation, wo sich mehrere Eltern über die Qualität des Mittagessens beschwerten. Die Erziehrinnen versuchten die Situation zu klären und beriefen sich darauf, dass wenn alle Eltern 12 Euro mehr im Monat zahlen würden, man einen anderen Lieferanten engagieren könnte. Die Eltern fanden diese Preiserhöhung ungerechtfertigt und wollten stattdessen lieber dem alten Lieferanten auf die Füße treten, damit dieser die Speisen nicht so versalzte. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, teilte sich die Elternschaft in zwei Lager: die einen beschwerten sich über das Essen und waren kurz davor, das Zepter in die Hand zu nehmen, die anderen wollten eine dritte Lösung finden und schlugen sich auf die Seite der Erzieherinnen. Es wurde nur laut diskutiert, schließlich waren es doch alles kultivierte Menschen, aber dennoch kam sich Mark damals wie in einer chinesischen Bundestagsdebatte vor, nur dass niemand den anderen zusammenschlug. Mark und die anderen Männer hielten sich aus der Diskussion heraus und warteten auf einen ruhigen Moment um zu verkünden, dass der Tag stressig genug war um sich jetzt noch bis in die Nacht zu streiten. Doch das dürfte noch etwas dauern. Durch sein Schweigen und Beobachten konnte Mark sehen, wie sich Joe langsam erhob und den Raum verließ. Er wollte der Diskussion aus dem Weg gehen. Solange die Arbeit keinen Stress in Form von Konflikten hervorbrachte, war er die richtige Besetzung. Dummerweise traten in einem Kindergarten sehr oft Konflikte auf, besonders unter den Kindern. Manchmal stritten die Erzieherinnen auch über Veränderungen des pädagogischen Konzepts, aber das waren eher lebhafte Gespräche. Bei den Kindern waren es zum Teil handfeste Streitereien, die nicht selten in einer Schlägerei endeten. Denen ging er gekonnt aus dem Weg, was schade war, denn eigentlich war er sehr glücklich in dem Kindergarten. Er machte seine Arbeit gut und die meisten Kinder hingen an ihm. Als Mann hat man auch bessere Chancen, als als Frau, bekam er oft zu hören. Der Beruf der Erzieherin war noch immer eine von Frauen beherrschte Domäne, dabei wusste doch fast jeder, dass Kinder sowohl Frauen als auch Männer brauchten. Die Kinder schienen das instinktiv auch zu wissen, denn sie hingen so sehr an Joe, dass er sie bald eine Nummer ziehen ließ, denn er konnte sich kaum um alle gleichzeitig kümmern. Besonders die Mädchen fuhren auf ihn ab und umflogen ihn wie die Aasgeier ein verendetes Reh, das in der sengenden Hitze der Wüste vor sich hin gammelte. Das brachte ihn den Ruf „Hahn im Korb“ ein, den er zwar augenzwinkernd annahm, aber es störte ihn auch. Er genoss es zwar, von den Mädchen so heiß und innig geliebt zu werden, aber wenn er genauso einen Erfolg bei Mädchen seines Alters gehabt hätte, würde er sich wirklich glücklich schätzen können.
Mark wollte gerade in den Gruppenraum II gehen, in den auch Lillys Gruppe oft anzutreffen war, da stellte sich ihm Tanja in den Weg. Er folgte ihr in das Büro der Erzieherin am Ende des Korridors. Weil das Fenster dieses Raums in Richtung dichten Walds lag, war es stets düster und eine Lampe brannte fast durchgehend.
„Nehmt doch Platz“, sagte Marion, die Erzieherin und wies auf die beiden Stühle. Es waren kleine Kinderstühle, die um einen kleinen blauen Holztisch von Ikea standen. Ein zweiter blauer Tisch stand genau daneben um die Illusion eines Schreibtisches zu erzeugen. Zur Untermalung dieses Scheins lagen einige Bögen Papier und viele Kugelschreiber verteilt auf den Tischen. Das Klischee, in einem Kindergarten herrschte stets Chaos, war durchaus gerechtfertigt, wie Mark fand.
„Warum hast du uns denn hergebeten?“ fragte Tanja besorgt. Schon seit dem ersten Besuchs-tag im Kindergarten, an dem sich die Eltern noch entscheiden konnten, ob sie ihr Kind in dieser Einrichtung betreuen lassen wollten, bot man ihnen das Du an. Etwas anderes kannten Tanja und Mark auch nicht von Kindergärten, denn schließlich sollte dort eine Art Ersatz zum Elternhaus geschaffen werden, die die Kinder neben ihrer Familie akzeptieren sollten. Die Erzieherinnen sahen ihre Arbeit als Unterstützung zur Familie, wie Verwandte und da duzte man sich auch schließlich. So wurde es ihnen zwar nicht erklärt, aber es stand im Konzept der Einrichtung und Tanja empfand, dass es in Marions Stimme mitschwang.
„Ich habe Lilly jetzt einige Zeit beobachtet“, begann Marion nach einem tiefen Seufzen. „Wie ihr wisst, ist sie immer etwas zurückgezogen und geht kaum auf andere Kinder zu. Sie klammert sich, wenn überhaupt, nur an Nele.“ Nele war die zweite Erzieherin, die allerdings in der ersten Gruppe arbeitete und nicht immer Zeit fand, Lilly auf den Schoß zu nehmen.
„Was haben deine Beobachtungen ergeben?“
„Darauf komme ich gleich zu sprechen.“ Marion sah Tanja nicht an, sondern war damit beschäftigt, ihre Gedanken zu sortieren. Dabei fixierte sie immer einen Punkt auf dem Tisch oder an der Wand, weil Menschen sich besser konzentrieren können, wenn sie nicht in ein Gesicht sahen. Marion hielt mal einen Vortrag auf einem Sonderelternabend über das angeblich unkonzentrierte Gemüt kleinerer Kinder. Die Augen von Kindern huschten beim angestrengten Erzählungen über Träume, den letzten Urlaub oder der Wiedergabe eines Filminhalts, durch den ganzen Raum und fixierten nur selten das Gesicht ihres Gegenübers. Das lag einfach daran, dass ein menschliches Gesicht so komplex ist, dass das Gehirn eine immense Flut an Daten auswerten muss, ohne dass es dem Menschen bewusst ist. Das Gehirn eines Kindes ist noch nicht vollständig ausgereift und wäre mit der Konzentration auf das Gesicht und das Erzählen schlichtweg überfordert und deswegen wirkten Kinder oft huschig, wenn sie eine Geschichte zum Besten gaben.
Außerdem kramte Marion in den Unterlagen nach den Ergebnissen ihrer Beobachtung.
„Zunächst ist mir einfach aufgefallen, dass Lilly kaum Kontakt zu anderen Kindern hat und ihn sich auch nicht sucht“, fuhr Marion dann weiter. „Ich wollte ergründen, was dahinter steckt und wie die anderen Kinder auf sie reagierten. Ich habe versucht, das sehr gründlich zu machen und habe mich intensiv mit ihrer Beteiligung an der gesamten Gruppe beschäftigt. Aber erstmal zu den Beobachtungen. Lilly scheint mir den Wunsch zu haben, die anderen Kinder näher kennen zu lernen, da sie meist nur dann zu Nele will, wenn es Probleme mit den anderen gab. Ganz besonders wenn sie bei ihnen regelecht abgeblitzt ist. Des Weiteren fiel mir auf, dass die anderen Kinder teilweise Angst vor ihr haben und das machte mich stutzig. Ich unterhielt mich mit einigen Kindern, mit denen sie in letzter Zeit viel Kontakt hatte, zum Beispiel Marie, Svenja, Tom, Luisa und Amelie. Die meinten Lilly wäre unheimlich und sie wäre eine Hexe, weil oft etwas Seltsames passieren würde. Genau wollten die Kinder mir das nicht berichten, aber ich denke nicht, dass sie lügen.“
Tanja und Mark machten den Eindruck von Hochschulstudenten, die sich eigentlich ein entspanntes Studium machen wollten, nun aber eine Flut an Hausarbeiten zu erledigen hatten, bevor sie auch nur ins nächste Semester kamen. Es war viel Stoff zu bewältigen aber die beiden schienen zu verstehen. Ihr Kind hatte Probleme und war wohl auch die Ursache für Probleme. Man mochte sie scheinbar nicht und das brachte das Kind mehr und mehr dazu, in ein Schneckenhaus zu kriechen um abzuwarten, bis die dicke Luft verzogen war. Arme kleine Lilly, dachte Tanja, wie können wir dir nur helfen? Sie dachte just in diesem Moment so intensiv an ihre Tochter, dass ihr fast die Tränen gekommen wären. Dann trafen sich auf einmal ihre Gedanken. Es war so, als wäre Lilly genau in diesem Raum anwesend. So eine Nähe spürte sie schon seit längerem nicht mehr zu ihrer Tochter. Ein unsichtbares Band so dick wie Gummiseile eines Boxrings verband sie und ihr Kind und in diesem Moment spürte sie es, als wäre dieses Band ein Kabel, durch das gerade Strom gejagt wurde. Allerdings war es kein angenehmes Kribbeln, sondern eher ein verzweifelter Versuch Hilfe zu erbeten. Wie ein geistiges Telegramm.
„Ich bin nicht sicher wie ich vorgehen soll, denn es gibt noch mehr, dass vielleicht auch etwas mit dieser Angst der anderen Kinder zu tun haben könnte.“
Gerade wollte sich Tanja erheben und ihr Kind zu sich holen, da entspannte sie ihren Körper wieder. Was kam denn jetzt noch, war es nicht genug, dass ihr Kind wie eine Außenseiterin den Kindergartenalltag nur begleitete und nicht aktiv dran teilnahm? Welch eine ungeheure Belastung musste das für ein Kind von gerade mal fünf Jahren sein?
„Und das wäre?“ fragte Mark.
„Bilder.“ Marion zog eine Gummizugmappe hervor und präsentierte einige Gemälde von Lilly. Bereits das erste erschütterte die beiden Eltern in ihrem Innersten. Es war eine präzise ausgearbeitete Darstellung einer Gewitterwolke, die in Schwarz- und Grautönen gehalten war. Mächtige Blitze durchzuckten den Himmel und erhellten ihn für Sekundenbruchteile. Regen fiel in langen schwarzen Bindfäden und vermischten sich am Boden mit dem Dreck zu einem Bach aus Schlamm und Erde. Die Sonne hatte keine Chance ihr hell leuchtendes Antlitz zu zeigen. In weiter Ferne zeigten sich einige Häuser, die wie Burgruinen in tiefen Schatten lagen und eine grausige Friedhofstimmung verbreiteten. Inmitten dieser düsteren und kalten Darstellung stand ein kleines rosa ausgemaltes Kind, das offenbar Lilly selbst sein sollte. Sie war ganz klein gezeichnet und mehr als Strichmännchen, denn als komplette Person. Trotzdem legte Lilly großen Wert darauf, das Gesicht fein auszuarbeiten und der Ausdruck war alles andere als positiv. Ihre schwarz ausgemalten Augen zeugten von unsäglicher Trauer und die zusammengesunkene Körperhaltung unterstrich die Tristesse und die Hilflosigkeit dieser Szene noch. Es war ein verstörendes Bild, das mit so vielen Details daherkam, dass es kaum zu glauben war, dass Lilly, ein kleines Kind das gemalt haben sollte. Wäre es von einem berühmten Künstler könnte man die Zeichnung als Meisterwerk betrachten und das Bild als ein Zeugnis von Trauer und Hilflosigkeit interpretieren. Aber es war das Bild eines fünfjährigen Mädchens. Leider war das nicht das Letzte seiner Art.
Marion legte ihnen ein weiteres Bild vor. Es war zum Glück das letzte Bild, was das Mädchen gemalt hatte, aber es übertraf das erste in punkto Verstörtheit um Längen. Zu sehen war ein Mädchen in der unteren linken Ecke. Tanja würde sagen, es war dasselbe Mädchen wie auf dem ersten Bild, also ebenfalls Lilly. Das Kind schien sehr verängstigt und verheult, denn es hielt die Hände vor die Augen, als wollte es sich vor etwas verstecken. Aus dem Rücken des Kindes wuchs eine groteske Figur, ein riesengroßes Monstrum, das sich gebieterisch über dem Mädchen ausbreitete und seinen tyrannischen Schatten über es legte. Es war ein verhörntes, langfingriges Ungeheuer mit scharfen Zähnen und blutrot unterlaufenden Augen. Dem Monster rann der Speichel aus dem Maul und besudelte das Kleid des Kindes und hinterließ auf ihm einen Schandfleck. Es war geradezu symbolisch, Lilly schien selbst Angst vor etwas zu haben, das aus ihrem Inneren einen Weg nach draußen suchte. Die vorgehaltenen Hände waren ineffektiv um sich davor zu verstecken, denn das Monster hatte sie schon entdeckt und freute sich darauf, seine Herrschaft über sie anzutreten.
„Oh mein Gott!“ sprach Tanja und ihre Stimme zitterte.
„Du siehst also, dass wir hier ein Problem haben. Was genau dahinter steckt kann ich nur erraten, denn ich habe leider keine richtige psychologische Ausbildung für solche Fälle. Ich kann mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln nicht angemessen auf eure Tochter eingehen.“
Mark und Tanja tauschten unsichere Blicke aus. Hatten sie eine geistesgestörte Tochter? Oder lag es an dem, was ihnen noch bevorstand? Aber dafür war es noch zu früh, denn schließlich ist sie doch noch zu jung.
„Ein paar der anderen Kinder haben diese Bilder auch gesehen und haben danach von ihr Abstand genommen. Das letzte mit dem Teufel, oder was es darstellen soll, hat sie vorgestern gemalt. Sie war währenddessen auch nicht ansprechbar gewesen, als wäre sie gar nicht da.“
Als wäre sie gar nicht da… Das kam Mark bekannt vor. Letztes Jahr, als Lilly noch den ganzen Tag zu Hause war und noch keinen Kindergarten besuchte, setzte er sich eines schönen Tages im Winter mit ihr in der Küche zusammen und malte Bilder. Nach einer Weile, Mark malte einen Ozean mit Walen darin, fragte er seine Tochter, ob sie ihm den blauen Buntstift geben könnte, doch sie reagierte nicht. „Lilly?“ rief er immer lauter. „LILLY!“ doch sie gab sich unbeeindruckt. Als könnte nichts zu ihr durchdringen, als wäre sie weit, weit weg. Mark wusste nicht, was los war und begab sich langsam zu seiner Tochter, sprach sie dabei immer wieder an. Er verstummte, als er genau über ihr stand und sah, was sie zu Papier brachte. Das Mädchen war gerade einmal fünf Jahre alt und malte eine sehr detailgetreue Darstellung ihrer Familie. Sie malte keine Strichmännchen, sie malte richtige Menschen. Alle hatten ein strahlendes Lächeln im Gesicht, das beinahe überzeichnet wirkte. Lilly malte mit so einer Hingabe, dass ihr ganzes Herzblut dran zu hängen schien. Mark hatte für einen Moment das Gefühl, dass Lilly mit Sehnsucht dieses Motiv wählte, als würde sie ihre Eltern vermissen, dabei waren sie tagtäglich um sie herum. Sie musste im Inneren annehmen, dass sie ihre Eltern nicht für immer in ihrer Nähe haben würde, aber sie war doch erst fünf und bis sie auf eigenen Beinen stehen würde, musste noch viel Zeit verstreichen. Das konnte sie unmöglich so bewusst denken, es war irgendwas viel Näheres, so als fühlte sie einen starken Verlust in greifbarer Nähe. Das Kind malte und malte und war so klar in ihrem Ausdruck, dass es kaum einen Zweifel an der Echtheit dieser Empfindung geben konnte. Wieder versuchte Mark zu ihr durchzukommen, traf aber auf eine unsichtbare Mauer. Lilly war irgendwie Millionen Lichtjahre weit entfernt in einer Galaxie, aus der sie die Inspiration zu diesem Bild schöpfte. Wie durch ein Medium malte jemand anderes das Bild durch Lillys Körper, als wollte er eine Botschaft an die Erdlinge senden. Aber wieso nur ausgerechnet mein Mädchen? Nimm doch jemand anderen, nimm mich, flehte Mark in Gedanken die Bewohner der fremden Galaxie an. Doch sie konnten seine Gedanken nicht empfangen, denn es gab sie nur in seiner Vorstellung. Diese Galaxie gab es nicht. Es war alles nur ein Versuch diesen unheimlichen Moment in fassbare Begriffe zu kleiden, damit Mark nicht in Sorge um sein Kind noch etwas Dummes machte. „Lilly!“ rief er wieder und stupste sie diesmal dabei an. Lilly schreckte plötzlich aus ihrer Suspension hoch und blickte verwirrt auf den Tisch dann in Marks Gesicht. Sie schien fragen zu wollen, was passiert war, aber Mark nahm sie in die Arme. Alles war wieder gut, das wusste sie. Was sie allerdings nicht wusste, war, wer dieses Bild gemalt hatte, das sich dort befand, wo sie eben noch ein leeres Blatt vor sich liegen hatte. Wo kam in der Sekunde ein komplett anderen Bild her und wieso hielt sie einen orangefarben Stift in der Hand, wo sie doch eben noch mit lila anfangen wollte?

„Und was sollen wir jetzt machen?“ fragte Tanja ihren Tränen so nah wie sonst nie.
„Ich schlage vor, wir schalten einen Kinderpsychologen ein.“
Auch das noch! Ein Kinderseelenklempner sollte sich um Lilly kümmern! Der würde dann solange in ihrem Geist rumwühlen bis er auf die erschreckende Wahrheit stieß, was auch immer das sein würde. In drei Wochen hat Lilly Geburtstag, wenn alles so verlief wie es angekündigt war, dann würden sie bald Gewissheit haben, was Lilly so beschäftigte. Dies sind nur die ersten Vorzeichen, keine Angenehmen, aber immerhin waren sie da. Tanja wurde gerade die Tragweite ihrer Entscheidung bewusst, ihr Kind in einem Kindergarten angemeldet zu haben. Natürlich war es ein Risiko, aber es ging auch um Lillys soziale Entwicklung. Sie war so ein aufgewecktes und fröhliches Mädchen, sie würde irgendwann wie eine Gefangene im eigenen Haus eingehen.
„Ich werde mich mal erkundigen, was man da am Besten für einen nimmt“, sprach Tanja niedergeschlagen. Lilly würde sich auf keinen Fall mit einem Psychologen unterhalten, das Risiko der Entdeckung war einfach zu groß. Nur etwas Geduld, bald haben wir Gewissheit was hier vorgeht und dann können wir diese Flucht ein für alle mal beenden. Genauso kam ihr das Familienleben vor: wie eine Flucht. Sie wusste nicht wovor sie flüchteten, aber immer wieder mussten sie lügen oder sich mit Ausreden aus Situationen rauslamentieren, genau wie hier auch. Deswegen gab Tanja vor, sich um einen Psychologen zu bemühen, auch wenn sie nicht einmal eine Sekunde daran dachte, soweit zu gehen. Mark hegte ähnliche Gedanken. Sie würden sich viel besser um ihr Kind kümmern können, als so ein Quacksalber.
„Ich würde sie gerne mit nach Hause nehmen“, sagte Tanja nach einer längeren Pause. Sie spürte wieder deutlich dieses unzertrennliche Band, diese Energie zwischen sich und ihrer Tochter, die Hilfesignale wie Stromstöße an sie schickte.
„Natürlich. Sie ist in Gruppenraum II.“
Tanja und Mark nahmen die Bilder mit und verabschiedeten sich. Dann gingen sie in den Gruppenraum. Ohne sich umsehen zu müssen wusste Tanja, wo Lilly sich befand. Sie saß zusammen gekauert in eine Ecke und vergrub ihr Gesicht auf ihren Knien, die sie sich herangezogen hatte. Sie wirkte wie ein Häufchen Elend. Lilly sah auf, als wüsste sie instinktiv, dass ihre Mama jetzt bei ihr war. Wortlos erhob sie sich und warf sich ihrer Mutter in die Arme. Stumm liefen ihr einige Tränen hinunter und Tanja konnte den innigen Wunsch fühlen „bring mich schnell weg von hier“.
Es war gerade Mittwoch gewesen und Lilly war am Donnerstag und am Freitag nicht zum Kindergarten gekommen. Lilly war die beiden Tage über sehr verhalten und still gewesen und aß auch sehr schlecht. Jedes Mal wenn man sie auf die Bilder ansprach, wurde sie so komisch. Sie blickte verstohlen auf die Bilder und schwieg wie ein Grab. In ihrem Blick lag die Wahrheit hinter den Bildern, der Grund, wieso sie sie malte, oder wieso sie dazu veranlasst wurde, sie zu malen. Aber Lilly sagte nach einer Zeit, dass sie die Bilder gar nicht gemalt habe und sie sich nicht daran erinnert konnte, sie jemals gesehen oder gemalt zu haben. Tanja war sich sicher, dass Lilly nicht log, aber dennoch wurde sie das Gefühl nicht los, dass sie etwas verschwieg. Aber sie tat es bestimmt nicht absichtlich, vielleicht konnte sie es nicht sagen, weil es zu tief im Inneren ihres Kopfes versteckt war und sie es nicht einfach mutwillig hervor bringen konnte. Es kam immer nur dann an die Oberfläche wenn es das wollte und das ausgerechnet in Form dieser verwirrenden Bilder.
Nach einer Woche kehrte Lilly in den Kindergarten zurück. Es gab keine weiteren seltsamen Zwischenfälle und auch malte sie keine grotesken, verstörenden Bilder mehr. Die Kinder legten ihre Angst vor Lilly zwar nicht ganz ab, aber mit den Zwillingen Tom und Luisa begann sie zögerlich anzubändeln.
 
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