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17 Seiten

Lilly (Kapitel 31)

Romane/Serien · Fantastisches
Brennender Schmerz, ausgehend vom Genick zuckte quer durch Lillys Körper. Sie musste anscheinend falsch gelegen haben. Würde sie etwas warten und sich dabei etwas bewegen, würde der Schmerz bald verschwunden sein. Sie ächzte. Als das Mädchen seine Augen öffnete, konnte es zunächst nichts sehen. Es dauerte einige Zeit, bis sie die Orientierung wieder fand. Lilly lag quer auf dem Schoß ihres Papas in einem unbekannten Auto. Auf dem Beifahrersitz direkt vor ihr saß ihre Mutter, aber die Person am Steuer konnte sie nicht erkennen. Es kam ihr seltsam bekannt vor. Wo hatte sie dieses Bild nur schon mal gesehen? Langsam kam die Erinnerung zurück. In einem Traum vor kurzem sah sie, wie sie unterwegs mit ihren Eltern war. Dabei war eine weitere, nicht definierbare Person. Es war haargenau so wie in dem Traum. Anscheinend war dieser Traum eher als Vision der Zukunft zu verstehen. Das würde nur eines bedeuten: Lilly befand sich unmittelbar vor dem Ereignis ihrer Veränderung!
„Hey, alles okay mit dir?“ Ihr Vater sprach in einem ruhigen und sehr lieben Ton zu ihr.
„Wo bin ich?“ krächzte Lilly mit rauer, verschlafener Stimme.
„Wir sind auf dem Weg zu unserem Camping-Platz. Mario hilft uns freundlicherweise.“
Camping-Platz? Der kam auch in der Vision vor. Alles geschah wie vorweg geträumt. Das konnte kein Zufall sein. Lilly versuchte sich etwas aufzusetzen und konnte plötzlich den Fahrer des Autos erkennen. Es war Mario, der Zivildienstleistende, der im Krankenhaus ihr neuer Freund wurde.
Da alles so geschah, wie Lilly es bereits in ihren Träumen wahrgenommen hatte, konnte es nur eine logische Erklärung dafür geben: es würde nun beginnen!
„Mami, Papi, es beginnt!“
Mark sah seine Tochter jetzt ganz ernst an und auch Tanja drehte sich nach hinten.
„Bist du sicher?“ fragte Mark mit fester Stimme. Tanja sah auch sehr ernst aus. Lilly nickte. „Ich habe davon geträumt und weiß nur, dass ich mich bald verändere. Sehr bald.“
„Also, ich weiß immer noch nicht, was diese Veränderung bedeuten soll“, mischte sich Mario ein.
„Ich weiß es auch nicht, ich weiß nur, dass es jetzt bald passieren wird und dass es gut ist, was passieren wird“, begann Lilly zu erklären. „Es fühlt sich alles so an, als wenn es hinter einer dicken Tür verschlossen ist. Ich fühle bald den Schlüssel zu kriegen und dann weiß ich auch, was mit mir los ist.“
Mario bog nach links von der Landstraße ab auf eine kaum befahrene Strecke, die direkt in den Wald führte. Bald würden sie die Camping-Stelle auf der Lichtung inmitten des Waldes erreichen und dann konnte es endlich mit Lillys Veränderung beginnen. Mario fühlte eher mehr Fragen, die aufgeworfen wurden, als dass welche beantwortet wurden.
„Eins verstehe ich aber trotzdem noch nicht“, fragte der Zivildienstleistende, während er seinen klappernden Wagen einen kleinen Hügel hinaufjagte. „Normalerweise kommt so was doch nicht vor bei Kindern, oder? Wieso also passieren diese Dinge mit dir?“
Lilly fühlte sich bei einem Thema ertappt, zu dem sie kaum eine klare Antwort geben konnte, da sie selber noch nicht genau sagen konnte, was vor sich ging.
„Keine Ahnung!“ gab sie achselzuckend zu. „Mami und Papi haben es mir irgendwann erklärt. Ich bin eben anders.“ Beim letzten Satz war Lilly deutlich darum bemüht Worte zu finden, die nicht allzu viel von ihrem Hintergrund verrieten. Mark gab Tanja einen skeptischen Blick, als ihre Blicke sich trafen. Tanja verstand was Mark aussagen wollte. Wenn sie Mario bis hier hin vertraut haben, konnten sie ihm auch die ganze Geschichte erzählen. Er setzte seinen Job, vielleicht sogar sein Leben für sie aufs Spiel, ohne eigentlich genau zu wissen, wieso. Er hatte eine Antwort auf seine Frage mehr als verdient. Tanja stimmte dem zu und nickte daher sanft.
„Ist schon gut, Schatz“, meinte sie dann an Lilly gerichtet. „Ich glaube wir können Mario ruhig die ganze Wahrheit sagen.“
Lilly konnte nicht genau ermessen, ob dies eine kluge Entscheidung war. Bisher taten ihre Eltern immer das richtige, ausgenommen vielleicht die Einlieferung ins Krankenhaus, aber das trug sie ihrem Vater nicht nach. Irgendwann erklärten ihre Eltern ihr, wer sie war und dass ein Tag kommen wird, an dem sie und auch die Eltern genauer Bescheid wissen würden, was sich genau dahinter verbarg. Dieser Tag war nun gekommen und Lilly vertraute ihren Eltern mehr denn je.
Sie nahm neben ihrem Vater Platz und lauschte aufmerksam einer Geschichte, die sie schon vor längerer Zeit gehört hatte.
„Angefangen hat alles an jenem Tag, als wir Lilly bekamen. Das ist ziemlich genau sechs Jahre her…“


Tanja seufzte. Sie konnte es kaum erwarten, bis die Ärztin ins Zimmer kam. Sie wartete nun schon so lange auf gute Nachrichten, doch die letzten drei Jahre waren purer Stress für sie und auch für Mark. Seit drei Jahren versuchten sie bereits ein Kind zu bekommen, doch scheinbar war Gott bislang dagegen. Eigentlich war Tanja nicht gläubig, doch die ausbleibende Schwangerschaft ließ sie an eine höhere Macht glauben. Nur wieso sollten so viele Paare ein Kind bekommen, die es vielleicht nicht einmal wollten und sie nicht?
Die Welt konnte so ungerecht sein. Menschen bekommen Kinder und schlagen oder missbrauchen sie dann. Wenn sie ihnen zu unbequem wurden, brachten sie sie um oder kümmerten sich einfach nicht mehr um sie, bis sie qualvoll und langsam starben. Immer wieder las man in der Zeitung von Fällen, in denen kleine Kinder auf der Straße elendig verhungerten oder von Familienvätern, die sich aus heiterem Himmel an ihren Töchtern vergingen. Jene Kinder mussten jahrelang die Hölle durchleiden; nur Flucht oder der Tod versprachen ein besseres Dasein. Warum aber nur bekam sie kein Kind? Sie würde es immer gut behandeln, denn obwohl sie noch keine Nachricht hatte, dass sie schwanger war, liebte sie bereits das nicht vorhandene Kind über alles. Es half nicht, sich ständig diese Gedanken zu machen. Wer wusste denn schon, ob diese Grübeleien ein inneres Unwohlsein oder einen inneren Druck aufbauten, der letztendlich dazu führte, dass Tanja gar nicht schwanger wurde. Vielleicht sollten Mark und sie eine kleine Auszeit nehmen und dann fingen sie von vorne an. Mit einem gemütlichen und romantischen Essen für zwei und einer heißen Liebesnacht vorm Kamin, wie in einem billigen Liebesfilm. Obwohl es in diesen Filmen so albern und stereotyp herüberkam, vielleicht mochte in der Realität genau diese Entspanntheit zum gewünschten Kind führen. Ach, wo blieb nur die Ärztin? Es konnte ja sein, dass Tanja nun endlich schwanger war, nur wollte die Frauenärztin auf Nummer sicher gehen um keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Immerhin versuchten Mark und Tanja seit drei Jahren eine Familie zu gründen. Eine zu schnell gemachte Diagnose könnte die beiden in ein Unglück stürzen wenn sich herausstellte, dass Tanja doch nicht schwanger war.
Tanja sah hinüber zu Mark. Er wirkte so, als berührte ihn das alles nicht. Wie der obligatorische Fels in der Brandung nur wusste Tanja, dass auch er unter der Situation litt. Männer sind halt so, dachte Tanja amüsiert. Die zeigte selten ihre Gefühle nach außen, höchstens, in dem sie in wilde Aggressionen verfielen. Während Frauen über einen Verlust trauerten in dem sie anfingen zu weinen, schlugen Männer gerne mal was kaputt oder schrieen wütend rum. Aber so war Mark nicht. Wenn die Frauenärztin gleich hereinkäme um ihnen mitzuteilen, dass Tanja wieder nicht schwanger war, würde er erst zu Hause mit ihr gemeinsam weinen. Hier vor Ort würde er versuchen Haltung zu bewahren. Als ob nicht alle ahnen könnten, wie er sich in einem solchen Fall fühlen würde.
Oh, dieses schreckliche Warten. Den letzten Termin hatten sie vor vier Wochen. Da war alles in Ordnung gewesen, nur dass Tanja wie immer kein Kind in sich trug. Drei lange Jahre. Wie lange würden sie es noch versuchen, bis sie endlich einsahen, dass sie gar kein Kind bekommen sollten? An eine Aufgabe wollten aber beide nicht denken. Es kam ihnen manchmal so vor, als stünde ihre Beziehung still, seitdem sie sich dazu entschlossen hatten, Nachwuchs zu zeugen. Seitdem ging es weder vor noch zurück und nur ein Kind mochte den sprichwörtlichen Karren wieder aus dem Dreck ziehen. Durch ein Baby bekamen sie wieder eine Aufgabe. Es war zwar nicht so, dass die Beziehung drohte zu zerbrechen und ein Kind her musste um Schlimmeres zu verhindern. Dennoch fühlten beide eine seltsame Lücke, eine Art von Leere, die täglich zu wachsen schien. Instinktiv wussten sie, dass nur ein Baby diese Lücke würde füllen könnte. Ob Junge oder Mädchen, vollkommen egal, Hauptsache es kam wieder Leben in die Bude. Zu lange lebten sie nun schon alleine in diesem großen Haus, das sie sich nur deshalb gekauft hatten, weil sie eine Familie gründen wollten. Wieso also passierte es nicht, wenn es doch anscheinend so geplant war? Hoffentlich würde die Ärztin bald kommen um diese quälende Frage mit einer Antwort zu ehren.
Nervös fuhr sich Tanja mit der Hand durch die Haare. Sie tat das in einem fort, so dass ihre Haare schließlich völlig durcheinander lagen. Ihr Äußeres war ihr egal. So zerzaust sah sie zumindest aus wie eine aufopfernde Mutter, auch wenn sie noch keine war. Mark war mindestens genauso nervös wie seine Frau, nur nestelte er nicht an seiner Frisur herum. Er saß stocksteif auf dem Stuhl in diesem Büro dieser Frauenärztin und sah sich alles genau an. Würde man ihm die Augen verbinden und zehn Gegenstände entfernen, er könnte problemlos sagen, welche es waren und wo sie sich ursprünglich befanden. Erschreckenderweise prägte er sich den Raum so gut ein, dass er beinahe damit anfing, die Büroklammern zu zählen, die an einem Magnetblock hingen. So ein Ding könnte er sich auch mal anschaffen, weil er manchmal ein paar Akten aus seiner Anwaltskanzlei mit nach Hause nahm. Ohne vernünftiges Heimbüro dauerte die Arbeit zu Hause allerdings noch länger, als sie ohnehin schon dauerte. Aber ein solcher Magnetblock reichte nicht. Am Besten war es, er stattete sich in einem Laden für Bürobedarf aus, damit er abends, wenn er heimkam…
Ach, nee! Das konnte er unmöglich tun. Tanja würde ihm einen Tritt verpassen, wenn er sich zu Hause ein Büro einrichtete um dann am Ende noch weniger Zeit mit ihr zu verbringen. Dann bewunderte Mark das Filofax, ein Fächer-Karteisystem für Adressen und Telefonnummern. Ein praktisches Ding: suchte man eine Nummer, blätterte man einfach in der alphabetisch geordneten Kartei. Die Kärtchen wurden ganz einfach nur auf das Rondell gesteckt und dann konnte man am Rädchen drehen und die Kärtchen auf der Rückseite wurden nach vorne gedreht. Echt praktisch!
Es war echt bemerkenswert, wie simpel man sich ablenken ließ. Mark bemerkte selber erst wie sehr ihn die Büroeinrichtung dieser Ärztin in ihren Bann zog, als sie den Raum betrat. Er wurde so plötzlich aus seinen Gedanken gerissen, dass er erschrocken aufschrie. Nicht sonderlich laut, aber für ein mittelstarkes „Oh!“ reichte es.
„So, da wären wir wieder“, meinte die hoch gewachsene Frau mit den blonden Haaren beiläufig. Sie nahm auf dem gemütlichen Sessel auf der anderen Seite des Schreibtisches Platz und setzte sich die Brille auf die Nasenspitze. Mit der korrekten Frisur und dem Designer-Brillchen auf der Nasenspitze wirkte die Ärztin streng und unnahbar. Aber Mark und Tanja kannten sie mittlerweile recht gut und daher wussten sie, dass Doktor Laudes im Grunde ganz nett war. Gelegentlich ließ sie sich sogar zu einem kleinen Jux hinreißen.
„Ich hoffe Sie haben Neuigkeiten für uns!?“ wisperte Tanja unsicher und ängstlich. Doktor Laudes warf noch einen flüchtigen Blick in die Akte bevor sie den Kopf hob und dem Ehepaar in die Gesichter sah.
„Ich habe für Sie eine gute und eine schlechte Nachricht.“
Tanja fühlte sich unbehaglich und Mark kam sich wie in einer Ärzte-Seifenoper vor. Das fing ja toll an…
„Die gute Nachricht ist, ich weiß jetzt endlich, weshalb Ihre Versuche schwanger zu werden, bislang erfolglos blieben. Die schlechte Nachricht ist, Sie sind leider unfruchtbar, Tanja.“ Obwohl Doktor Laudes die beiden Neuigkeiten zackig und ohne Verzögerung mitteilte, fiel es ihr nicht leicht. Es kam schon öfters vor, dass sie Patientinnen schlechte Nachrichten überbringen musste, bekam aber jedes Mal eine furchtbare Gänsehaut, weil sie sich einfach nicht daran gewöhnen wollte. Als Frau litt sie immer ein Stück mit ihren Patientinnen, mutmaßte die Ärztin.
Tanja fühlte sich auf einmal wie geschändet. Als hätte man ihr ein wichtiges Körperteil amputiert oder irreparabel verletzt. Sie war plötzlich der unnötigste Mensch auf der ganzen Welt. Für sie war diese Nachricht ein Schlag mitten ins Gesicht, mit dem sie nicht gerechnet hatte. Tanja liefen einige Tränen übers Gesicht und sie schlug daraufhin die Hände vor die Augen. Mark mahlte angestrengt mit den Zähnen und versuchte noch immer die Haltung zu bewahren, aber auch er war deutlich angeschlagen. Ihm rann auch eine kleine Träne aus dem Augenwinkel.
„Was soll denn das heißen?“ fragte er verzweifelt, als gäbe es trotzdem noch eine Möglichkeit schwanger zu werden.
„Herr Jenssen, Ihre Frau hat verkümmerte Eierstöcke. Es kann sich kein Ei bilden und das bedeutet, Sie können es immer wieder versuchen, aber ein Kind werden Sie dennoch nicht kriegen.“
„Verdammt!“ entfuhr es Mark. Er war stocksauer und hätte am Liebsten laut losgebrüllt, aber ihm fehlte die Kraft einen Ton herauszubringen. Bei diesem Thema wurde ein Mann zur Maus. Tanja saß neben ihm und fing an zu schluchzen. Er wollte sie in den Arm nehmen und ihr beistehen, aber er rührte sich nicht. Er brauchte selber Beistand und vor allem Abstand. Abstand zu dieser Praxis, zu dieser Doktor Laudes und Abstand vom Thema Kinderkriegen. Er musste hier raus!
Tanja kauerte in dem Stuhl, stützte sich linksseitig auf der Lehne auf und dachte, bald in Ohnmacht fallen zu müssen. So sehr sie sich auch ein Kind wünschte, nun hatte sie die Gewissheit, nie eines zu bekommen. Tanja bekam plötzlich fürchterliche Angst. Mark wollte doch auch ein Kind haben und er war nicht zeugungsunfähig. Sie aber schon. Tanja begann zu befürchten, Mark könnte sie jetzt verlassen um mit einer anderen Frau ein Kind zu machen. Worauf wartete er also noch? Sollte er doch abhauen und eine andere schwängern, dieser Mistkerl! Ja, Tanja war sauer, aber es war falsch diese Wut auf Mark zu richten. Eigentlich war sie sauer auf sich, auch wenn ihr Verstand ihr sagte, dass es nicht ihre Schuld war. Niemand trug Schuld an ihrer Zeugungsunfähigkeit, so etwas passierte ganz einfach. Für Tanja war die Zukunft nun ungewiss, weswegen Angst momentan das war, was sie am stärksten fühlte. Sie hoffte, Mark würde sie deswegen nicht hängen lassen, schließlich brauchte sie ihn jetzt mehr als je zuvor.
„Es tut mir außerordentlich leid“, brachte Doktor Laudes mitfühlend hervor. Sie ergriff dabei Tanjas Hand. „Wenn ich irgendetwas tun kann…“
„Was denn tun?“ fragte Mark bissig. „Sie haben uns doch gerade gesagt, dass wir niemals Kinder haben werden, also was um alles in der Welt sollten Sie noch tun können?“
„Ich kann Sie ja verstehen, Mark“, sagte die Ärztin beschämt. „Ich habe hier die Adresse eines Waisenhauses. Da würden Sie sicher ein Kind finden, das dringend ein neues Zuhause und zwei liebevolle Eltern wie Sie gebrauchen könnte.“ Sie streckte ihm einen kleinen Zettel mit einer Adresse und einer Telefonnummer entgegen. Mark wich ein Stück zurück. So etwas kam gar nicht in Frage. Alles was er jetzt wollte war Abstand von dem ganzen Thema.
Wortlos ergriff Tanja den Zettel. Mark wollte zuerst eingreifen, als sie ihn sich in die Tasche steckte, blieb aber stumm. „Danke, Doktor“, wimmerte sie.
Doktor Laudes war die Erste, die aufstand. „Ich muss leider zu meinem nächsten Patienten. Wenn Sie mich also entschuldigen würden.“
Mark und Tanja blieben noch einen Augenblick sitzen, standen dann auf und gingen nebeneinander zum Auto, ohne ein Wort zu sagen.
Es war eine zutiefst bedrückende Stille. Auf der Fahrt sprach auch niemand und zu Hause blieb man ebenfalls stumm. Die Sonne ging langsam unter und Mark und Tanja saßen am Tisch und aßen zu Abend. Wirklich gegessen hatte aber keiner etwas. Beide sahen sich immer wieder im Raum um als wollten sie dadurch die Situation besser erfassen. Sie erkannten aber beide nichts. Dieses große Haus fühlte sich nach dieser Nachricht auf einmal viel leerer an als vorher. Es war auch vorher nicht viel los, denn eigentlich wohnten Tanja und Mark nur wegen ihres gemeinsamen Kinderwunsches hier. Jetzt, da sie wussten, dass sie niemals ein Kind bekommen würden, schien es sinnlos noch weiter ein so großes Haus zu haben. Ihre Blicke kreuzten sich, aber beide versuchten nicht darauf zu reagieren. Irgendwann musste das Leben doch weitergehen, dachte Tanja. Nur wann? Wie lange durfte man sich in diesem großen leeren Haus anschweigen, bis der Trauer Genüge getan war? Wie sollte man das bemessen? So konnte es jedenfalls nicht weitergehen, früher oder später mussten sie wieder miteinander reden, sonst würde noch jemand durchdrehen.
Wieder trafen sich ihre Blicke und Tanja verdrehte genervt die Augen, als Mark wieder woanders hinsah.
„Das ist doch total bescheuert!“ platzte es unerwartet aus Tanja heraus.
„Was meinst du?“ fragte Mark verwundert.
„Wir können uns doch nicht ewig so anschweigen. Irgendwann müssen wir mal wieder miteinander reden.“
„Schön. Worüber willst du denn reden?“ fragte Mark schnippisch.
„Is’ mir doch egal“, meinte Tanja scharf, die sich Marks Tonfall keineswegs gefallen lassen wollte. „Hauptsache wir reden.“
Mark und Tanja sahen sich wieder stumm an. Tanja wollte reden, wusste aber kein Thema und Mark war damit einverstanden, überließ es aber seiner Frau anzufangen. Tanja seufzte schwermütig. Ihm war das nicht entgangen, verzichtete aber darauf dies zu kommentieren. Ihm kam es so vor, als hätten sie gerade ihr Baby verloren. Auch wenn dem nicht so war, er wollte nicht noch mehr Salz in die Wunde streuen.
„Vielleicht sollten wir mal in diesem Waisenhaus anrufen“, schlug Tanja nach einer minuten-langen Pause vor.
„Was!?“ spuckte Mark ungläubig. Er wollte komplett mit der Thematik in Ruhe gelassen werden und nun schlug Tanja vor, sich ein fremdes Kind anzuschaffen. Das Thema Kinder-kriegen war für ihn gestorben, ein für alle Mal gegessen. Er liebte seine Frau über alles und würde sie nie verlassen wegen einer solch dummen Sache, aber ein fremdes Kind kam ihm nicht in den Sinn.
„Wieso denn nicht? Wir wollten unbedingt ein Baby, dort gibt es haufenweise Babys ohne Familie. Also warum adoptieren wir nicht einfach eins?“
„Bist du denn völlig übergeschnappt!“
„Ich meine doch nicht gleich morgen, aber wir sollten es zumindest in Betracht ziehen.“
„Du spinnst doch total!“ Mark war sauer und stand auf. Er war allerdings nicht auf seine Frau sauer, sondern auf diese ganze Situation. Innerhalb von Sekundenbruchteilen hatte er in der Praxis entschieden, seinen Wunsch nach Kindern zu beerdigen und sein Leben mit Tanja einfach so weiterzuleben. Nun kam ihm Tanja mit einer Adoption und darauf reagierte er ziemlich empfindlich.
„Sag mal, wie redest du denn mit mir?“ fragte Tanja empört und stand ebenfalls auf.
„Sieh mal Tanja“, sagte Mark etwas ruhiger und kam auf sie zu. „Wir haben heute erfahren, dass wir nie eigene Kinder haben werden. Das ist furchtbar, natürlich, aber wir müssen jetzt damit klar kommen, dass wir zwei alleine bleiben werden. Und vorrangig sollten wir mit unserer Trauer fertig werden und uns nicht gleich ins Nächste stürzen. Lass es einfach gut sein mit dieser Adoption und dieser ganzen Kinderkriegen-Nummer. Ich ertrag das nicht länger und ehrlich gesagt glaube ich, dass es auf Dauer unsere Beziehung vergiftet.“
„Mark Jenssen, soll das etwa heißen du gibst auf?“
Obwohl er eigentlich im Begriff war zu gehen, drehte er sich wieder zu ihr um. „Ich gebe nicht auf, klar! Ich will nur einfach endlich wieder mein Leben leben. Unser Leben.“
„Nein, du gibst auf!“ stichelte sie.
„Okay, was willst du von mir, he?“ rief Mark verärgert. „Dass ich zu dir komme und darum bettele, dass wir endlich ein Kind adoptieren? Willst du etwa, dass ich die Liebe, die ich meinem… unserem ungeborenen Kind geschenkt habe, nehme und sie einfach einem anderen gebe? Tut mir leid, aber das kann ich nicht und das will ich auch nicht. Ich habe einfach keinen Bock mehr auf das ganze Thema und will, dass du mich damit zufrieden lässt, okay!? Wir können keine Kinder kriegen, finde dich damit ab!“
Mark ging schnellen Fußes zur Tür. „Ich geh hoch und arbeite noch etwas“, sagte er, als er bereits die Treppe erreichte und verschwand.
Tanja blieb alleine im Esszimmer zurück und fing fürchterlich an zu weinen. Sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten und sank daraufhin in sich zusammen. Irgendwie musste sie Mark zustimmen, aber warum war er nur so hart und gemein? Er litt doch auch unter dieser Situation. Wie schaffte er es nur, sich so schnell damit abzufinden und wieder konzentriert zur Arbeit zu gehen?
Tanja hockte zusammengekrümmt auf dem Boden des Esszimmers an eine Wand gelehnt und heulte Rotz und Wasser. Der Klang ihrer Leid geplagten Stimme hallte in der ganzen unteren Etage wider und unterstrich die bedrückende Leere. Das Heulen und Schniefen wurde regelrecht von den Wänden reflektiert, als wollten sie ihr damit sagen, wie einsam es hier war. Hier im Haus und auch in ihrem Herzen. Tanja hielt sich eine Hand vor den Bauch als wollte sie nachprüfen, dass sie tatsächlich nicht schwanger war. Irgendwie wollte sie nicht wahrhaben, dass sie niemals schwanger werden konnte und behielt sich den Gedanken, dass ihr Wunsch doch noch eines Tages in Erfüllung ging. Es dauerte lange, bis sich Tanja beruhigt hatte. Sie konnte endlich wieder aufatmen. Sie fühlte sich hundsmiserabel und ihr fehlte komplett die Motivation, je wieder aufzustehen. Irgendwann, sie konnte gar nicht genau sagen wann, fand Tanja dann doch die Kraft aufzustehen und entschied den Tisch abzuräumen. Sie tat es ihrem Mann gleich und arbeitete. Das mochte eventuell für etwas Ablenkung sorgen und zumindest für einen Augenblick den Schmerz vergessen lassen. Es konnte doch sein, dass Mark auf diese Weise mit seiner Trauer fertig wurde. Tanja wusste ja nicht, wie er war, wenn er um etwas oder jemanden trauerte. Bisher lebten noch all seine Verwandten, die bereits lebten, als sie sich kennen lernten. Das war das erste Mal, dass sie ihren Mann so erlebte.
Tanja beschäftigte sich damit die Teller mit dem kaum angerührten Abendessen abzuräumen. Nach dem Abwasch schnappte sie sich die Mülltüte, die mit dem Essen voll war und trug sie hinaus zu den Mülltonnen. Tanja erledigte das lieber gleich, bevor sie es noch vergaß und das Essen dann im Haus anfing zu faulen.
Es war ein milder Abend, an dem man nicht einmal im T-Shirt gefroren hätte. Tanja trug dennoch ein dünnes Langarmshirt mit einer dünnen, beigen Sommerjacke. So stand sie da, mitten auf dem Weg zurück zum Haus und atmete tief ein. Sie sah die Straße hinunter bis in die Stadt. Über den Dächern glitzerten unzählige Sterne am Himmel und gaben Tanja der Illusion hin, sie könnten ihr ihre Fragen beantworten, wenn sie sie nur stellte. Fragen wie „Warum ließ man sie kein Kind bekommen?“ oder „Wie könnten sie und Mark dennoch Glück im Leben finden, ohne jemals Nachwuchs aufzuziehen?“. Mark lehnte die Idee mit dem Waisenhaus vollständig ab, was Tanja schade fand. Aber vielleicht war es auch nur eine Art mit der Situation umzugehen, indem er so sehr auf Sturheit machte. Irgendwann würde Mark eventuell schon einknicken. Jetzt saß er jedenfalls in seinem Büro, arbeitete an irgend-einem Fall, den er sich aus der Kanzlei mitgenommen hatte und lenkte sich auf diese Weise ab. Damit verhielt er sich ungewöhnlich stur und verletzend ihr gegenüber, denn er lehnte es ab mit ihr zu sprechen.
Langsam begab sie sich zum Haus zurück. Tanja sah dabei auf den Boden, vermied es zum Haus zu sehen, als könnte sie sich vor dem schützen, was sie darin erwartete. Leere und Stille. Ein Schatten von ihr lag auf dem Rasen. Neben den Mülltonnen stand eine Laterne, die aus Tanjas Schatten ein lang gezogenes Abbild zeichnete. Während sie so auf der Stelle trat und dem hypnotischen Spiel des sich verändernden Schattens zusah, verformte sich dieser Schatten leicht. Die Konturen verschwammen, nahmen eine neue Form an und kehrten wieder zum Ursprung zurück. Das hier gefiel ihr wesentlich mehr, als eine weitere Diskussion mit ihrem Mann. Irgendwann verließ Tanja den Einflussbereich des Lichtscheins und ihr Schatten verblasste zusehends. Einen Augenblick später wurde er dann wieder stärker und schien deutlich verbreitert zu sein. Tanja blieb stehen. Von ihren Umrissen war nun nichts mehr zu sehen. Ein neuer Schatten überlagerte den ihren und füllte allmählich die gesamte Grünfläche aus. Dieser neue Schatten verfügte über eine anormale Form und die Stärke des Schattens variierte. Tanja fühlte sich dazu veranlasst, hinauf zu sehen zum vermeintlichen Ursprung des Schattens. Tanja erschrak, als sie die seltsame Formation am Himmel sah. Bedrohlich groß war dieses Gebilde, das nicht richtig zu erkennen war. Große Teile des Objektes schienen im Verborgenen zu sein, nur wesentlich kleinere Abschnitte waren sichtbar. Diese verschwanden ebenfalls um an anderer Stelle wieder sichtbar zu werden. Dieses beunruhigende Schauspiel ließ eine annährend eckig-ovale Form erkennen, deren Rundungen mehr wie spitze Ecken aussahen. Das Objekt kam näher, wollte vielleicht zur Landung in Tanjas Garten ansetzen und damit einher ging ein stärker werdender Sturm. Irgendwann war das fremdartige Ding ungefähr dreißig Meter über dem Haus und Tanja sah kaum ein Ende, so gigantisch war es. Nun konnte sie die Stellen besser erkennen, die sporadisch in Erscheinung traten. Es handelte sich um irgendeine hellbraune Art von Metall. Diese Hülle des Objektes schien sehr in Mitleidenschaft geraten zu sein, denn es war kein besonders schöner Anblick. Stellenweise war die Hülle stark verbeult gewesen mit einigen dunklen Verfärbungen, als wäre es vor einiger Zeit in einer Schlammkuhle baden gewesen. An anderen Stellen klafften riesige Löcher, hinter denen sich elektrische Entladungen zeigten, wie von einer großen Beschädigung am elektrischen System. Im Großen und Ganzen machte es auf Tanja den Eindruck, als sei dieses Ding durch die Hölle gegangen und schon seit vielen hundert Jahren unterwegs.
Tanja kannte keine Begriffe für das, was sie sah. Sollte sie jemanden erklären, was sich ihr darbot, sie würde nicht wissen, wie. Als das Ding Position direkt über dem Dach des Hauses bezog, war der Wind, den es auslöste, zu einem starken Sturm geworden, der ihre Frisur völlig durcheinander brachte. Helle Lichter sandte das Objekt aus und begann stellenweise den Garten und Tanja auszuleuchten. Diese stand wie angewurzelt da und sah hinauf. Die Furcht stand ihr ins Gesicht geschrieben aber sie vermochte sich kaum zu bewegen. Sie hatte nicht mal den Drang ins Haus zurückzulaufen, denn das Ding übte eine anziehende Kraft auf sie aus. Auch wenn sie es gewollt hätte, sie hätte es kaum geschafft, den Blick abzuwenden.

Mark hatte einen tief sitzenden Groll in sich. Das Leben, das er sich in seiner Fantasie zurechtlegte, konnte er nun getrost vergessen. Aber er war nicht sauer auf Tanja oder die Ärztin, sondern ein bisschen auf sich. Und auch auf Gott, der dafür bekannt war, Gutes zu vollbringen. Für einen Gott war das allerdings eine ziemlich nachlässige Arbeit, fand er. Mark war nicht besonders bibelfest. Er ging nicht einmal in die Kirche, denn er glaubte im Grunde nicht. Gottes Wege sind unergründlich! Dieser Satz fiel immer, wenn etwas geschah, was scheinbar im Widerspruch mit den übrigen Werken Gottes stand. Mag sein, das was dran ist, dachte Mark, aber für ihn war das nur eine Ausrede. Eine universelle Antwort auf die Frage, warum manchmal furchtbare Dinge geschahen, die eines barmherzigen Gottes unwürdig waren.
Eigentlich wollte Mark sich in Arbeit verkriechen um nicht an die Ereignisse des Vormittages zu denken. Doch seine Gedanken fanden immer wieder einen Weg an die Truhe zu gelangen, in deren Inneren sich die Erinnerung an das Gespräch mit der Frauenärztin und die damit verbundenen Gefühle befanden, tief vergraben in seinem Verstand. Offenbar nicht tief genug. Vor Marks geistigem Auge spielten sich Sequenzen ab, wie sie möglich gewesen wären. Entweder spielten seine beiden Kinder ihm und Tanja ein selbst gemachtes Kasperletheater vor, oder er tobte mit seinem Sohn im Garten. Dann sah er wie seine Tochter mit ihrer Mutter einen Kuchen für Papas Geburtstag backte oder er nahm teil an einem Ausflug zum Badesee im Sommer mit seinen drei Kindern. Oh, du böses Schicksal! Wie schön hätte es werden können, wenn du mir und Tanja endlich ein Kind schicken würdest.
Mark legte seinen Kopf auf seine Arme auf dem Schreibtisch, so schwer fühlte er sich inzwischen an. Nach nur wenigen Augenblicken hörte er das Klopfen eines Astes am Fenster. Es musste wohl ein starker Wind draußen gehen. Eine Sache war allerdings ungewöhnlich, die ihm erst kurz darauf auffiel: vor seinem Fenster stand überhaupt kein Baum! Wäre es ein umherwirbelnder Ast, musste es schon ein verhältnismäßig starker Wind gewesen sein.
Mark sah auf. Grelles Licht schien in den Raum. Als er zum Fenster hinaussah, bemerkte er Tanja in einer Flut aus hellen Lichtern stehend im Garten. Über dem Dach des Hauses machte er ein undefinierbares Objekt aus, von dem der Sturm und die Lichter auszugehen schienen. Mark fackelte nicht lange und rannte flink hinunter um in den Garten vors Haus zu gelangen. Er riss die Tür auf und sah mit an, wie Tanja hypnotisiert in den Himmel starrte.
„Tanja!“ rief er, aber seine Stimme kam nicht gegen den wütenden Sturm an. „Tanja!!!“
Langsam lösten sich ihre Blicke von dem Objekt überm Haus und sah Mark total entgeistert an. „Mark?“ sprach sie in normaler Lautstärke und ihre Stimme wurde vollständig vom Sturm verschluckt. Mark bekam ein ungutes Gefühl und wollte zu seiner Frau um sie ins Haus zu holen, doch er kam nicht weit. Ein heller Lichtblitz erfüllte für den Bruchteil einer Sekunde die gesamte Umgebung und Mark verharrte in seiner Bewegung auf Tanja zu. Direkt im Anschluss an den Lichtblitz entfernte sich das fremdartige Ding vom Haus. In großer Entfernung, aus Tanjas Blickwinkel nur noch so groß wie ein Stecknadelkopf, verschwand das Objekt in einem Glutball. Es hatte den Anschein, als wäre es kurz vorm Verlassen des Erdorbits explodiert. Sicher war das die erste und letzte Begegnung mit dem Ding und es verschwand ohne Erklärung, wieso es überhaupt erschienen war. Das grelle Licht, der Sturm waren beide mit ihm gegangen.
„Tanja, was ist das da?“ Mark deutete auf eine dunkel silbrige Kiste aus Metall, die mitten auf dem Weg zum Haus stand. Tanja hatte die Kiste überhaupt nicht bemerkt. Sie schüttelte sich kurz und fand dann wieder zurück auf die Erde.
Mark und Tanja kamen aufeinander zu und trafen sich bei der Kiste.
„Nicht anfassen“, riet Mark, als Tanja neben ihr niederkniete. Sie betrachtete die Kiste von allen Seiten. Sie schien perfekt gearbeitet zu sein, es gab keinerlei Naht- oder Bruchstellen, keine Griffe, keine Öffnung. Sie war von allen Seiten völlig glatt und wirkte wie aus einem Stück gegossen. Sie verfügte über keine Beschriftung oder Symbole. Die Kiste war einfarbig, rechteckig und scheinbar funktionslos.
„Was war das bloß gerade?“ fragte Mark mehr rhetorisch, als in der Erwartung eine Antwort zu bekommen. „Außerirdische? Militär?“
Tanja reagierte nicht auf die Frage, sondern hob die rechte Hand und hielt sie ein Stückchen über der Oberfläche der Kiste. Es fühlte sich ganz normal an, weder kalt noch heiß.
„Tanja?“ Mark kniete sich auch runter und hockte nun Tanja gegenüber. „Was hast du vor?“
Tanja tippte kurz auf die Kiste. Sie fühlte sich an wie eine silberne Kiste aus Metall. Es geschah ansonsten nichts weiter.
„Es ist bloß eine Kiste.“
„Glaubst du etwa, irgendjemand macht sich die Mühe zu uns zu kommen, nur um uns dann eine langweilige Metallbox in den Garten zu stellen?“
„Ich weiß es nicht“, gab Tanja zu und berührte die Kiste erneut. Es passierte wieder nichts, erst als sie ihre ganze Hand flach auf die Oberseite legte. Es ertönte ein leises Geräusch, ein dumpfes Summen, als wäre ein Mechanismus aktiviert worden. Die Kiste begann sich zu bewegen. Mark und Tanja wichen erschrocken zurück, hielten ihre Blicke starr auf die zum Leben erwachte Kiste.
Die Oberseite löste sich ab und verschwand spurlos in den Seitenwänden. Diese begannen sofort damit, ebenfalls zu verschwinden, in dem sie sich bis nach unten zum Boden zurückzogen. Dort setzte sich das Spiel fort, bis die Kiste vollends verschwunden war, ohne einen Hinweis auf eine vorangegangene Existenz zu hinterlassen. Zum Vorschein kann nun der Inhalt der Kiste: ein Weidenkörbchen mit einem menschlichen Baby, eingewickelt in eine edle, mit zartrosa verzierten Stickereien am Rande versehene Decke. Es war ein seltsamer Anblick, obwohl das Baby vollkommen normal aussah. Zwei Arme, zwei Beine, einen Kopf, blaue Augen und eine makellose helle Haut. Das Seltsame daran war eher die Art, wie dieses Baby hierher kam. Das Baby sah hinauf zu Tanja, schien sie anzulächeln, verzog aber keine Miene und weinte auch nicht. Tanja streckte ihre Hände nach dem Baby aus und erst als sie es berührte, konnte sie mit Sicherheit sagen, es sich nicht einzubilden. Mark blieb skeptisch und sah ihr bloß zu. Nun war er es, der versteinert drein schaute.
Als Tanja so dem Baby über die Wangen strich und kurz die wunderschöne Decke bewunderte, bemerkte sie plötzlich etwas Hartes an der Seite vom Körbchen. Direkt neben dem Baby musste ein Objekt unter der Decke liegen. Tanja hob das Deckchen hoch und sah eine weitere metallische Kiste, nur wesentlich kleiner. Diese kleinere Kiste hatte äußerlich Ähnlichkeit mit der inzwischen verschwundenen größeren Kiste, in der das Baby lag, nur dass diese völlig glatt war. Die kleine hatte eine Reihe von Schriftsymbolen eingraviert, die aber weder Mark noch Tanja je gesehen hatten. Tanja hielt die Kiste in Händen und sah sie sich an. Bei der großen musste sie lediglich die Hand drauf legen, aber diesmal schien das nicht auszureichen. Möglicherweise war diese zweite Kiste auch nicht dazu bestimmt, geöffnet zu werden. Gerade als sie die Kiste beiseite legen wollte, bemerkte sie ganz filigran gearbeitete Mulden an den Ecken, die wie die Vorderseite aussahen. Tanja drückte mit beiden Daumen gleichzeitig in die Mulden und die Kiste sprang auf. Die Art und Weise wie das geschah, kam ihnen von der großen Kiste her bekannt vor. Im Inneren befand sich ein kleines schwaches Licht, das direkt vor dem Deckel der Kiste einen Bildschirm aufbaute.
„Holographisch“, stellte Mark skeptisch fest. Mark hatte Recht, dachte Tanja. Das Licht schien ein holographisches Licht erzeugt zu haben, das ihnen eine Botschaft zu vermitteln versuchte. Tanja zeigte es Mark, der die Kiste daraufhin an sich nahm. Ein rechteckiger, blau transparenter Schirm formierte sich und goldgelbe Schriftzeichen kamen zum Vorschein. Im ersten Moment wusste Mark nichts mit ihnen anzufangen, denn es war eine ihm unbekannte Sprache. Lange konnte er sie nicht sehen, denn sie wurden quasi sofort in Deutsch umgewandelt, als hätte diese seltsame Box automatisch erkannt, welche Sprache man dort sprach, wo die Kiste geöffnet wurde.
„Was steht da?“ fragte Tanja, die zwar die Worte sah, aber nicht lesen konnte, weil sie aus ihrer Perspektive spiegelverkehrt waren. Mark überflog kurz den knappen und wenig informativen Text und las ihn dann laut vor:

„Achtet gut auf das Kind
und steht ihm in der Veränderung bei.
In sechs Jahren von heute an
wird sie euch brauchen.
Eure Fragen werden dann beantwortet.

Gebt gut auf sie Acht,
auf unsere kleine Lilly.“

Der Bildschirm verschwand, das schwache Licht erlosch und die Kiste schloss sich selbsttätig.
„Was soll das bedeuten?“ fragte Tanja verwirrt. Mark sah abwechselnd von der Kiste zum Baby und dann hinauf zum Himmel.
„Irgendwer schickte uns ein Kind. Irgendjemand, der vielleicht unsere Gebete erhört hat“, mutmaßte er mit einem mystischen Unterton.
„Wer die wohl waren?“ fragte Tanja und sah ebenfalls hinauf in den Himmel an die Stelle, wo das Objekt explodierte. Nach einigen Augenblicken wandten sie die Blicke vom Himmel ab und betrachteten das Baby.
„Hallo Lilly“, meinte Tanja und nahm das Baby aus dem Körbchen. Als Tanja es an ihre Schulter drückte und einen Kuss auf den Kopf gab, fühlte sie zum ersten Mal dieses wärmende Gefühl, das wie ein leichter Strom ihren Körper durchzuckte, das sie später einmal als Muttergefühl beschreiben würde. Sie wusste nicht ob es normal war, aber ein beträchtlicher Teil dieser Empfindung ging von diesem Baby aus. Irgendwie schien es ihr vermitteln zu wollen, dass es sie als seine Mutter willkommen hieß.
„Sag Hallo zu deiner Mama und deinem Papa.“
Mark wollte erst dagegenhalten und sagen, dass sie unmöglich dieses fremde Kind behalten konnten, da es jemand vermissen musste, aber in dem Moment, als er das Baby hielt, überkam ihm ein ähnliches Gefühl, wie bei Tanja zuvor auch. Instinktiv wusste er, dass niemand dieses Kind vermisste und dass es nun seines war. Er war ab sofort der Vater und das Kind schien es ihm irgendwie gesagt zu haben.
„Was haben wir heute für einen Tag?“ fragte Tanja wie aus heiterem Himmel. Verdutzt über diese Frage musste Mark kurz nachdenken. „Heute ist der 16. September 2000. Wieso?“
„Dann hat sie heute Geburtstag.“
Mark lächelte. Es schien ihm logisch, ihren Geburtstag auf den Tag zu definieren, an dem sie sie bekamen.
Tanja griff sich das Körbchen und die kleine Metall-Kiste und gemeinsam mit ihrer kleinen Tochter begab sich das Ehepaar Jenssen zurück zum Haus. Am nächsten Tag rief Tanja ihre Frauenärztin an und berichtete ihr von Lilly. Sie nannte ihr zwar nicht die exakten Umstände der Empfängnis, aber sie bat die Ärztin, keine Akten darüber zu führen und auch darum, dass der Vermerk der Unfruchtbarkeit gestrichen werden sollte. Die Ärztin erklärte ihr zwar, dass sie die Unterlagen nicht verfälschen dürfte, aber sie bot ihr an, die Akte unter Verschluss aufzubewahren. Somit wäre sie vor der Öffentlichkeit geschützt und keine außenstehende Person erlangte Einsicht in die Unterlagen. Eine Woche später ließen Mark und Tanja das Kind taufen und ließen sie offiziell als ihre Tochter eintragen unter dem Namen Liliane „Lilly“ Jenssen.
 
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