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6 Seiten

Lilly (Kapitel 29)

Romane/Serien · Fantastisches
„Haben Sie das gehört?“ Mario schreckte hoch. Er saß gerade mit Doktor Mendelbaum im Gemeinschaftsraum des Stationspersonals und trank eine Cola.
„Was denn?“ fragte der Arzt und sah nicht mal von seiner Tageszeitung auf.
„Ich glaube das kam von hinten“, meinte Mario, als er schon aufgesprungen war. Adam folgte ihm, auch wenn er keinen Mucks gehört hatte. Als beide Lillys Zimmer erreichten, blieb Mario wie versteinert stehen, als er Lillys zuckenden Körper sah. Doktor Mendelbaum war derjenige, der blitzschnell reagierte.
„Schnell, hol die Krankenschwester!“ Mario schoss los, als Adam ihm noch hinterher brüllte: „Sie soll Beruhigungsmittel mitbringen!“
Adam rannte in den abgeschlossenen Raum an Ende des Ganges und holte ein paar medizinische Geräte. Unter anderem ein Herzfrequenzmonitor, ein so genanntes EKG, mit Zusatzmaterial wie die aufklebbaren Elektroden.
Marie, die Krankenschwester, Mario und er Arzt trafen zeitgleich im Zimmer neun ein und handelten wie automatisch. Jeder Griff saß, als Marie und Adam Lilly an den Monitor des EKG anschlossen und sie in das Bett pressten, damit sie sich beruhigte. Mario sah aus sicherer Entfernung zu. Adam stach die Nadel der Beruhigungsspritze in den Oberarm des Mädchens und ließ das Mittel in ihre Adern fließen. Lillys gesamte Muskulatur zog sich stark zusammen, so stark, dass man nur vermuten konnte, welche Schmerzen sie erleiden musste. Die Krampfanfälle änderten sich in einen arhythmischen Zitter- oder Schüttelanfall und Lillys Augen traten leicht hervor. Ihre Schmerzen schienen sich gerade zu verdreifachen. Der mittlerweile betriebsbereite Monitor zur Erfassung von Lillys Herzfrequenz schlug Alarm; Lillys Blutdruck schoss beängstigend schnell in die Höhe und die Herzfrequenz schnellte hoch auf einhundertsechzig Schläge die Minute. Adam sah fassungslos zu. Normalerweise sollte das Beruhigungsmittel das Kind ruhig halten, doch hier schien das Gegenteil der Fall zu sein. Wertvolle Sekunden lang betrachtete Adam Mendelbaum Lillys krampfartige Anfälle und den hektisch piependen Monitor. Sekunden, in denen sich Lillys Gesichtsfarbe in ein tiefes Rot verwandelte und sich kochender Schweiß den Weg von ihrer Stirn bahnte. Noch immer versuchten Adam und Marie das Kind festzuhalten, als ihm eine Idee kam: „Adrenalin!“
Adam gab Marie die Anweisung, die Patientin weiterhin gut festzuhalten, während er eine Adrenalininjektion holen ging. Beim Verlassen des Patientenzimmers stieß er beinahe mit Mark und Tanja Jenssen zusammen.
„Bleiben Sie bitte draußen“, empfahl der Arzt und hielt ihnen seine Arme vor die Brust um zu verhindern, dass sie einfach so zum Bett rannten.
„Oh Gott, was ist mit ihr?“ fragte Tanja besorgt. Mark stand hinter seiner Frau und konnte nicht so viel sehen wie sie.
„Sie hat einen weiteren Anfall und ich versuche alle in meiner Macht stehende zu tun, um sie zu stabilisieren.“
„Lassen Sie uns zu ihr, sie braucht uns jetzt“, sagte Mark, der nun auch einen besseren Blick auf seine Tochter werfen konnte. Adam schob die beiden aus der Tür um die Ecke um eine ruhigere Umgebung für ein Gespräch zu schaffen. „Es gibt im Moment nichts, was Sie für sie tun könnten.“
„Verstehen Sie denn nicht“, begann Tanja aus angefeuchteten Augen zu sagen. „Wenn wir nicht auf der Stelle unsere Tochter sehen können, stirbt sie vielleicht!“
In ihren Augen konnte Adam keinerlei Anzeichen für eine dramatische Übertreibung sehen. Die Frau sprach die Wahrheit, zumindest aber glaubte sie, was sie sagte. Der Mann blickte genauso ernst drein und war derselben Meinung wie seine Frau.
„Hören Sie“, sagte Adam und versuchte mindestens so standfest zu klingen wie die beiden aufgebrachten Eltern. „Sie haben sie doch gesehen. In diesem Zustand ist es unwahrscheinlich, dass Ihr Kind viele äußere Einflüsse wahrnimmt. Lassen Sie mich Ihrem Kind helfen sich zu beruhigen. Ich verspreche Ihnen, sobald sich ihr Zustand bessert, informiere ich Sie und dann können Sie zu ihr. Einverstanden?“
Mark und Tanja wechselten einige Blicke, nickten dann aber schlicht. Adam ging dann weiter um die Spritze zu besorgen, während Mark und Tanja in der Wartezone Platz nahmen. Tanja stöhnte auf und Mark vergrub sein Gesicht in seinen Händen.


Adam kehrte in Lillys Zimmer zurück, als der Monitor bereits einen Puls von hundertachtzig zeigte. Lange würde das Lillys kleines Herz nicht mehr mitmachen. Eine schnelle Abhilfe war nun erforderlich, bevor das Herz seinen Dienst versagte und Lilly starb. Die Eltern hatten teilweise Recht, ihr Kind hatte einen kritischen Zustand erreicht, der ihr Leben bedrohte. Mit höchster Konzentration überprüfte er erneut die aufgezogene Adrenalinspritze und suchte sich eine geeignete Stelle am Arm des Mädchens. Sie spannte ihre Muskeln stark an, aber das war Adam nur recht, konnte er dadurch eine Vene ausfindig machen. Er stach die Nadel ein Stück in ihren Arm hinein uns verabreichte ihr das Adrenalin.
Hoffentlich hilft es ihr, dachte der Arzt besorgt, der unter normalen Umständen niemals Adrenalin zur Beruhigung verabreichen würde. Aber an diesem Kind schien nicht viel normal gewesen zu sein. Einen Augenblick lang passierte nichts, bis Lilly tief durch die Nase einatmete und sich soweit aufbäumte, dass sie beinahe aufrecht im Bett saß. Erneut machte sich der Monitor durch schrilles Piepen bemerkbar und zeigte einen rapiden Anstieg der Herzfrequenz an. Ihr Puls durchbrach bereits die Zweihunderter-Grenze. Der Blutdruck war ebenfalls in Schwindel erregender Höhe.
„Verdammter Mist!“ zischte Adam. Es funktionierte nicht. Das Adrenalin wirkte, aber leider in entgegen gesetzter Richtung. Morphium putschte das Kind auf, aber Adrenalin ließ es explodieren. Lilly begann in halb aufrechter Position zu zittern, es war wie ein heftiges Beben. Ihr Brustkorb hob und senkte sich in rasender Geschwindigkeit und die Schnappatmung setzte ein. Der Blutdruck war kaum noch messbar und der Puls lag bei zweihundertsechszehn.
„Was machen wir denn nun?“ fragte Marie, die hilflos mit ansah, wie Lilly dem Tod in die Arme lief. Mario war mittlerweile zur Tür zurückgewichen, versuchte sich irgendwie zu entfernen, konnte aber nicht ganz gehen.
„Ich weiß es nicht“, gab Adam zu. Der Puls kletterte auf zweihundertdreißig hoch und Lilly keuchte. Sie rang nach Luft, bekam aber keine. Sie fühlte sich wie unter Wasser. An die Oberfläche zurück zu schwimmen war ihr Ziel, doch eine Kraft, stärker als sie, zog sie immer weiter hinab in die Tiefe. Die Eindrücke im Krankenzimmer, die Krankenschwester, Adam, ihre Eltern und sogar Mario, ihren neuen Freund, verfremdeten sich, verblichen. Ihre Sicht verschwamm. Dazu spürte sie einen bohrenden Schmerz im Kopf und es kam ihr so vor, als wollte ihr Herz aus ihrer Brust springen. Mit wildem, entschlossenem Getöse klopfte es von innen an ihren Brustkorb und schien beinahe erfolgreich beim Versuch, ihn gleich zu durchbrechen. Dann verließ Lilly auch dieses schmerzvolle Gefühl. Immer weniger weltliche Eindrücke berührten ihren Geist. Ein freundliches, wärmendes Gefühl erfüllte ihren Körper und wollte sie in eine bessere Welt entführen. Langsam entspannte sich ihr Körper und Lilly gab sich dieser neuen, schmerzfreien Empfindung hin. Tiefe Schwärze umhüllte ihren Verstand und trug sie weit weg von den Geschehnissen im Krankenhaus und von den Schmerzen.
Lillys Oberkörper entspannte sich plötzlich. Sie fiel zurück ins Bett und ihr Puls sank von den mittlerweile erreichten zweihundertfünfunddreißig auf achtzig. Alle Werte stabilisierten sich und das kleine Mädchen wurde bewusstlos. Marie und Adam atmeten auf. Die Krise war überstanden und nach einem kurzen Höhepunkt, wirkte das Adrenalin in der wider Erwarten gegenteiligen Art und Weise. Mario war schon seit ein paar Augenblicken nicht mehr im Raum. Er konnte nicht mehr mit ansehen, wie Lilly litt. Der Zivildienstleistende lief vor dem Zimmer auf einer Stelle hin und her, bis er die Eltern des Mädchens in der Wartezone entdeckte. Beide waren angespannt und nervös, so wie Mario auch und er fühlte sich dazu gedrängt, zu ihnen zu gehen.
„Wenn ich irgendwas tun kann…“ begann er und die Eltern hoben ihre Blicke.
„Sie sind doch Mario, nicht wahr?“ fragte Tanja. Der junge Mann nickte. Er nahm neben der Frau Platz und schien sich auf einen Punkt auf dem Boden zu konzentrieren. Eine Frage glimmte wie heiße Glut in seinem Kopf und wollte sich entzünden, doch er traute sich nicht, die Frage auszuformulieren.
„Dieses merkwürdige Verhalten eben“, begann er dann nach einigen Minuten, in denen er seinen ganzen Mut zusammennahm. „Sie wissen doch bestimmt, was es damit auf sich hat, oder?“
Tanja und Mark tauschten erneut vorsichtige Blicke aus. Sie versuchten einen unbeeindruckten Gesichtsausdruck aufzusetzen und Kenntnis über die Hintergründe von Lillys Zustand zu vertuschen. Beide Elternteile schwiegen sich aus. Für Mario war das wie eine Bestätigung seiner Vermutung.
„Schon gut, Sie müssen nicht mit mir reden. Ich habe mir nur Sorgen um Ihre Tochter gemacht.“ Tanja sah ihn nun direkt an. Sie sagte zwar immer noch nichts, aber ihr Blick verriet Dankbarkeit. Mark war noch immer damit beschäftigt sich, Schlimmes befürchtend, durchs Gesicht zu reiben.
„Sie hat mir ein bisschen von sich erzählt, wissen Sie“, sagte der Zivi dann um den Kontakt nicht zu verlieren. „Sie meinte, sie würde sich demnächst irgendwie verändern. Sie hat große Angst, das konnte ich spüren.“
„Sie hat was?“ brach Tanja ihr Schweigen. Auch Mark war aus seiner Starre erwacht und sah den jungen Mann nun direkt an.
„Naja, Lilly erzählte mir von sich. Keine Angst, ich verrate niemandem was, das musste ich ihr versprechen.“
Tanja sah Mark verzweifelt an und er stimmte ihr mit einem Nicken zu. Sie machten Lilly keine Vorwürfe, dass sie in der Einsamkeit im Krankenhaus ihr Vertrauen dem jungen Zivildienstleistenden schenkte. Aber sie befürchteten, je mehr Leute von ihrem Geheimnis wussten, desto größer war die Gefahr, dass es die falschen Leute erführen. Mario konnte förmlich schmecken, wie die Eltern des kleinen Mädchens nach Worten suchten.
„Hören Sie, ich mache mir genauso Sorgen um Lilly wie Sie. Ich will doch nur helfen.“
„Haben Sie jemandem von dem berichtet, was sie Ihnen erzählt hat? Ihrer Freundin, einer Kollegin oder dem Arzt?“ fragte Mark.
„Nein, um Gottes Willen. Ich habe Lilly versprochen meine Klappe zu halten und das werde ich auch tun. Solange es sein muss.“ Mario sah beide abwechselnd an. Er hielt ihren prüfenden Blicken problemlos stand, denn es war ihm sehr ernst mit seinem Angebot für Hilfe. Tanja beugte sich näher zu ihm hin und bevor sie Weiteres sagte, blickte sie kurz den Korridor hinunter und vergewisserte sich, dass sie keine Zuhörer hatten. „Sie hat Recht, wissen Sie. Sie wird sich verändern und das schon bald.“
„Tanja!“ zischte Mark dazwischen, denn er fand es wäre zu riskant noch jemanden etwas wissen zu lassen.
„Mark, ich glaube wir können ihm vertrauen. Lilly tut es, also können wir es auch.“
„Wenn du meinst…“ gab Mark skeptisch klein bei. „Wir könnten tatsächlich etwas Hilfe gebrauchen.“
Mario beugte sich nun auch etwas vor und Tanja und Mark erzählten ihm alles was sie wussten. Sie erklärten ihm, dass Lilly sich vielleicht noch heute zu verändern beginnen würde, dass dieser Prozess von ihren Eltern begleitet werden musste und dass ihr Leben in Gefahr sei, wenn sie nicht schnell aus dem Krankenhaus befreit werden würde.
„Haben Sie eine Ahnung, wie wir Lilly hier raus schaffen können, ohne gesehen zu werden? Für diesen langwierigen Entlassungskram haben wir einfach keine Zeit mehr!“ fügte Mark nach der Erläuterung der Umstände hinzu.
„Ja, ich wüsste da was und Sie können mich übrigens duzen, ich bin erst neunzehn Jahre alt.“
Mark und Tanja nickten und Mario sah kurz den Gang entlang um seine Gedanken zu ordnen.
„Der Personalaufzug ist schräg gegenüber von Lillys Zimmer. Am Hinterausgang sind weder Wachpersonal noch Kameras.“
„Das klingt ja gut. Unser Wagen steht auf dem Parkplatz gleich neben dem Eingang.“
„Es gibt nur ein Problem“, meinte Mario. „Lilly ist am Monitor angeschlossen. Sobald wir die Kabel lösen, geht ein Alarm los.“
„Oh je!“ rief Mark und schlug die Hände vors Gesicht. Wo waren sie nur hinein geraten? Es hätte so ruhig und unproblematisch ablaufen können und jetzt dachten sie ernsthaft darüber nach, das Kind aus dem Krankenhaus zu entführen!
„Die werden doch bestimmt die Polizei rufen, oder nicht?“ meinte Tanja wohlweißlich. „Denen wird klar sein, dass wir dahinter stecken.“ Tanja sah zu Mark, der nickte.
„Hast du ein Auto, Mario?“ fragte Mark nach einem Moment des Überlegens.
„Ja, wieso?“
„Wenn wir ein anderes Auto nehmen, werden sie uns vielleicht nicht so schnell finden.“
Mario dachte einen Augenblick über diese Idee nach. „Ich habe in zehn Minuten Dienstende. Es wird kaum jemanden überraschen, wenn mein Auto fehlt. Bevor die auf den Trichter kommen, dass ich euch geholfen habe, sind wir längst über alle Berge.“
Den Jenssens gefiel dieser Plan. Er war sehr gewagt und sicher auch eine extreme Maßnahme, aber immer noch besser, als wenn sie Lilly hier im Krankenhaus ihrem Schicksal überließen. Mit einem Händedruck wurde dieser Plan besiegelt und Mario machte sich sogleich auf den Weg, seine persönlichen Dinge zu holen.
Der Doktor kam an den Eltern vorbei und konnte ihnen strahlend berichten, dass sich ihre Tochter schon deutlich stabilisiert hatte. Weitere Untersuchungen wollte er durchführen lassen, verkündete er ihnen. Mark und Tanja nickten stumm und ließen sich nicht anmerken, dass sie seine Untersuchungen kaum noch interessierten, da sie einen Ausweichplan hatten.
 
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