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10 Seiten

Lilly (Kapitel 20)

Romane/Serien · Fantastisches
Die Sonne ging langsam unter. Dunkelrote Schlieren bildeten sich am Himmel und tauchten die ganze Stadt in ein spätsommerliches, mystisches Licht. Adam Mendelbaum genoss diese Art von Ausblick immer sehr. Als Kind hatte er sich gerade im Sommer immer sehr gerne den Sonnenuntergang angesehen. Dabei konnte er immer sehr gut über alles nachdenken. So ein ruhiger und sehr persönlicher Moment hätte ihm in einer Lage wie der mit seiner kleinen Patientin Lilly sicherlich geholfen, doch er befand sich in einer Besprechung mit dem Stationspersonal. Adam stand am Fenster und sah hinaus auf den Sonnenuntergang, während er mit seinen Kollegen sprach.
„Die Eltern der kleinen Lilly wollen nicht, dass das Kind länger behandelt wird.“
Ines, die leitende Stationsschwester und Anne, die Nachtschwester sahen sich beide an.
„Dann müssen wir sie gehen lassen“, meinte Ines unverwunden.
„Das geht nicht.“ Adam war sich sicher, er könnte noch etwas tun. „Sie erkennen den Ernst der Lage nicht, oder sie wollen es nicht. Irgendwie lässt mich der Gedanke nicht los, dass mir etwas verheimlicht wird. Etwas, dass diesen Zustand im Gehirn der Kleinen erklären könnte.“
„Ich habe noch nicht ganz verstanden, was da nun passiert“, mischte sich Anne ein, die für gewöhnlich nicht viel vom täglichen Geschehen mitbekam. Wenn ihre Schicht begann, wurden alle wichtigen Entscheidungen bereits getroffen und ihr gab man dann nur die Anweisungen, wie sie in bestimmten Fällen zu reagieren hatte. Alles andere war von weniger Bedeutung und man ließ sie damit in Ruhe. Im Grunde war das auch nicht weiter schlimm, sie würde sowieso ihren Kontakt bekommen, da sie sich doch immer sehr mit den Schicksalen der Kinder auseinandersetzte.
„Lillys Gehirn verändert sich. Vielleicht infolge einer genetischen Mutation, weil ihr Blut auch einige Merkwürdigkeiten aufweist. In ihrem Gehirn bilden sich neue synaptische Verknüpfungen, die man als eine Art von Telekinese oder Telepathie nach außen hin erkennt.“
Anne war zutiefst erstaunt. „Das muss ziemlich hart für die Kleine sein. Die Arme tut mir leid.“
„Wie können wir denn da noch helfen, wenn die Eltern die Mitarbeit verweigern?“ wand sich Ines fragend an Adam. Sie wollte sich dem emotionalen Getue ihrer Kollegin nicht anschließen. In ihrem Fall war ihr Beruf nur ein Beruf, mehr nicht. Sie betrachtete die Arbeit im Krankenhaus nur als eine Art an Geld zu kommen. Natürlich zeigte auch sie Interesse an den Patienten, aber im Gegensatz zu Anne ließ sie sich nicht von Emotionen leiten, sondern blieb ernst und nüchtern.
„Das ist das Problem: wenn wir keine dringende medizinische Notwendigkeit für einen weiteren Aufenthalt finden, dann müssen wir sie gehen lassen.“
„Ist diese Veränderung und die Auswirkungen für sie und die Umwelt denn kein dringendes Anzeichen für medizinische Notwendigkeit?“
„Doch. Ich schlug schon das Hinzuziehen eines Facharztes vor, aber mir sind da die Hände gebunden.“
Ines dachte angestrengt nach. Sie fand, dass Adam einfach diesen Spezialisten kommen lassen sollte und der sollte eine Notwendigkeit für eine weiterführende medizinische Versorgung finden, aber Adam tat diesen Hinweis damit ab, dass es zu lange dauern würde um eine fundierte Diagnose zu erstellen. Bis es soweit war, wäre Lilly längst wieder zu Hause bei ihren Eltern.
„Ich kann einfach nicht davon wegkommen, dass man uns etwas Entscheidendes vorenthält. Irgendwas stimmt da nicht…“
„Aber was soll denn da nicht stimmen?“ fragte Ines.
„Ich habe keine Ahnung. Es ist quasi ein Gefühl, aber mein Gefühl hat mich noch nie im Stich gelassen.“
„Geht es ihr denn schlecht?“ fragte Anne besorgt.
„Nein, im Grunde nicht. Sie hat nur Heimweh.“
„Dann sollten wir sie vielleicht lieber nach Hause schicken und dieser Spezialist geht sie dann zu Hause untersuchen.“ Adam dachte nicht daran, diesen Vorschlag ernst zu nehmen.
„Ich lasse gleich morgen früh einen Spezialisten kommen und er soll sie sich ganz schnell mal ansehen und mir sagen, dass es eine Notwendigkeit für weitere Behandlungen gibt.“ Adam dachte lange darüber nach und sah während seiner Überlegungen lange aus dem Fenster. Im Sonnenuntergang konnte man Antworten auf jede Frage finden, wenn man nur genau hinsah. „Wenn er mir sagt, ich sollte sie unbedingt weiter behandeln, dann tue ich das auch. Nötigenfalls beraume ich eine Gehirnoperation für sie ein, um diese Veränderungen aufzuhalten.“
„Ist das denn nicht gefährlich?“ Anne war total mitgenommen von dieser Möglichkeit und reagierte, als wäre Lilly ihre Tochter.
„Gehirnoperationen sind immer gefährlich, aber diese Veränderungen können noch wesentlich gefährlicher sein.“
„Das wissen wir doch gar nicht, oder?“
„Das soll uns ja der Facharzt sagen.“ Adam drehte sich zu Anne um und begegnete starr ihrem feuchten Blick. „Und im Übrigen: das CT ist nur deswegen nicht mehr funktionsfähig, weil Lilly es mit ihren Kräften zerstört hat. Sagen Sie mir da noch mal, dass sie keine Gefahr für andere oder für sich darstellt.“
Dieser Umstand war Anne nicht bekannt. Ihr hatte man davon nichts berichtet. Scheinbar war das auch nicht nötig, da es niemals Gegenstand der Pflege der Patientin war, für die sie zuständig war. Nachts konnte einem dieses Wissen nichts nützen, und doch wollte Anne alles über das Mädchen wissen. Vielleicht war es ja am Ende doch besser, man würde das Kind operieren, um es von der Last dieser Kräfte zu befreien, bevor es unter ihnen noch zusammenbrach. Lieber so, als wenn sie sich oder andere unabsichtlich tötete.
„Was sagen wir den Eltern?“ unterbrach Ines.
„Vorläufig nichts. Bevor keine weiteren Schritte in Lillys Behandlung unternommen wurden, brauchen sie nicht zu erfahren, dass sich ein anderer Arzt ihr Kind angesehen hat. Und mehr als Ansehen ist es erstmal nicht. So kommen wir an weitere Informationen ran und befinden uns rechtlich auf sicherem Terrain.“
„Ich weiß nicht, ich finde das nicht richtig, irgendwie“, ließ Anne den Arzt wissen und blickte dabei betroffen zu Boden.
„Ich freue mich auch nicht sonderlich darüber, die Eltern so auszutricksen, aber wenn wir das Kind so vor einer unsicheren Zukunft schützen können, dann werden wir das auch tun. Vergessen Sie nicht, als Ärzte haben wir im Zweifelsfalle die höchste Entscheidungsgewalt, wenn es um das Leben eines Menschen geht.“ Adam sah die beiden Frauen, Anne besonders, eindringlich an und vergewisserte sich so ihrer Zustimmung. Sobald auch Anne dem Blick des Arztes begegnete, nickte sie leicht und gab sich mit dieser Vorgehensweise einverstanden.


Nun war die Sonne vollständig untergegangen. Auf der Kinderkrankenstation begann bereits vor längerer Zeit die Nachtschicht. Stationsschwester Ines verließ vor nicht mal einer halben Stunde ihren Arbeitsplatz und überließ ihn ihrer Kollegin, der Nachtschwester Anne. Die hatte heute Nacht ihren letzten Einsatz vor ihrem Urlaub. Morgen Nachmittag würde sie mit ihrem Freund endlich in Richtung Barbados fliegen, eine lange Woche auf dieser warmen Karibik-Insel. Ihren Roman konnte sie endlich auch fertig lesen, dachte sie. Keine hundert Seiten fehlten noch.
Lilly schlief bereits seit langer Zeit. Sie war durch die ganzen Ereignisse des Tages dermaßen erschöpft gewesen, dass sie sofort einschlief. Seit langem hatte sie mal wieder einen Traum.

Sanft kitzelten warme Sonnenstrahlen die Haut des kleinen Mädchens. Es fühlte sich herrlich an, als würde die Wärme sie auf eine Weise aufladen, dass sie sich noch viel vitaler fühlte. Es stärkte sie von innen nach außen und umgekehrt. Es war das Gefühl, dass man empfand, wenn man sich in der zärtlichen Geborgenheit seiner Mutter befand. Lilly schloss die Augen. Dadurch war sie in der Lage, ihre Umgebung noch intensiver wahrzunehmen. Der saftige Rasen wiegte sich wie in Zeitlupe hin und her und umspielte leicht ihre nackten Füßchen. Außer einem weißen Kleid war sie mit nichts anderem bekleidet, doch sie fror nicht, denn die Wärme versorgte sie gut.
Das Kind atmete in mehreren Zügen tief ein und aus. Was für eine tolle Luft, stellte sie zufrieden fest. Es ließen sich keine üblen Gerüche ausmachen, wie etwa Abgase von Motoren oder Fabriken. Es roch wie im ewigen Paradies, wie in Eden.
Langsam setzte sie sich in Bewegung. Lilly wurde immer schneller und schneller, bis sie plötzlich anfing zu rennen. Es war kein fluchtartiges Rennen, denn sie wollte nicht verschwinden. Sie wollte nur den Hauch des Windes in ihren langen Haaren spüren. Ihre Augen hielt sie noch immer geschlossen, so sehr wusste sie, dass sie die Grenzen der endlosen Wiese nicht erreichen würde. Das Mädchen rannte immer schneller, so schnell sie konnte, verausgabte sich aber nicht. Es schien sich so anzufühlen, als würde sie immer stärker und stärker werden, je schneller sie lief und je mehr sie sich von ihrem Ausgangspunkt entfernte.
Irgendwann verlangsamte sich Lilly und sie blieb stehen. Erst jetzt war sie in der Lage, die Umgebung richtig wahrzunehmen. Das Mädchen lief auf einer schier endlosen Wiese ohne Bäume. Das Gras war kurz, aber nicht zu kurz. Gerade lang genug, damit es bis zu ihren Knöcheln reichte. Die Wiese war übersät von Gänseblümchen. Gänseblümchen? Nein, es waren andere Blumen; Lilly kannte sie nicht, aber sie waren wunderschön und rochen süßlich und Lilly entschloss sich, einen großen Strauß für ihre Mutter zu pflücken. Dabei lief sie kreuz und quer, von einer Seite zur anderen. Immer mal wieder blickte sie zurück zur Stadt, aus der sie zu kommen schien. Lilly hielt inne. Die Stadt war enorm, sie bot einen beeindruckenden Anblick, so hoch reichten die Gebäude, so lang erstreckte sich die Skyline. Die Architektur war seltsam, aber faszinierend. Die Wolkenkratzer wiesen keine normale Säulenform auf, sondern waren rundlicher und irgendwie organischer. Sie schienen auf eine hypnotisierende Art und Weise mit ihrer natürlichen Umgebung verschmelzen zu wollen. Die Anordnung der Gebäude wollte auch kein logisches Konzept erkennen lassen, war aber frisch und auflockernd, wie sie so kreuz und quer in der Gegend herumstanden. Lilly konnte sich nicht daran erinnern, diese Stadt jemals gesehen zu haben oder sie jemals besucht zu haben, dennoch verspürte sie eine Vertrautheit mit ihr, wenn sie sie erblickte. Sie wusste instinktiv, dass diese Stadt, deren Name ihr nicht einfiel, ihre Heimat war und dass sie dort ihre Eltern, Brüder und Schwestern, Tanten und Onkel und all ihre Freunde antreffen würde.
Lilly wandte den Blick ab und widmete sich wieder ihrem Blumenstrauß. Er wuchs zu einer beachtlichen Größe an. Mama wird sich bestimmt sehr drüber freuen, dachte Lilly zufrieden. Es war ein überaus friedlicher Tag. Die Luft, die sie atmete war so sauber und rein, sie konnte es noch immer nicht fassen. Bei jedem Atemzug freute sie sich mehr, wie gut diese Luft tat. Sie belebte sie regelrecht und Lilly verspürte wieder den Drang zu laufen.
Das Mädchen wurde immer schneller und schneller, ihr weißes Kleidchen flatterte aufgeregt im Wind. Einige Zeit später wollte Lilly nicht mehr rennen. Sie war nicht erschöpft, aber ihre Füße gaben unter ihr nach und sie fiel nicht ganz unabsichtlich in das weiche Gras. Arme und Beine streckte sie von sich, ließ den Blumenstrauß neben sich ins Gras fallen und schloss die Augen.
So könnte sie den ganzen Tag liegen bleiben. Die Luft, das Sonnenlicht und die Wärme durchströmten ihren kleinen Körper und Lilly konzentrierte sich völlig auf dieses belebende Gefühl. Sie wurde regelrecht süchtig nach diesem Gefühl, dass ihr soviel Geborgenheit und Sicherheit bot. Durch die geschlossenen Augenlider nahm sie rote und orange Farbtöne wahr. Sie vermochte sogar das Blut, das durch die feinen Äderchen in den Lidern floss, in verschiedenen Farbtönen zu sehen oder zumindest zu erahnen. Es kam ihr so vor, als wäre sie in einem hellroten Licht durchfluteten Raum, dessen Wände ihre Batterien wieder aufluden. Sie tankte dieses Licht und die Energie, die sie von ihm empfing.
Irgendwann gesellten sich andere Farben hinzu. Es tauchte zunächst ein immer tiefer werdendes Rot auf, das sich in ein dunkles Violett und schließlich in ein kräftiges Blau verwandelte. Dieses Farbspiel faszinierte Lilly sehr und sie gab sich dem völlig hin. Aus dem Blau wurde irgendwann ein Schwarz, das mit einem Gefühl von Kälte einherging. Diese Kälte konnte Lilly sogar auf ihrer Haut spüren und sie begann leicht zu frösteln. Was dieses Gefühl wohl verursachte?
Lange konnte Lilly nicht über die Ursache der Farb- und Temperaturveränderung nachdenken, denn plötzlich hörte sie ein enormes Knallen und Donnern. Zunächst dachte sie an ein plötzlich auftretendes Gewitter, aber es war anders. Das Geräusch knirschte und quietschte, es klang wie berstendes Metall, das das Ende seiner Existenz mit einem lauten Kreischen bekannt gab. Ein starker Windstoß ließ Lilly einige Meter auf der Wiese weiter wegwehen und ihr Kleid wickelte sich bis nach oben über ihr Gesicht. Dann öffnete sie ihre Augen…
Im ersten Moment sah das Kind nichts, denn das Kleid versperrte ihre Sicht. Als sie es zurück streifte, bemerkte sie als erstes die Quelle der Kälte und der Schwärze, die sich zuvor über ihre Augenlider legte. Ein extrem riesiges metallisches Objekt verdunkelte den Himmel völlig. Es sah aus wie eine fliegende Untertasse, doch sie war wesentlich größer als alles, was sich Lilly unter einer fliegenden Untertasse vorstellen konnte. Es verdunkelte buchstäblich den kompletten Himmel und ließ weder Anfang noch Ende erahnen. Scheinbar tauchte es aus dem Nichts auf. Dafür war es aber viel zu wuchtig und es wirkte auch viel zu unwendig, als dass ein so riesiges Himmelsgefährt binnen weniger Sekunden einfach so auftauchen konnte. Dann fiel Lillys Blick zu der unbekannten und doch vertraut wirkenden Stadt. Es verlangte ihr einige Zeit ab zu verarbeiten, was sich ihr bot. Die Stadt hatte ihren Glanz und ihre beeindruckende Wirkung vollständig eingebüßt.
Sämtliche großen Gebäude lagen in Schutt und Asche. Überall stieg entsetzlicher Rauch auf und es schien vereinzelt zu brennen. Dicke dunkle Rauchschwaden, die sich wie undurchdringliche Wände voreinander her schoben, verhüllten die Ruinen der einst so prachtvollen Stadt zum größten Teil. Lilly war zutiefst erschüttert. Ein so schöner Tag wandelte sich einfach so zu einer echten Tragödie.
Mama?! Papa?! Schockiert dachte sie an ihre Eltern und auch an ihre anderen Verwandten und an ihre Freunde. Sie wollte aufstehen und nach ihnen sehen, doch sie war wie gelähmt von diesem schrecklichen Anblick.
Wieder hörte sie dieses grässliche Donnern und Krachen, diesmal aus einer sehr weiten Entfernung. Es war allerdings noch laut genug um sie aus ihrer Starre zu befreien und Lilly rannte ohne Unterlass und ohne, dass sie es sich gestattete langsamer zu werden, zurück zur Stadt. Dieses Mal war der Sprint sehr beschwerlich. Heiß brannte es in ihrer Lunge und sie fühlte kleine Nadelstiche in ihrem Herz, bei jedem weiteren Schritt und bei jedem weiteren Atemzug. Der Schmerz trachtete danach sie zu betäuben und sie zur Aufgabe zu zwingen, doch ihr Wille, nach ihren Lieben zu sehen war stärker. Lilly hielt eisern durch, bis sie die Peripherie der einst so massiven Stadt erreichte. Die riesigen Stadttore aus Holz, die mit Eisenornamenten verziert waren, lagen in Trümmern zu ihren Füßen. Ungehindert passierte sie den Schutzwall und durchstreifte die Straßen. Es war entsetzlich!
Überall lagen Trümmer, Staub und Steinsbrocken auf den Gehwegen. Der Himmel war schwarz, das seltsame Ding ließ keinen Blick auf die Sonne oder die Wolken gewähren. Lilly war total fassungslos über diese Szenerie, doch was sie am meisten erschauderte, waren die vielen toten Körper auf den Straßen. Männer, Frauen und sogar Kinder lagen überall verstreut umher. Viele waren tot, ihre Körper waren zerstückelt und hinterließen viele große Blutlachen. Nur wenige waren noch am Leben. Sie schleppten sich mit letzter Kraft von den Straßen fort und baten nach Erlösung durch einen schnellen und würdevollen Tod.
Zu Tode erstarrt und schockiert begann Lilly wieder zu rennen. Von einem Gefühl der Vertrautheit mit dieser Stadt lief sie in eine Richtung, in der vermutlich ihr Elternhaus lag. Instinktiv kannte sie den Weg, doch sie hatte eher den Eindruck, zum ersten Mal hier durchzulaufen. An jeder Straßenecke, die das kleine Mädchen mit dem weißen Kleid passierte, wurden Schrecken und Entsetzen nur noch schlimmer. Immer mehr Gebäude waren völlig zerstört, nicht mal mehr die Grundmauern waren stehen geblieben. Es waren auch keine toten Körper mehr zu erkennen, scheinbar sind sie durch die Wucht der Zerstörung, die durch was auch immer ausgelöst wurde, so sehr in Mitleidenschaft gezogen worden, dass nichts Erkennbares mehr übrig blieb. Nach endlosem Gerenne erreichte Lilly die ehemaligen Mauern eines Gebäudes. Sie erreichte endlich ihr Elternhaus, doch nichts war mehr davon übrig. Kein Stein stand mehr über dem anderem. Lilly blieb stehen und sah mit aufgerissenen Augen in die Zerstörung. Langsam näherte sie sich dem, wo sie die Küche oder das Wohnzimmer vermutete. Dort fand sie etwas, dass sie unmissverständlich mit den ehemaligen Bewohnern dieses Hauses verband. Die Halskette ihrer Mutter lag auf dem Boden, über und über mit dunkelrotem Blut bedeckt. Lilly fing bitterlich an zu weinen und brach unter ihrem eigenen Gewicht zusammen. Die Last ihres Körpers war unter diesen Umständen zu groß gewesen für ihre Beine.
Lilly flossen die Tränen in Sturzbächen hinunter. Erst vor wenigen Stunden weckte ihre Mutter sie an einem sonnigen Morgen. Die Sonnenstrahlen lockten das kleine Mädchen aus den Federn und verführten sie dazu, hinauszugehen um die Natur zu genießen.
Erst vor zirka zwei Stunden beendete sie gemeinsam mit ihrer ganzen Familie ein schönes Frühstück auf der Terrasse und verschwand dann auf der Wiese, auf der sie bis eben noch herumlief. Ihre Mutter gab ihr einen sanften Kuss und bat sie, vorsichtig zu sein. Zum Abschied sagte sie ihrer Tochter noch, dass sie sie sehr liebte.
Erst vor einigen Minuten pflückte sie Blumen für ihre Mutter und entspannte auf einer saftigen Wiese. Jetzt stand sie wieder vor ihrem Haus, doch alle waren tot. Kein einziges Haus war mehr vollständig erhalten, irgendetwas vernichtete in wenigen Augenblicken die komplette Stadt. Eine Stadt, die unzählige Seelen beherbergte. Lilly brannten die Augen und die Tränen konnten gar nicht schnell genug fließen. Nur sehr verschwommen nahm sie eine Gestalt wahr.
„Mama?“ fragte sie in die verschwommene Ruine hinein. Sie wischte sich ihre Tränen aus den Augen und erblickte tatsächlich ihre Mutter. Sie sah sie aus weit aufgerissenen und leeren Augen an. Ihr Blick war starr in die Unendlichkeit gerichtet. Dann erkannte Lilly, dass ihre Mutter der Attacke zum Opfer fiel. Ihr toter Körper lag nach Osten gerichtet in einem Trümmerfeld, das mal ihr Wohnzimmer gewesen sein konnte. Lilly fiel in sich zusammen und legte sich trauernd neben ihre tote Mutter. Ihre Gedanken kreisten immer wieder um die lebhaften Erinnerungen an den frühen Morgen, als ihre Mutter sie liebevoll weckte und sich gut um sie kümmerte.
„Maaammmmmaaaaa!“ brüllte Lilly mit aller Kraft, doch ihre Mutter wachte nicht mehr auf. Weit und breit war niemand zu sehen, keiner konnte dem kleinen Mädchen helfen, dass in einem mittlerweile verdreckten weißen Kleidchen wie ein Häufchen Elend neben seiner toten Mutter lag und die letzte Kraft aus sich hinaus heulte. Sie sah sich verzweifelt um. Niemand war mehr am Leben, sie schien wohl die einzige Überlebende gewesen zu sein.
Warum nur tat jemand so etwas Furchtbares? Was war das für ein Ding am Himmel, das erbarmungslos die Stadt niedermetzelte? Lilly dachte nur noch an ihre Eltern, ihre Verwandten und an ihre Freunde, die alle umkamen. Nur sie blieb übrig, weil sie die wohltuende Weite der Wiese außerhalb der Stadt genoss. Sie wünschte sich so sehr, in der Stadt geblieben zu sein, damit sie mit ihrer Familie hätte sterben können.
Das Kind ertrug den Schmerz nicht länger und verkrampfte sich. Lilly weinte dermaßen stark, dass sie kaum noch Luft bekam und dann irgendwann unkontrolliert anfing zu husten. Der Husten wurde immer schlimmer und sie übergab sich irgendwann. Lilly würgte noch lange, nachdem sie bereits alles aus ihrem Magen erbrochen hatte und die hoch gewürgte Magensäure verursachte brennende Schmerzen in ihrem Hals. Sie wollte sich erheben, doch ihr fehlte dazu die Kraft.
„Maaa-mmmmmaaaaa!!!“ schrie sie irgendwann wieder und wiederholte diesen Schrei immer und immer wieder. Niemals in ihrem Leben würde sie je wieder Glück erfahren, das wusste sie mit Sicherheit. Sie verkrümmte ihren Körper, bis sie nur noch ein kleines Röllchen war. Innerlich zog sich alles zusammen und Lilly verfiel in einen Zustand extremer Trauer. Krämpfe suchten ihren Körper heim und sie konnte sich gegen die enormen Schmerzen nicht im Geringsten wehren. Es fühlte sich an, als würde man sie von innen heraus zerreißen. Bevor Lilly das Bewusstsein verlor und den Tod, der sich ihr näherte, willkommen hieß, schrie sie ein letztes Mal nach ihrer Mutter.



Mark wollte bereits das Licht löschen, doch Tanja saß noch aufrecht im Ehebett und studierte einen Artikel in ihrer Frauenzeitschrift. Das Lesen lenkte sie etwas von den Ereignissen um Lilly ab. Eine Nacht drüber schlafen, entschieden die Jenssens noch vor wenigen Stunden am Esszimmertisch. Tanja wollte ihren Mann gerade dazu veranlassen, das Licht noch ein paar weitere Minuten anzulassen, da verspürte sie eine seltsame Präsenz in der unmittelbaren Nähe. Es kam ihr vor, als befände sich eine dritte Person im Raum, die mit ihr Kontakt aufnehmen wollte.
„Mark…“ flüsterte sie.
„Ja, ich merk’s auch.“
Beide konzentrierten sich stark auf diese Empfindung und einen Augenblick später waren sie imstande, eine Stimme zu hören. Ganz leise und aus einer unendlichen Entfernung schrie jemand ein Wort. Dieses Wort zog sich unendlich in die Länge und hatte einen sehr dringenden Unterton. Dieses Wort war ‚Mama’!
Mark und Tanja verstanden die Botschaft und riefen wie aus einem Munde: „Lilly!“
Sofort standen sie auf und machten sich auf den Weg ins Krankenhaus. Für die beiden Eltern war es ein deutlicher Hilferuf.
 
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