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Sarajevo

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Ich habe in Sarajevo gearbeitet.Mein Job war es, Szenen aus der belagerten Stadt festzuhalten und an die Stationen zu geben.
Mit jedem Tag wurde es schwerer, diese Arbeit zu machen. Ich filmte den Krieg in einer Stadt. Menschen starben. Sie starben sinnlos.
Sie wurden von Heckenschützen auf offener Strasse erschossen, als sie auf dem Weg von der Arbeit oder vom Einkaufen nach Hause waren.
Es gab bestimmte Strassen, Kreuzungen und Häuserecken, die dafür bekannt waren, dass sie im Schussfeld der Heckenschützen lagen.
Zuvor filmten wir oft die Menschen dort, um der Welt einen Eindruck zu vermitteln,
was die Stadt und ihrer Bewohner durchmachten. Manche Menschen liefen an diesen lebensgefährlichen
Stellen ihrer Stadt vorbei, andere gingen schon fast trotzig, aber wohl eher resignierend langsam vorüber.
Immer wieder kam es vor, dass Schüsse fielen.

Die Schüsse kamen von weit her. Sie kamen aus den Bergen oder aus Hochhäusern am anderen Ende der Stadt.
Aber hier trafen die Geschosse die Menschen und töteten sie auf offener Strasse.
Ich wollte unbedingt zu einem dieser Plätze. Mein Kollege meinte, dass dies zu gefährlich sei- selbst mit Schußsicherer Weste.
Was er nicht wusste war, dass ich die Metallplatten bereits aus meiner Weste entfernt hatte.
Ich wollte sterben. Ich wollte, dass mich einer der Heckenschützen erwischt und tötet.
Ich lief zusammen mit den Bewohnern Sarajevos über die Strasse. Ich lief hin und her, immer wieder hin und her,
über die Strasse, an der Stelle vorbei, wo schon unzählig viele Menschen erschossen worden waren.
Ich wollte, dass mich einer der Heckenschützen tötet.

Am Tage zuvor war ich mit Kollegen in der Stadt unterwegs. Kinder in den Strassen kannten unsere Autos, kannten uns.
Sie erkannten uns an unseren blauen,Schußsicheren Westen und natürlich an unseren Kameras und an den Buchstaben
TV auf unserem Auto. Das Tragen der Westen gab mir oft ein schlechtes Gewissen. Ich war mit meiner Kamera in der Stadt
dieser Menschen und trage eine Schußsichere Weste, wärhend sie selbst keinen solchen Schutz haben konnten. Als wir an unserem
Quatier ankamen, trafen wir wieder auf Kinder, die in der Nachbarschaft wohnten. Sie liefen,sprangen und
tobten um uns herum. Einem Mädchen, einem bildhübschen,süssen Mädchen von etwa 10 Jahren, gab die ein paar Bonbons.
Sie freute sich riesig.Es waren aber meine letzten-also ging ich ins Haus um noch mehr Süssigkeiten für sie und die anderen Kinder zu holen.
Im Haus angekommen, konnte ich noch immer das fröhliche Lachen der Kinder hören.

Man hätte nicht glauben wollen, dass dies ein Kriegsschauplatz war- als plötzlich Schüsse und Einschläge von Projektilen
am Haus zu hören waren. Wir warfen uns sofort auf den Boden und warteten ab. Es war uns nichts passiert- aber draussen,
auf der Strasse, war plötzlich alles ruhig. Ich dachte noch, lieber Gott, lass da draußen nichts passiert sein.
Gleich würden die Kinder wieder anfangen zu lachen, nachdem der erste Schreck vorüber war. Aber es blieb still.
Wir rappelten uns auf und gingen auf die Strasse zurück. Erwachsene waren aus den umliegenden Häusern gekommen
und standen umher. Einige von ihnen bildeten eine Traube auf der staubigen Strasse. Das Mädchen, dem ich eben
noch mehr Süssigkeiten geben wollte, war nicht zu sehen. Ich lief zurück ins Haus und holte meine Kamera.
Ich schaltete sie an und legte sie mir auf die Schulter. Ich ging zurück auf die Strasse und begann zu filmen.

Ein rotes Auto fuhr heran. Die hintere Tür wurde aufgerissen. Die Traube Erwachsener trug etwas von der Strasse
zur offenen Tür des Wagens. Ich ging auf sie zu und filmte sie. Ich filmte zwischen ihren Armen hindurch und an ihren Körpern vorbei.
Durch den Sucher meiner Kamera erkannte ich den bunten Rock eines Kindes, nackte, schmutzige Beine, Socken und weisse Turnschuhe.
Sie trugen das Mädchen, dass benommen in den Himmel zu starren schien, zum Auto und legten es auf die Rückbank.
Ich drängte mich dazwischen- ich konnte sie nicht filmen, also drängte ich einen Mann, der mir die Sicht versprerrte, zur Seite.
Das Mädchen lag auf dem Rücksitz. Ihre Augen waren geöffnet. Sie lebte. Ich hielt meine Kamera in das Auto,in das Gesicht des Kindes.
Sie blickte in den Sucher meiner Kamera- und verlor das Bewusstsein.
Ich wurde zurückgezogen, die Tür zugeworfen und der Wagen brauste über die staubige, unbefestigte Strasse davon.
Ein Mann, ein Nachbar, schrie den Namen des Mädchens. Er schlug sich die Hände auf den Kopf und in das Gesicht.
Ich filmte, wie er vor einen Lattenzaun trat. Er schrie „Ihr tötet unschuldige Kinder! Warum tötet ihr nicht mich und lasst die Kinder leben!“
Wir setzten uns in unseren Wagen und rasten zum Krankenhaus. Aber dort war das Mädchen nur noch ein Name in der Kartei.
Sie hatte das Krankenhaus nicht mehr lebend erreicht.

Zurück im Quatier legte ich die Sachen ab und fing an, meine Ausrüstung zu säubern. Ich wischte den Staub von meiner Kamera.
Überall war dieser Staub. Der Sucher war völlig verdreckt. Ich drehte die Kamera um und wischte über das Objektiv. Auch das war voller Staub.
Ich wischte mit kreisenden Bewegungen den Staub weg, schaute dabei auf das Objektiv. Mir blieb das Herz stehen.
Ich sah in das Objektiv-
und sah mich selbst darin. Ich sah in das Objektiv meiner Kamera und sah mich selbst wie in einem Spiegel.
Mir wurde klar, was ich dem kleinen Mädchen angetan hatte.
Das letzte, was sie gesehen hatte, war sie selbst. Das letzte, was sie gesehen hatte,
war ihr eigener Tod.
Das hatte ich diesem Kind angetan.

091105
 
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Kommentare  

Eine sehr ergreifende Geschichte. Gut geschrieben.

Petra (15.03.2009)

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