241


36 Seiten

Fisteip - Teil 10

Romane/Serien · Spannendes
„Ich brauch eine Zigarette“, sagte Tommy irgendwann.
Er hatte das Gefühl, schon seit Tagen in dem Haus zu sitzen, brauchte dringend frische Luft und eine Zigarette, so seltsam die Mischung sich auch anhören mochte. Er setzte sich auf die Umrandung der Terrasse, steckte sich die Zigarette an und atmete den Qualm tief ein. Ihm gegenüber saßen zwei Jungs in coolen Anzügen und streng zurückgekämmtem Haar, die sich nur flüsternd unterhielten. Sie ließen ihre Kippen hinter der Mauer verschwinden, setzten sich gerade hin, als jemand durch die angelehnte Tür trat, der offensichtlich nicht zum rauchen gekommen war. Tommy hatte den Mann mit seiner Frau in der Küche erwischt und er war noch betrunkener. Sein Kragen war schief, ihm war das Hemd aus der Hose gerutscht und seine Frisur war vollkommen aus der Fassung. Er torkelte neben Tommy zur Steinumrandung, ließ sich schwer darauf fallen und trompetete: „Reines Gift, das wisst ihr doch, oder? Reines Gift.“
Ungerührt rauchte Tommy weiter, wagte einen kleinen Seitenblick. Die Jungs verzogen sich, einer machte eine bedauernde Handbewegung zu Tommy hinüber.
„Diese Jungs“, sagte Walter, der vor zehn Jahren eine Salaberry geheiratet hatte und schon längst nicht mehr wusste, ob er glücklich war, „die wissen gar nicht, was sie da anrichten.“
Er machte eine unruhige Handbewegung in Richtung Tommys glimmender Zigarette.
„Nicht mehr und nicht weniger als Alkohol“, erwiderte Tommy, obwohl er lieber den Mund gehalten hätte.
„Sie rauchen auch.“ Walter bemühte sich, deutlich und ruhig zu sprechen. „Es macht sie krank. Es wird sie umbringen. Es ist ein schlechtes Beispiel für die Jugend.“
„Ja“, sagte Tommy, „mag sein.“
„Ich habe gehört, sie sind am Bates tätig.“
„Nein“, sagte er sofort, weil er ahnte, welchem Missverständnis der Mann aufgesessen war.
„Ich war Lehrer an der High School und was ich dort erlebt habe...“
„Ich bin nur im Sicherheitsdienst“, betonte Tommy, „ich bin kein Lehrer.“
„Ich habe den Kindern etwas beibringen wollen. Sie sollten für ihr Leben lernen, sie sollten begreifen, wie wichtig es ist.“
„Die meisten begreifen es auch ohne uns.“ Zumindest die, auf die es ankommt, dachte er.
„Wie geht es am Bates zu?“ Walters Stimme wurde drängend. „Gibt es dort Ärger? Wie gehen sie damit um?“
„Wie soll ich damit umgehen?“
„Was machen die Lehrer, wenn...“
„Keine Ahnung.“ Tommy senkte den Kopf, um Walter nicht anzusehen, er befürchtete, der Mann könnte noch aufdringlicher werden, „ich bin bloß für die Falschparker auf dem Campus zuständig.“
Walter starrte eine Sekunde lang vor sich hin, murmelte: „Sie rächen sich. Sie verfolgen einen und rächen sich.“ Dann an Tommy: „Welche Art von Metalldetektoren benutzen sie?“
Obwohl an der Zigarette noch zwei Züge dran gewesen wären, warf Tommy sie auf die Wiese hinunter und zog Leine. Er konnte es sich nicht erlauben, über Dinge zu diskutieren, die des Diskutierens wert gewesen wären – es offenbarte zu viel von ihm.
Ein einziges Mal hatte er es gewagt, während einer Diskussion seine Meinung zu sagen, ohne zu sehr ins Detail seiner eigenen Erfahrungen zu gehen und trotzdem hatte er sich damit ganz fürchterlich ins Aus geschossen. Es war zunächst nur um die Frage gegangen, ob man das Recht habe, sein Grund und Boden oder Haus zu verteidigen und wie weit man dabei gehen konnte. Das Pärchen, das ihm gegenüber saß, noch etwas jünger als Lea und die von sich sagten, sie seien ganz ausdrücklich gegen Gewalt, hatte er weder auf dem Campus noch im Café zuvor gesehen. Tommy dachte sich seinen Teil, konnte aber nicht mehr an sich halten, als er ganz direkt nach seiner Meinung gefragt wurde, weil er direkt neben ihnen gesessen und sie seine Uniform unter dem Pullover nicht gesehen hatten. Die beiden, beide mit langen blondem Haar, ein wenig schmuddelig und mit einer Vorliebe für Cordhosen, beide an den Armen und am Steiß tätowiert, hatte sich gegenseitig heiß geredet, wie sinnlos und falsch Gewalt war und das man sie durch nichts rechtfertigen könne, selbst dann nicht, wenn man sein Eigentum schützen versuchte. Sie waren so weich und nachgiebig wie Sahnepudding, schienen sich darauf spezialisiert zu haben, die ganze Welt als friedvolles Miteinander zu verstehen. Der Tatsache, dass es Gewalt gab, standen sie jedes Mal fassungslos gegenüber. Auf die direkte Frage, ob er das ähnlich sehe, sagte er zunächst nur, dass er es aus einer etwas anderen Perspektive sähe, darüber aber nicht diskutieren wolle, und wurde von den beiden Peacenicks sofort in die Zange genommen. Sie kannten ihn nicht. Sie wussten seinen Akzent nicht einzuschätzen. Sie teilten sich in Leas Café einfach nur einen Tisch und ließen ihn seinen Kaffee nicht trinken. Schließlich konnte Tommy nicht mehr an sich halten, zupfte dem blonden Kerl am Strickpullover.
„Sagen wir mal, ich würde mich jetzt auf der Stelle auf deine kleine Freundin stürzen und ihr die Kleider runterreißen. Was würdest du tun? Mir auf die Schulter klopfen und mich bitten damit aufzuhören?“
„Nein, aber...“ machte Peacenick.
Tommy ließ ihn nicht ausreden. „Jeder Mann hat das Recht und die Pflicht, sich, seine Familie und sein Eigentum zu beschützen, mit welchen Mitteln auch immer. Wenn man angegriffen wird, verteidigt man sich, das ist ganz einfach. Man verteidigt seine Familie oder sein Land, so ist das Leben.“
Den nächsten Einwand schob er mit einem „Es gibt sehr oft keine anderen Wege“ beiseite. Er dachte an die Antikriegs-Demos, an die empörten lauten Demonstranten, deren Parolen von einem US-Soldaten im Dienst, den er kannte, mit einem lapidaren „Demonstriert ruhig weiter, wir schützen euch schon“ erwidert worden war.
„Jeder kann töten“, sagte Tommy sehr ruhig und sehr leise, „ich will dir nicht absprechen, dass du die besten Absichten für ein friedliches Leben hast, aber ich schwöre dir, wenn ich mich mit einem Messer auf deine Freundin stürze und anfange, ihr den Bauchnabel aufzuschneiden, würdest du keine Sekunde zögern, mich kalt zu machen. Das kannst du dir eingestehen, das ist nicht schlimm. Es macht dich nicht zu einem schlechteren Menschen.“
An den schockierten Gesichtern sah Tommy sehr deutlich, dass sie noch nie in einer Zwangslage gewesen waren. Sie griffen ihre Jacken, Taschen und Bücher, hatten es plötzlich eilig. Sie waren unter fünfundzwanzig, lebten ihr Collegeleben und träumten von einer besseren Gesellschaft. Sie wollten nichts davon hören, dass es in dieser Welt immer Blut und Tränen geben würde, dass sie selbst innerhalb von Augenblicken zu Tätern werden konnten. Tommy war zu weit gegangen. Das Mädchen war bei dem Wort ‚Bauchnabel’ zurückgezuckt, als hätte er ihr ins Gesicht geschlagen. Sie hatten diskutieren wollen, nicht daran erinnert werden, wie grausam die Welt in Wirklichkeit war.
Er nahm sich vor, das nächste Mal nicht mehr seine Meinung zu sagen. Es war für ihn sehr viel besser, den Mund zu halten, als zu sagen, dass Kinder von Klein auf Disziplin brauchten, ein Mann das Recht hatte, Rache zu nehmen und 26+6 die Lösung aller Probleme war.

Er suchte Lea im Haus, wanderte umher und fand sie vor dem Wintergarten. Sie unterhielt sich mit einer Frau über Gartenarbeit, schaffte es mit Leichtigkeit, ihr weis zu machen, dass sie den ganzen Tag nichts anderes tat. Tommy fragte, ob er ihr etwas zu trinken holen solle. Sie wollte noch ein Glas Wein und er machte sich auf die Suche nach einer noch nicht leeren Flasche.
„Wie lange kennt ihr euch?“ fragte Agnes Jackson. Sie war eine der Frauen, auf die Lea sich wirklich gefreut hatte. Sie war fast sechzig, aber hatte noch immer Mumm in den Knochen und es gewagt, noch einmal etwas ganz neues anzufangen. Sie hatte schon immer gemalt, in Acryl und Aquarell, und endlich hatte sie es gewagt, mehr aus ihrem Hobby zu machen. Inzwischen hatte sie zwei Ausstellungen veranstaltet und fühlte sich mit jedem Tag jünger und zufriedener. Das war nicht schlecht, wenn man bedachte, dass sie zehn Jahre lang mit einem Schläger zusammengelebt hatte, der sie wie einen Haufen Scheiße behandelt hatte. Agnes stupste Lea so oft an, bis sie lachend reagierte.
„Fast sechs Jahre“, sagte sie, „er ist der einzige Kerl, der es mit mir aushält.“
Agnes nahm es zur Kenntnis, nickte und dachte einen Moment an den Mann, den es sehr gern länger mit ihr ausgehalten hätte; ganz im Gegensatz zu ihr, aber nach ihrer Meinung hatte er nie gefragt. Sie machte eine kleine Geste, als wolle sie etwas beiseite schieben. Sie hatte scharfe Augen, einen scharfen Verstand, der nichts mit Intelligenz zu tun hatte.
„Lea, trinkt er?“ fragte sie, mit einer Stimme, als hätte sie nach der Uhrzeit gefragt. Ihre sehr direkte Art brachte sie oft in Schwierigkeiten, viele Menschen kamen damit nicht zurecht, aber Lea hatte eine Schwäche für Agnes. Sie war eine Frau, an der man Hufnägel gerade klopfen konnte.
„Er hat aufgehört“, sagte Lea, „er hat kein Problem mehr damit.“
„Hast du ihn dazu gebracht?“
„Nein, er war schon lange trocken, als wir uns kennen gelernt haben.“
„Das ist gut“, sagte Agnes zufrieden, „das ist sehr gut. Es gibt seltsame Dinge, die einen zusammenführen und zusammen halten. Was war es bei euch?“
„Kaffee“, sagte Lea und darüber lachten sie, bis ihnen die Tränen kamen. Tommy kam zurück, hatte zwei Weingläser und eine Flasche Weißwein organisiert, noch fast voll. Er trug die Gläser kopfüber nach unten, die dünnen Glashälse zwischen die Finger geklemmt, die Flasche in der anderen Hand.
„Ladies“, sagte er, drehte die Hand und reichte ihnen die Gläser entgegen, „diese Flasche hab ich mit meinem Leben verteidigt.“

Der Abend schlich heran, die Lampen wurden eingeschaltet und Tommy machte einen kurzen Spaziergang nach draußen, um sich die erleuchteten Fenster aus der Entfernung anzusehen. Außerdem rauchte er noch eine schnelle Zigarette, versenkte die Kippe im Kies der Auffahrt. Er war etwa zehn Minuten in der Dunkelheit, wanderte umher, rauchte, beobachtete die erleuchteten Fenster, hinter denen die Bewegungen deutlich zu erkennen waren. Während dieser zehn Minuten schaffte Leas Vater es mit spielerischer Leichtigkeit, seiner Tochter die gute Laune zu verderben. Er fing sie vor dem Bad ab, drängte ihr eine Umarmung auf, die sie nicht wollte und trotzdem über sich ergehen ließ. Er war ein wenig fülliger und grauer geworden, die Äderchen auf seiner Nase ein wenig präsenter. Lea versuchte freundlich zu bleiben, machte einen Schritt zurück nach der Umarmung, ließ ihn reden. Er erzählte endlos, ließ sie wissen, wie sein Leben lief, wo er seinen letzten Urlaub verbracht hatte, dass er ein neues Auto gekauft hatte. Wollte sie es sich ansehen?
„Nein, danke“, sagte Lea.
Er fuhr fort, von sich zu erzählen, bemerkte nicht, dass Lea nicht wirklich zuhörte und ihn nicht ansah. Seine witzigen Bemerkungen waren nicht wirklich witzig, seine Lockerheit war nur gespielt und von den Geschichten mochte nicht einmal die Hälfte der Wahrheit entsprechen. Leas Mutter, seine Ex-Frau, hatte berichtet, dass er sich gerade so über Wasser hielt und ihm die Schulden über den Kopf wuchsen. Das Leben hatte es nicht gerade gut mit ihm gemeint, seit er Roberta und seine Tochter verlassen hatte.
Geschieht ihm recht, dachte Lea, die Arbeit erdrückt ihn und er hat zu Hause eine ausgeflippte Tochter sitzen, die sich nicht einmal entscheiden kann, ob sie ein Punk sein will oder nicht.
Sie wusste, dass es ihn wütend machen würde, wenn sie ihn weiterhin ignorierte, aber sie war nicht gewillt freundlich zu ihm zu sein und mit den Konsequenzen konnte sie leben. Als er meinte, sie solle doch auch mal etwas sagen, hob sie den Kopf, dachte an das unglückliche kleine Mädchen, das sie gewesen war und sagte: „Wenn ich gewusst hätte, dass du hier auftauchst, wäre ich zu Hause geblieben.“
Sie war zufrieden und triumphierte in ihrem Inneren, als er sie gekränkt ansah, sich umdrehte und verschwand.
Lea goss sich einen großen Schluck Wein ein, wartete darauf, dass Tommy zurückkam. Sie wäre am liebsten sofort nach Hause gefahren, aber Agnes bat sie, noch bis Mitternacht zu warten. Es war Tradition, Ira noch ein Ständchen zu bringen, gewöhnlich nahmen alle daran teil, wenn auch nicht alle zu singen wagten. Man trank auf sein Wohl, aß noch eine Kleinigkeit in der Küche und dann machten sich die ersten auf den Weg. Nur einige der angereisten Gäste würden im Haus übernachten, verteilt auf alle Räume. Leas Vater ließ sich nicht mehr blicken, dafür tauchte Suzi auf. Sie setzte sich neben Lea, stupste ihr in die Seite und reichte ihr ein Stück Apfelkuchen, von dem eigentlich schon seit Stunden nichts mehr übrig gewesen war. Eine Spezialität von Margret, die dieses Rezept wohl mit ins Grab nehmen würde.
„Hab ich rechtzeitig beiseite geschafft“, sagte sie, „ich dachte, wir sollten noch mal einen Anfang machen. Lass es dir schmecken.“
Lea nahm den Kuchenteller entgegen, bedankte sich und nickte, als Suzi sagte: „Michael ist mir schon den ganzen Abend auf die Nerven gegangen. Er wollte, dass wir zusammen herfahren, aber ich hab mich schon heute Morgen abgesetzt und gesagt, ich hätte noch was zu erledigen. Er ist verdammt anhänglich in letzter Zeit. Hat er dir schon sein neues Auto gezeigt?“
„Er wollte“, sagte Lea, noch ein wenig reserviert und misstrauisch. Gewöhnlich sagte man zu viel in Suzis Gegenwart und es landete ohne große Verzögerung bei Michael. „Ich hab ihn abblitzen lassen. Mir war nicht danach, allzu freundlich zu sein.“
„Es ist noch immer die alte Sache, was?“
„Würdest du das an meiner Stelle anders sehen?“
Suzi stellte ihren Teller beiseite, schob die Unterlippe vor. Sie waren Halbschwestern, ähnelten einander in Gestik und in der Erscheinung, hatten die gleichen Augen, und obwohl sie sich nur alle Jubeljahre auf Familienfeiern trafen und sich sonst aus dem Weg gingen, schienen sie sich automatisch gut zu verstehen, wenn sie sich Mühe gaben. Suzi sagte, dass Michael es völlig falsch angegangen sei und seine Töchter müssten es jetzt ausbaden.
„Reden wir nicht mehr davon“, setzte sie hinzu, „wie läuft es mit deinem Café?“
Sie plauderten über dies und das, konnten zusammen lachen und Lea schaffte es endlich, den alten Groll zurückzustellen.
„Ich weiß, dass du nichts dafür konntest, aber ich hab dir die Schuld daran gegeben, dass Michael uns verlassen hat. Ich wusste nicht, weshalb er uns nicht mehr wollte, und das, obwohl ich älter war als du. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass sich ganz Lewiston das Maul über uns zerriss. Für euch war es einfacher.“
„Nichts war einfach für uns. Schließlich war Michael mit Roberta verheiratet, aber nicht mit meiner Mutter. Ich war unehelich und die alten Weiber haben das bis heute nicht vergessen. Vom Gefühl her war Michael nie mein richtiger Vater, weil ich wusste, dass er eigentlich zu euch gehörte.“ Sie lächelte. „Es ist nicht in Ordnung, dass wir beide das ausbaden müssen.“
Leas freute sich über diese neue Seite an Suzi, es war ihr fast peinlich, dass sie nicht selbst den Anfang gemacht hatte.
„Ich hol uns was zu trinken“, sagte sie, „ich muss mich für den Kuchen revangieren.“
Sie lächelten sich an, Lea nahm die Teller mit in die Küche, machte sich dort auf die Suche nach einer Flasche Sekt, wühlte durch den Kühlschrank und durch die Speisekammer. Endlich fand sie eine Flasche in der hinteren Ecke, zwar schon angebrochen, aber noch nicht abgestanden.
Suzi ist richtig nett, dachte sie, kaum zu glauben, dass ich das in meinem Groll nie bemerkt habe.
Zurück am Platz, wo sie zusammen gesessen hatten, war niemand mehr. Lea stellte die Gläser ab, drehte sich suchend um.
Auf Toilette verschwunden, dachte sie.
Aber Suzi tauchte nicht mehr auf. Die Kinder rannten trotz der späten Stunde johlend durch das Haus, die ersten betrunkenen Gäste saßen halb eingeschlafen herum. Tommy kam quer durch die Halle auf sie zu, wurde von einem Rudel Jungs, alle um die dreizehn Jahre alt und lästig wie die Pest, fast über den Haufen gerannt. Er stoppte in der Bewegung, griff sich die Pest, die ihm über die Füße lief, ohne wirklich hinzusehen. In der anderen Hand hielt er eine Flasche Mineralwasser. Der Junge, Stephen Carlucci, aus der Brut der New Jersey-Mafia, trug ein gestreiftes Hemd und eine dunkelblaue Jeans, deren Schritt ihm in den Kniekehlen hing. Die Art von Hosen, die es in allen Läden für Jugendliche zu kaufen gab, mit denen Eltern nicht glücklich waren. Wenigstens trug er ein ordentliches Hemd, aber es rechtfertigte nicht sein überdrehtes Benehmen. Tommy hatte ihn am Hosenbund im Rücken gepackt, hielt ihn fest, als Stephen zu zappeln begann.
„Hey“, sagte Tommy, „seid vorsichtig, klar?“
Stephen Carlucci erwiderte etwas, was Lea nicht verstehen konnte, aber es war keine Entschuldigung. Sein Gesicht zeigte einen störrischen Ausdruck – er war wütend, dass ihn jemand zur Ordnung rief, der seiner Meinung nach kein Recht dazu hatte. Tommy hob den Jungen in die Luft, bis er gut zwanzig Zentimeter in der Luft hing. Er rutschte etwas in seine alberne Hose zurück, zappelte hilflos und protestierte mit schriller Stimme. Er mochte von sich denken, ein cooler Fast-Erwachsener zu sein, aber im Moment klang er wie ein Baby und alles, was er deutlich herausbekam, war das Wort „runter!“ Tommy hielt ihn am Hosenbund in die Höhe, bis er still war, es schien ihm keine Kraft zu kosten.
„Mein Junge“, sagte Tommy, den Kopf etwas schief gelegt, „wenn ich in der Nähe bin, gehst du langsam, verstanden? Du könntest eine der alten Ladys umschubsen und das würde dir nicht gut tun. Kapiert?“
Er schüttelte den Jungen einmal und er nickte; er schüttelte den Jungen ein zweites Mal und bekam ein „Ja, kapiert“ zur Antwort. Endlich ließ er ihn auf die Füße zurück, gab ihm einen gut gemeinten Klaps auf den Rücken. Stephen wandte den Kopf in Tommys Richtung, warf ihm einen beleidigten Blick zu, seine Mundwinkel zogen sich nach unten. Die Jungs, die mit ihm durch die untere Etage des Hauses gerannt waren, warteten im Türrahmen zum nächsten Zimmer, sahen betreten aus der Wäsche. Als Stephen zu ihnen aufschloss, schlichen sie mit langsamen Bewegungen davon. Tommy bezweifelte, dass es länger als zehn Minuten anhalten würde. Er ließ sich neben Lea nieder, stellte die Wasserflasche zwischen seine Füße. Leas Laune hatte sich deutlich gebessert, kein Wort mehr darüber, die Party zu verlassen.
„Du wirst es nicht glauben“, sagte sie, rückte näher an ihn heran, hakte ihren Arm unter seine Armbeuge, „ich hatte eine wirklich gute Unterhaltung mit Suzi. Sie ist netter, als ich gedacht habe, als ich in den letzten Jahren gedacht habe. Wir haben Kuchen gegessen, über alles geredet und ich komme mir absolut dumm vor, dass ich es nicht schon vor Jahren getan habe. Es hat sich gut angefühlt. Ich glaube nicht, dass ich so mit Michael reden könnte, er ist der Verursacher des Unglücks, aber ich habe ein gutes Gefühl bei Suzi.“ Sie trank ihren Wein. „Vermutlich werden wir niemals die besten Freundinnen aller Zeiten sein, aber ich werde ihr das nächste Mal nicht mehr Blitze aus den Augen zu schießen.“ Sie machte eine Geste mit beiden Zeigefingern rechts und links neben ihren Augenwinkeln.
„Wir haben uns ausgesprochen“, fuhr sie fort, „es ist gut, die Familie, na ja, einen Teil der Familie wieder zu finden.“
Unter Umständen, dachte Tommy. Es sagte es nicht laut, es wäre nicht gerecht gewesen, ihr zu erzählen, dass es – unter Umständen – besser war, die Familie zu verlassen und nie mehr zurückzukommen. Er freute sich für sie, sagte es so ehrlich wie er nur konnte, obwohl er plötzlich dachte, dass die Familie das kleinste Problem war. Er fühlte sich nicht sicher, inmitten dieser fröhlichen chaotischen Versammlung von Leas Familie, fühlte er sich plötzlich, als habe er ein Fadenkreuz auf der Stirn. Agnes beobachtete ihn von ihrem Platz aus, sie saß drei Plätze neben Lea, lächelte, als er zu ihr hinüber sah.
Irgendwo nebenan ließ jemand eine offensichtlich schwere Glasschüssel fallen, der splitternde Knall war unglaublich laut, ebenso laut wie der Schrei der Frau, der das Missgeschick passiert war. Eine andere Stimme ließ eine Ansammlung von saftigen Flüchen hören – einige der Anwesenden grinsten über das, was sie zu hören bekamen, aber nicht alle. Jemand machte missbilligende Geräusche. Eine dritte Stimme von nebenan rief in einem komischen Ton: „Da geht sie hin, die gute Erdbeerbowle.“
Sie hatten die Bowle über den ganzen Tag und späten Abend gerettet, und nur, damit Tante Tula sie auf den Parkettfußboden ausbreiten konnte.
„Komm mit“, sagte Agnes zu Lea, „mal sehen, ob es noch was zu retten gibt.“
Kaum anzunehmen, dachte Tommy, nicht bei Glassplittern.
Die lockere Gruppe, die zusammen gesessen hatte, löste sich auf, Tommy nahm seine Wasserflasche, wanderte umher, flüchtete vor der alten Frau, die noch immer auf der Suche nach ihrem Sohn war, den es zu bestrafen gab, landete schließlich in dem so genannten Frühstückraum. Ein kleines Zimmer neben der Küche, Fenster an der Südseite mit Blick auf die Pfaue. In der Mitte stand ein runder grober Holztisch, umgeben von Stühlen mit hohen geschwungenen Lehnen. Dort saß Ira Salaberry, einen Teller Suppe vor sich. Es war keine Dosensuppe, die er andächtig löffelte, die linke Hand auf den Oberschenkel gestützt. Tommy wollte nicht stören, steckte die freie Hand in die Hosentasche und wandte sich zum gehen, aber Ira brummte ihm nach und kommandierte ihn zurück.
„Setz dich“, sagte er, deutete auf den Stuhl neben sich. Tommy tat ihm den Gefallen, obwohl er bezweifelte, dass sie lange in Ruhe reden konnten, worüber auch immer er reden wollte.
„Ich will sie nicht stören“, sagte er, als er sich setzte, „vermutlich haben sie heute noch keine ruhigen fünf Minuten gehabt.“
„Das ist schon in Ordnung, solange hier niemand Feuer legt oder die Pfaue rupft. Ich wollte nur ein Wort über Stephen verlieren.“
Welchen Stephen? dachte Tommy, vermutete, dass die Mumie ihm irgendetwas aus der Familie erzählen wollte. Dann aber stellte sich heraus, dass der Junge, den er am Hosenbund hochgehalten hatte, besagter Stephen gewesen war und sich wohl bei seiner New Jersey Sippe darüber beschwert hatte.
„Ich hab ihm nicht weh getan“, sagte Tommy, „die Jungs sind wie eine Herde Büffel durchs Haus gerast und ich hab mir den ersten besten geschnappt. Ich hab ihn nur an dieser lächerlichen Riesenhose hochgehoben und ihm gesagt, er solle im Haus nicht laufen. Ich hatte Angst um einen der Oldtimer.“
Ira lehnte sich zurück, lachte aus einer trockenen Kehle.
„Ich weiß, dass es so war“, sagte er, „dieser pubertierende Möchtegern-Gangster hat’s verdient, mal zurecht gewiesen zu werden.“
„Ich wollte mich nicht hinreißen lassen, die Kinder anderer Leute zu erziehen.“
Ira schob seinen Teller beiseite, brummte unbestimmt und sah Tommy prüfend an. Sein Haar hatte sich etwas entladen, war aber noch immer wirr. Tommy konnte ihn sich sehr gut vorstellen, wie er in seinem Garten stand, den Pfauen Futter ins Gehege warf und die Rosen nachschnitt. Er sah aus wie jemand, der sein Leben lang draußen gearbeitet hatte.
„Lea kann zufrieden mit dir sein“, sagte Ira Salaberry, „ich mag Ehemänner, die auch mal ihren Kopf durchsetzen können.“
„Ich bin kein Ehemann“. Tommy zog entschuldigend die Schultern hoch.
„Was nicht ist, kann noch werden. Bleibt ihr noch bis Mitternacht?“
„Auf jeden Fall“, sagte Tommy.
„Wenn man so ein alter Knacker geworden ist wie ich, sieht man viele Dinge. Du bist ein guter Kerl, vielleicht etwas zu alt für Lea, aber darüber kann man hinweg sehen, wenn man weiß, dass du sie gut behandelst. Du bist friedfertig und von der ruhigen Sorte.“
Tommy dachte es und sprach es halblaut aus, obwohl er sich sofort danach am liebsten die Zunge abgebissen hätte – es drohte in die falsche Richtung abzudriften, ebenso wie die Diskussion im Café mit den Studenten.
„Ich bin nicht friedfertig, nur vorsichtig“, sagte er.
Darauf antwortete Ira mit einer Bemerkung, die ebenso zu Hunden oder Pfauen oder fleißiger Hausangestellte passte. Er sagte: „Guter Junge.“

Nach der Begegnung mit Ira, von der er Lea erzählte, wurde er Zeuge einer Unterhaltung, von der er Lea nichts sagte, weil er sie nicht verletzen wollte. Es entsprach seiner Vorstellung, dass es selbst in der Familie keinen sicheren Hafen gab – besser, du suchst dir eine andere Stelle, um deinen Anker zu werfen, guter Junge.
Aus einem der vielen Zimmer, wo sich Gäste aufhielten, hörte Tommy eine Stimme, nicht sehr laut aber sehr gehässig.
„... eine falsche Schlange sie ist, kaum vorstellbar. Plötzlich tut sie so, als könnten wir echte Schwestern werden, was soll das? Wo sie mir hier noch sagt, dass sie ihr Leben lang wütend auf mich war? Sie kann mir doch nicht erzählen, dass sie Michael als Vater vermisst hat. Ich denke, sie hatte schon immer nichts als Ärger im Kopf, Ärger und Lügen, und ihr verschissenes Café, von dem sie dauernd anfängt, um damit anzugeben.“
Tommy warf einen kurzen Blick in den Raum, wie man eben in Räume sieht, an denen man vorbei geht und von dort Stimmen hört. Der Punk saß mit einer Frau zusammen, sie hockte auf der Lehne eines Stuhls, die schweren Schuhe auf der Sitzfläche, die Hände auf die Knie gelegt. Die Frau, mit der sie sich unterhalten hatte, konnte er nicht erkennen, sie hatte ihm den Rücken zugedreht. Nein, das würde er Lea nicht erzählen, was er hier gehört hatte. Er konnte nicht zulassen, dass sie mit einem schlechten Gefühl nach Hause fuhr.
Endlich ging es auf Mitternacht zu, Ira inspizierte den Tisch mit den Geschenken, nahm einige Pakete hoch, schüttelte sie, stellte sie wieder ab. Es war eine ganze Menge, jede erdenkliche Art von Geschenkpapier, Bändern, Schleifen, Geschenkkartons. Am liebsten waren ihm die Pakete, denen man ansah, dass Kinderhände sie eingepackt hatten. Die Glückwunschkarten, überall dazwischen aufgestellt, sammelte er ein, steckte sie ineinander und schob sie in die Tasche seiner dicken braunen Strickjacke. Die, die ihn nicht näher kannten, hätten vermutet, dass er sie mitnahm, um sie in aller Ruhe zu lesen, aber die anderen wussten, dass er sie in seinem ehemaligen Arbeitszimmer in den Papierkorb warf. Er hasste Geburtstagskarten. Die meisten waren hässlich und geschmacklos, trafen nicht seinen Sinn von Humor, und auch das, was hineingeschrieben war, war meist eine Lüge.
Ich hoffe, du lebst noch hundert Jahre.
Frohsinn und Gesundheit.
Bleib, wie du bist.
Ira wusste es besser. Deshalb warf er sie weg. In der Bibliothek, wo sie sich versammelten, um noch einmal auf sein Wohl anzustoßen, setzte er sich in seinen Sessel, legte die schweren Füße auf den Hocker vor sich.
So kann ich diesen letzten Akt ertragen, dachte er, Okay, dann lass sie mal kommen.

„Wann packt er die Geschenke aus?“ flüsterte Tommy Lea zu. Sie teilten sich wieder einen Sessel und ein Glas Orangensaft. Lea hielt ihren Kopf an seinen Hals sinken, murmelte: „Oh Gott, ich hab zu viel Wein und von diesem Likör gehabt, mit dem Margret angekommen ist. Pop packt die Geschenke morgen aus, wenn alle wieder weg sind.“
„So erfährt aber niemand, ob das Geschenk angekommen ist.“
„Aber auch nicht, was für ein peinlicher Reinfall es war.“
„Das macht Sinn, auf eine seltsame Art und Weise.“
Jemand rief: „Es ist zwölf!“ und aus den überfüllten Ecken des Raumes und vom Flur stimmten alle das Geburtstagslied an, die Kinder am lautesten, froh darüber, noch immer nicht ins Bett geschickt worden zu sein. Ira Salaberry nahm die Glückwünsche, ob ehrlich gemeint oder nicht, mit einem mürrischen Gesichtsausdruck entgegen, tief in seinen Sessel gerutscht, hielt dabei die Kinder im Auge, die sich gegenseitig an den Haaren zogen, während sie sangen.
Die Verabschiedungszeremonie schien noch mal Stunden zu dauern, Tommy wartete mit Mäntel und Tasche vor der Tür. Die Hunde, die überall ihre Dreckspuren hinterlassen hatten, hechelten ihm aus einem Combi entgegen, stanken hinter der Scheibe zum Himmel. Er zündete sich eine letzte Zigarette an, hörte die endlose Verabschiedungslitanei, Leas muntere lachende Stimme. Er hoffte, nicht hören zu müssen, wie sie sich auf diese Art von Suzi verabschiedete und vielleicht noch hinzufügte, sie solle mal auf einen Kaffee vorbeikommen.


Es war am Bates College üblich, Gastredner aus Politik und Wirtschaft für Podiumsdiskussionen und Vorträge einzuladen, besonders beliebt waren die Vorträge von Schriftstellern und anderen berühmten Leuten. Tommy war kaum aus seinem Urlaub zurück, als er erfuhr, dass wieder einer dieser politischen Vorträge angesetzt waren. Vielleicht war es wieder die Gattin eines Ex-Präsidenten, was immer die dann auch politisches zu erzählen hatten. Er war der Meinung, dass weder Berühmtheit noch Erfolg abfärbten, selbst dann nicht, wenn man ein Bett teilte. Von Joe Ford hatte er nur positive Nachrichten erhalten und außerdem die vorsichtige Nachfrage, ob er an der Sache dranbleiben solle.
„Dranbleiben“, hatte er gesagt.
Am Morgen des ersten Arbeitstages saß er mit Steve Garner zusammen im Büro, Steve bei einem Kaffee, er bei einem Tee und gingen den Personalplan für die nächsten zwei Wochen durch.
„Die haben den Termin vorgezogen“, sagte Steve, „Larry hat gesagt, es sei ihm egal, wenn sie sich nur an das Programm halten.“ Irgendwo in seinen Unterlagen hatte er die Ankündigung für den mehrstündigen Vortrag in der Hatham Hall, aber er konnte sie nicht finden. Er zuckte mit den Schultern. „Es hängt am schwarzen Brett.“
„Kommt irgendjemand besonderes?“ fragte Tommy zwischen seinen eigenen Notizen, durch die er teilweise nicht mehr durchstieg, weil er zu schnell und damit zu unleserlich mitgeschrieben hatte.
„Keiner, den ich kenne“, bekam er zur Antwort, „Politiker auf der schnellen Durchreise.“
Tommy nippte am Tee, nahm Steves seltsames Grinsen zur Kenntnis und ignorierte es. Er versuchte sich auf die Arbeit zu konzentrieren und nicht mehr daran zu denken, dass sein Mobil jederzeit klingeln und Joe Ford dran sein könnte, der ihm sagte, dass die drei Männer etwas getan hatten, wovor er sich am meisten fürchtete.
Das Haus in der Sandy Street anzünden, Leas Café hochgehen lassen, ihr Leben bedrohen.
Er schaffte es, nicht ständig daran zu denken, und es war schwer. Es schien, als müsse er doppelt so viel Energie aufbringen, um die alltäglichen Dinge zu erledigen, es hatte elendige Ähnlichkeit mit einem mordsmäßiger Kater nach einem dreitätigen Vollrausch, und an diesen Zustand konnte er sich noch gut erinnern.
„Was liegt sonst noch an?“ fragte er, schwenkte den Becher mit kleinen Bewegungen hin und her, um den Teebeutel am Schwimmen zu halten, misstrauisch beobachtet von Steve, der darauf wartete, dass es überschwappte und auf die Unterlagen tropfte.
„Das übliche. Pinheiro hat eine Aufstellung gemacht und sie in dein Fach gelegt.“
„Hab noch nicht reingesehen.“
„Und irgendjemand hat im Rand House Wasserhähne abmontiert. Entweder finden wir sie wieder oder wir müssen neue kaufen.“
„Dummer Jungenstreich“, murmelte Tommy, „die tauchen schon wieder auf. Kann doch keiner was mit anfangen.“
Den heißen Tee schlürfend sah er beiläufig zu Steve hinüber und fragte sofort: „Was ist los?“
„Nichts“, sagte Steve, noch immer grinsend. Tommy kniff ihm mit der ausgestreckten Hand und zwei spitzen Fingern in die Wange und gurrte betont freundlich: „Dann hör auf so zu grinsen.“
Es war sehr ruhig in dem Büro, niemand kam mit dringenden Aufgaben herein, in der Notrufzentrale spielten zwei Männer Backgammon, ohne gestört zu werden. Tommy dachte, dass es immer so sein könnte. Er holte seine Unterlagen aus dem Fach und blätterte sie durch, schlich den Gang entlang und an Larrys Büro vorbei. Die Tür stand offen, Larry diskutierte mit einem Besucher vor seinem Schreibtisch, die Arme vor der Brust verschränkt. Als er Tommy vorbeischlendern sah, streckte er eine Hand aus und rief: „Tommy? Komm doch mal rein.“
Tommy warf nur einen flüchtigen Blick auf den Besucher, noch immer damit beschäftigt, wo er nach den geklauten Wasserhähnen suchen könnte.
„Sean McGinley. Er ist für die Sicherheit der Gastredner nächste Woche zuständig. Ihr beide solltet euch zusammensetzen und einen Plan ausarbeiten. Tommy Gallagher“, sagte er an den Gast gewandt, „unser Mann für solche Aufgaben.“
Seit wann das denn? dachte Tommy.
McGinley schob seine Brille zurecht, machte einen Schritt auf Tommy zu und sie schüttelten sich die Hände. Sein Anzug war von der Stange, das dunkelblau schon etwas abgewetzt und blank geschabt an den Taschen, saß nicht wirklich gut wegen seiner breiten Schultern. Er sah aus wie fünfundvierzig, blasse Haut und blaue Augen, das lockige Haar ringelte sich um seine Ohren. Auf dem Klemmbrett, das er sich mit der linken Hand in die Hüfte stemmte, hatte er einen dicken Stapel Unterlagen befestigt. Die oberen hatten Eselsohren.
Die sollen alle durchgegangen werden, dachte Tommy, und deshalb soll ich das machen.
„Können wir dein Büro benutzen?“ fragte Tommy, „hier können wir in Ruhe alles durchgehen.“
„Aber immer“, sagte Larry, „ich mache inzwischen ein paar Erledigungen.“
Er verließ sein Büro, nickte McGinley freundlich zu und Tommy drückte die Tür hinter ihm ins Schloss.
„Setz dich“, sagte er, „ich kann die Jalousien nicht zudrehen, das würde auffallen.“
„Das ist ein Scherz, oder?“
Tommy lehnte sich mit dem Hintern gegen den Schreibtisch, umfasste die Kante mit beiden Händen.
„Siehst du mich lachen?“
Sean McGinley schob ihm das Klemmbrett entgegen und flüsterte: „Ich würde dich ja gerne in den Arm nehmen. Aber ich glaube, das wäre zu auffällig.“
„Pogue Mahone“, erwiderte Tommy, die liebevolle irische Umschreibung für ‚knutsch mir die Kimme’.
„Sieh dir das Programm an und sag mir, was du davon hältst. Tommy Gallagher. Ich kann’s einfach nicht glauben.“
„Wenn du jemandem was davon erzählst, töte ich dich“, sagte Tommy. „Lass mich einen Blick in das Ding werfen und du kannst mir dabei erzählen, wer herkommt.“ Er sah McGinley an und grinste, obwohl ihm nicht wirklich danach zumute war. McGinleys Auftauchen war wie ein Schlag ins Gesicht.
Bitte nicht jemanden, den ich kenne, dachte er, und erst recht niemanden, der mich kennt. Das könnte ich jetzt am allerwenigstens gebrauchen. Ist schon unglaublich, dass Sean hier auftaucht.
„Martin“, sagte Sean, den Tommy das letzte Mal bei einem wilden Handgemenge in der Garvaghy Road gesehen hatte, „und Caomhgin.“
Beide kannte Tommy nicht persönlich, aber ohne Zweifel würden sie ihn erkennen, wenn er ihnen gegenüber stand.
„Sie teilen sich die Vorträge. Ist das ein Problem für dich?“
„Nein“, sagte Tommy, „es ist in Ordnung. Gehen wir euren Plan kurz durch? Ich erwarte keine Probleme bei den Studenten, aber ich werde trotzdem dafür sorgen, dass die vier Krawallbrüder ganz hinten sitzen, wo ich sie im Auge behalten kann.“
„Seit wann bist du hier?“ Sean nahm sein Klemmblatt zurück, nickte und machte sich ein paar Notizen. Tommy grinste, als er sah, dass er einen Kugelschreiber der Partei benutzte.
„Und wie bist du bei SF gelandet?“
Sie sahen sich abschätzend an. Tommy wusste, dass er Sean noch immer vertrauen konnte, auch wenn er in den politischen Flügel gewechselt war, aber er wollte nicht den Eindruck erwecken, über das Auftauchen von nordirischen Politikern glücklich zu sein. Tommy und Sean hatten zusammen gearbeitet, zwar nur wenige Monate und hatten sich nicht wirklich leiden können, aber man vergaß keine ehemaligen Kollegen.
„Ich wollte irgendwann einen anderen Weg einschlagen.“ Sean wandte den Kopf etwas nach links und hob das Kinn, zeigte eine Narbe, die auf ein schlimmes Feuer schließen ließ. Tommy zog die Luft durch die Zähne ein, erntete einen belustigten Blick.
„Halb so wild“, sagte Sean, „ich sage so was sehr selten, aber du siehst verdammt gut aus. Etwas grau, aber gut in Form. Extrem gut für eine Leiche, so ganz nebenbei erwähnt.“
„Ich boxe ein wenig.“
„Das solltest du so beibehalten.“
Er machte eine Kopfbewegung in Richtung Tür.
„Weiß hier irgendjemand bescheid?“
„Hast du gerade ’ne Auster die Treppe hoch laufen sehen? Natürlich nicht.“
„Ich dachte, sie hätten dich abserviert.“
„Das sollten alle denken.“
„Und sonst ist hier alles in Ordnung? Keine Schwierigkeiten?“
„Hmh“, machte Tommy, „Zeit für Rosie Lee.“ Es war erstaunlich, wie flüssig die irischen Wortspiele, die er seit Jahren unterdrückte, aus ihm heraussprudelten. Er musste verdammt aufpassen, sie nicht in Gegenwart der anderen zu benutzen.
In der Teeküche ließ er zwei Tassen mit heißem Wasser auffüllen, stopfte Teebeutel hinein und sah zu, wie sie untergingen. John lief an ihm vorbei, das Haar zerzaust, mit einem Stapel Unterlagen hantierend, die er zerknittert und angerissen aus dem Kopierer gezogen hatte. Trotzdem hatte er noch genug Zeit, Tommy zuzurufen: „Schon fertig?“
„Wir machen nur ’ne Pause.“
Er nahm die Tassen, betrat Larrys Büro, wo Sean sich die Fakultätsfotos an der Wand betrachtete, sich zu ihm umdrehte und bemerkte, dass er es wohl immer schaffte, sich auf den Gruppenfotos unkenntlich zu machen. Tommy schob mit dem Knie die Tür ins Schloss, hielt die Tassen in Brusthöhe.
„Was bleibt mir anderes übrig im Zeitalter des Internets“, sagte er.
„Rück raus damit, Tommy.“
„Es könnte sein, dass sie mir auf die Schliche gekommen sind.“ Er reichte Sean den Tee und sie setzten sich an den Tisch zurück.
„Wer?“
„Könnte die SAS sein.“
„Und dann sitzt du noch hier? Dear me.“
„Ich hab das im Griff. Ich kratz schon rechtzeitig die Kurve.“
„Brauchst du Hilfe?“
Tommy holte eine Karte aus dem Regal, faltete sie auf dem Tisch auseinander. Sie zeigte den Grundriss aller Gebäude und Anlagen auf dem Collegegelände.
„Nein, das schaff ich schon. Alles andere würde die Aufmerksamkeit auf mich lenken.“
„Ich kann mit dem Boss sprechen, wenn du willst. Er ist in Boston.“
Tommy schüttelte den Kopf, zeigte auf die Karte.
„Ich halte euch den Parkplatz am Verwaltungsgebäude frei, dann müsst ihr nicht über das ganze Gelände. Es sei denn, ihr wollt Händeschütteln, Autogramme geben und Spenden sammeln.“
„Dafür sind wir nicht zuständig.“
Die Karte lag zwischen ihnen, schien der Mittelpunkt ihres Gesprächs zu sein. Dabei redeten sie über Dinge, die sehr viel tiefer in die Vergangenheit führten, als es irgendjemand wissen durfte.
„Wenn du auch nur die Vermutung hast, dass es die SAS sein könnte, solltest du deinen Arsch von hier wegbewegen.“
„Ich kann nicht mehr einfach verschwinden.“
„Erzähl mir nicht, dass du so an dem Job hier hängst. Du läufst über den Campus und piekst Abfall auf.“
„Ab und zu darf ich auch ein paar Jungs in den Hintern treten. Immerhin.“
„Du hattest mit Sicherheit schon bessere Jobs.“
„Es ist nicht der Job.“
„Eine Frau.“
„Ja“, sagte Tommy einfach.
„Du wirst sie unglücklich machen, ob du sie nun sitzen lässt oder sie deinen zerlöcherten toten Körper identifizieren muss. Was wird sie wohl härter treffen?“
„Ich hab’s im Griff, Sean. Ich werde schon dafür sorgen, dass weder das eine noch das andere passiert. Was ist mit der Beleuchtung in der Halle?“
Sean knirschte mit den Zähnen.
„Keine Spots zur Bühne“, sagte er schließlich, „nichts, was blendet, keine dunklen Ecken. Das reicht schon.“
Sie tranken den Tee, arbeiteten einen Plan aus, wie der Tagesablauf aussehen sollte und diskutierten darüber, ob man Infomaterial auslegen sollte.
„Auf keinen Fall“, sagte Tommy.
Sean fragte, ob Tommy während der Veranstaltung dabei sein würde oder ob er es vorzog sich im Hintergrund zu halten, um nicht erkannt zu werden. Darüber machte Tommy sich nur ganz kurz Gedanken.
Was vor seinem inneren Auge ablief, war die reine Horror-Vorstellung. Er während des Vortrages als Sicherheitsbeauftragter in der Hatham Hall, seitlich neben den Stuhlreihen, wo er einen guten Überblick hat und sehen kann, wer kommt und wer geht. Auf der Bühne, wo Stühle und ein Rednerpult aufgestellt sind, finden sich die eingeladenen Politiker ein, plaudern miteinander, legen ihre Jacketts ab, überprüfen die Mikrophone, indem sie mit einem Fingernagel dagegen klopfen. Bis dahin ist alles in Ordnung, alles unter Kontrolle. Bis zum dem Moment, an dem alle Studenten im Saal sind, unruhig ihre Plätze suchen, Bemerkungen rufen und laut lachen. Dann kipp die Szene, so brutal, als hätte ihm jemand in den Magen getreten – als Martin ans Rednerpult vortritt, ein freundliches Lächeln probt (obwohl jeder weiß, dass er das besser sein lassen sollte, er ist niemand, dem man ein freundliches Gesicht abnimmt) und er ins Mikro gebeugt murmelt: „Vielen Dank, Ladies ’n Gentlemen, dass wir heute an diesem College... Tommy? Tommy, bist du das?“
Er dreht sich zu den Kollegen auf den Stühlen hinter sich um, die sich zögernd erheben, den Raum mit ihren Blicken absuchen und ihn entdecken. Tommy ist nicht in der Lage sich zu bewegen.
„Tommy“, ruft Martin dann so laut ins Mirko, dass es eine Rückkopplung gibt und jeder Student in dem Raum auf die Situation aufmerksam wird.
„Das ist Tommy, Jesus fuckin’ Christ! Was machst du hier? Wir haben ihn untertauchen lassen, aber dass er hier gelandet ist, hätten wir nicht gedacht.“
Allein die Vorstellung zauberte ihm eine Gänsehaut auf den Rücken.
„Ich bin dabei, schließlich hat Larry mir das Ding aufs Auge gedrückt. Jetzt weiß ich auch, weshalb Steve die ganze Zeit gegrinst hat wie schwachsinnig. Die wollten mich damit auf den Arm nehmen.“
„Und sie ahnen nichts?“
„In meinen Lebenslauf steht, dass ich aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Dublin komme. Es gibt keine Verbindung nach Nordirland, was aber auch vollkommen egal ist. Die wenigstens hier wissen, was dort los ist, es sei denn, sie studieren es. Es tut ganz gut, dass es hier als Geschichte aus der Vergangenheit abgetan wird.“
„Es ist trotzdem zu nah dran, Tommy.“
Er war versucht, von Lea zu erzählen, dass sie ein so wichtiger Teil in seinem Leben war, dass er alles tun würde, um sie nicht zu verlieren. Es war etwas anderes als damals, als er allein durch die Gegend gezogen war, er konnte nicht mehr einfach alles aufgeben.
„Wie sieht’s aus?“ fragte Larry, steckte den Kopf durch die Tür, „lasst euch Zeit, ich will gar nicht stören, aber ich brauche eine der Akten.“
„Wir sind soweit alles durchgegangen“, sagte Sean, blätterte durch seine Unterlagen, „aber ich würde mir gerne noch das Gelände ansehen.“
„Kein Problem“, sagte Tommy. Er griff sich seine Jacke, ignorierte das plötzliche Klingeln des Mobiles, bis Sean ihn auf dem Weg nach draußen darauf aufmerksam machte. Er erwiderte, dass er den Anruf draußen entgegennehmen würde.
„Kann nichts wichtiges sein“, behauptete er. Sie liefen den Weg zu den Parkplätzen, Sean sah sich aufmerksam um, die linke Hand in der Jackentasche.
„Geh endlich ans Telefon“, sagte er. Tommy nahm das Gespräch entgegen, ganz in der Erwartung, Joe würde ihm schlechte Nachrichten bringen.
„Stör ich dich gerade?“ Es war Lea, im Hintergrund schien jemand mit einem Löffel an einer Kaffeemaschine herumzuschlagen.
„Nein“, sagte er, hoffte, dass er sich nicht allzu erleichtert anhörte, „schieß los.“
„Würdest du heute den Einkauf übernehmen?“
„Mach ich direkt, wenn ich hier fertig bin.“
„Ich hab die Einkaufsliste zu Hause vergessen“, rief Lea, das metallische Schlagen wurde so laut, dass Tommy kurz das Mobile vom Ohr nahm, „du musst erst nach Hause und sie holen. Machst du das?“
„Das krieg ich gerade noch auf die Reihe“, sagte er, „und bei dir? Alles in Ordnung?“
„Frag nicht, eine der Maschinen ist schon wieder kaputt. Und ich kann mich nicht für die Farben entscheiden, die wir für die Markisen haben wollten.“
„Das ist klasse“, sagte Tommy. Sie war einen Moment stumm, fragte dann: „Ist alles in Ordnung bei dir? Du hörst dich an, als hättest du was auf den Kopf bekommen.“
„Ich kann nicht sprechen im Moment.“ Er wechselte das Mobil ans andere Ohr. „Ich komm nachher mal vorbei.“
„Ich freu mich“, rief sie.
Sean war einige Schritte weitergeschlendert, hob ein paar Blätter des bunten Laubs auf, wedelte sie hin und her, klemmte sie vorsichtig an den trockenen Stielen über seine Unterlagen.
„Wir sollten den Parkplatz reservieren, aber nicht sperren“, sagte er, „es könnte sonst zu viel Aufmerksamkeit erregen. Wenn irgendwo etwas gesperrt wird, kommen die Leute erst recht, um zu sehen, was los ist.“
„Wie viele Autos hab ihr?“
„Zwei“, sagte Sean, machte ein grunzendes Geräusch, „einen für Martin und einen für Caomhgin, mehr sind nicht nötig. Wir fahren bei ihnen mit, meist auf dem Beifahrersitz.“
„Com ist ganz schon alt geworden“, bemerkte Tommy, „ich hab ihn in den Nachrichten gesehen, wie er unter einem Regenschirm durch das Bild gelaufen ist.“
„Seine Glatze leuchtet selbst im Nebel noch hundert Meter weit.“ Sean nahm seine Brille ab, rieb die Gläser mit dem Ende seiner Krawatte sauber, sah sich aufmerksam um. Er machte nicht den Eindruck, als würde er wirklich die Brillengläser benötigen. Möglich, er trug sie nur, um seriöser auszusehen. „Selbst, wenn wir uns damals nicht immer einig waren“, begann er, „es tut gut, dich hier zu sehen. Ich weiß, dass du die Kampagnen immer unterstützt hast, mit allen Konsequenzen. Wie siehst du das heute, wo du draußen bist?“
„Hat sich nichts geändert. Es gibt nur niemanden mehr, mit dem ich darüber diskutieren könnte.“
„Wirst du dich morgen beteiligen?“ Sean grinste.
„Setz schnell die Gläser wieder auf, damit ich keinen kleinen Mann mit Brille schlage.“
Der Parkplatz der Lane Road, gegenüber dem Verwaltungsgebäude, das wegen seiner Lage Lane Hall hieß, war mit Laub bedeckt, in denen nur wenige Wagen ihre Spuren hinterlassen hatten. Wenn es regnete, verwandelte sich das Laub in einen rutschigen Untergrund, aber trotzdem war es für Pinheiro zu viel Arbeit, es jeden Tag aufs Neue zusammen zu fegen. Sean schlenderte durch das Laub, drehte sich zu Tommy herum.
„Wenn ich was für dich tun kann, sag es. Ich kann für dich irgendwas organisieren, hier oder in der Heimat. Was ist mit deiner Familie?“
Es war ein heikler Gedanke. Tommy hätte ihnen gerne gesagt, dass es ihm gut ging und sich wünschte, sie irgendwann einmal wieder sehen zu können, aber die Tatsache, dass er als tot erklärt worden war, stand dem im Wege. Er konnte nicht einfach Grüße ausrichten lassen und es dabei belassen; er würde sie zu Hause alle ins Chaos stürzen, selbst, wenn sie der Nachricht keinen Glauben schenkten. Nur zu wahrscheinlich war er bereits mehrfacher Onkel, vielleicht waren seine Geschwister längst ausgewandert. Thyra war nach Australien gegangen, Bronagh hatte so früh geheiratet, weil sie von einem anderen schwanger geworden war, was aus Gearóid geworden war, wusste er nicht. Aiofe, seine ältere Schwester, hatte einen Belgier geheiratet und ebenfalls Irland den Rücken gekehrt. Aber das alles ließ er besser im dunklen, deshalb schüttelte er den Kopf.
„Aber wenn du zu Hause den Boss siehst“, sagte er, „dann sag ihm, dass er doch recht hatte. Er ist den richtigen Weg gegangen.“

Sean McGinley war mit der kleinen Delegation in einem Hotel in Auburn abgestiegen, sagte zu Tommy, dass die Leute freundlich und die Zimmer wirklich nett seien, sie aber ein wenig Nachhilfe in Sachen Frühstück gebrauchen könnten.
„Das waren Kinderportionen.“ Mit einer Hand formte er die Größe des Essens nach, damit Tommy sich ein Bild davon machen konnte, von denen sie nicht satt geworden waren. „Alles Kalorienreduziert, ohne Fett und natürlich ohne Zucker. Heute Abend werde ich mal sehen, ob ich mit dem Küchendrachen ein Wort darüber sprechen kann.“
„Du wirst dir einen Vortrag über Cholesterin und ungesunde Ernährung anhören müssen.“
„Das übersteh ich schon.“
Sean strich das Laub auf seinem Klemmbrett glatt, darunter kamen seine hingeschmierten Notizen kaum noch zur Geltung, seinen Kugelschreiber steckte er sich in die Brusttasche des Hemdes.
„Mein Angebot steht noch“, sagte er, „wenn wir hier nächste Woche antanzen, werden die Jungs deine Hand schütteln, euch für die Mühe bedanken und wenn du deinen Akzent versteckst, wird niemand ein Wort darüber verlieren. Ich muss sie einweihen, damit es zu keiner Überraschung kommt, aber wir werden dich in Ruhe lassen. Ich arrangier ein Treffen mit Martin, wenn du willst, oder wir verschwinden nach den drei Stunden und du wirst nichts mehr von uns hören. Überleg’s dir.“
„Das tu ich.“
Tommy begleitete ihn zu seinem Wagen, den er auf dem großen Besucherparkplatz abgestellt hatte. Er war mit einem orangen Volkswagen gekommen, den er sicher nicht vom ortsansässigen Autoverleih hatte. Niemand würde Gebühren dafür bezahlen, ein uraltes Vehikel in dieser Farbe zu fahren. Sean schloss den Käfer auf, lachte über Tommys angewidertes Gesicht.
„Das hab ich mir nicht ausgedacht“, sagte er, „ich hab mir den von einer Hotelangestellten ausgeliehen. Das ging schneller, außerdem wollte ich keine Beule in die offiziellen Karossen fahren. Die Farbe ist der Brüller.“
Tommy machte eine Geste, über die er nicht näher nachdachte und die Sean sofort an Belfast erinnerte. Es zauberte ihm eine Gänsehaut auf die Arme. Ihm fielen schlagartig viele Dinge ein, die untrennbar mit Tommy zusammenhingen; Nächte mit ihm auf den Dächern; in Schießereien, bei denen er nur deshalb einen ruhigen Kopf behalten und ihnen alle den Arsch gerettet hatte, weil er stockbesoffen gewesen war; die Zeit nach Lough Fad, als er bei einem Tee mit ihnen im Pub saß; die erschreckende Erfahrung der Verhörabwehr, die er ihnen bereitet hatte. Allerdings war die Erinnerung an den privaten Tommy sehr viel deutlicher vor seinem inneren Auge. Tommy und Kieran, der eine mit der schwangeren Frau, der andere immer auf der Suche nach der nächsten Freundin. Tommy, der immer von der Sorte der heimlichen Beobachter war und bei Frauen lieber gar nichts sagte, als wie ein Idiot herumzustottern. Die Mädchen mochten ihn, weil sie sich in seiner Nähe sicher fühlen konnten, er brachte sie stets sicher nach Hause oder zur nächsten Party, bei der er selten lange blieb, weil laute Partys die RUC anlockten und er der RUC nicht zu nahe kommen durfte. Die kleine sagenhafte Geschichte von den fünf gebrochenen Fingern.
Falsche Farbe, dachte Tommy, es sei denn, man malt noch ein paar bunte Ornamente und Blumen drauf.
„Erzähl nicht zu viel“, sagte er. Sean stieg auf den Fahrersitz, warf den spuckenden Rasenmäher-Motor an, kurbelte das Fenster runter. „Mein kleines Problem bleibt unter uns, klar?“
„Dann bis nächsten Montag“, rief Sean.

Lea fluchte endlos über die kaputte Kaffeemaschine, redete sich gerade in Rage am Telefon, als Tommy hereinkam und seine Jacke an der Theke auszog. Stammgäste versuchten ihr die Arbeit etwas zu erleichtern, brachten ihre Tassen zurück an die Theke, bestanden nicht auf die Rückgabe des Wechselgeldes. Den Hörer des Telefons zwischen Schulter und Ohr geklemmt beschrieb Lea die Macke der Maschine, bekam auf ihre Frage, wann ein Techniker vorbeikommen könne, keine exakte Antwort, denn sie stellte diese Frage dreimal hintereinander.
Nagel ihn fest, dachte Tommy, räumte die Tassen an ihr vorbei in die Spülmaschine, mach ihn fertig. Wenn sie ihren Frust an dir direkt auslässt, muss ich dafür nicht herhalten heute Abend.
Er dachte an Joe Ford, der irgendwo in der Nähe auf der Lauer lag und Lea beschützte ohne dass sie davon etwas ahnte. Es durfte ruhig so weiterlaufen und wenn er Glück hatte, würde sie nie etwas davon erfahren, was er angeleiert hatte. Sie beendete das Gespräch mit einem „Ich verlasse mich darauf. Wenn die Maschine, die sie mir vor einem Jahr als wartungsfrei verkauft haben, danach endlich das macht, was in ihrer Produktbeschreibung steht, nämlich Kaffee kochen, dann lad ich sie persönlich auf eine Tasse ein. In Ordnung. Ich verlass mich drauf.“ Sie drehte auf dem Absatz und sagte: „Hallo Großer.“
„Soll ich dir helfen? So wie’s aussieht, hast du keine Zeit zum quatschen.“
„Du setzt dich wieder hin und trinkst einen Kaffee mit mir. Der Ansturm lässt bald nach und dann hab ich auch Zeit für dich.“
Gewöhnlich wurde es am frühen Nachmittag ruhig im Café, bis die Studenten und die übliche Laufkundschaft zum Abend noch einmal hereinschauten. Tommy dachte an die nächste Woche, ob es klug war, sich darauf einzulassen, aber im Grunde war er viel zu neugierig auf Martin und Com, um nicht daran teilzunehmen. Es genügte ihm, sie aus der Ferne zu sehen und sich anzuhören, was sie zu sagen hatten. Es konnte eigentlich gar nichts passieren – Sean und er würden dafür sorgen, dass alles im Rahmen blieb und niemand würde eine Verbindung herstellen.
Wenn alles so perfekt lief, wie er sich das erhoffte, bestand vielleicht sogar die Möglichkeit, Sean doch noch um einen Gefallen zu bitten.
„Vorhin war David hier.“ Lea machte ein Handzeichen über ihrem Kopf in Richtung des Pärchens am vorderen Tisch, worauf das Mädchen zwei Finger in die Höhe hob. Lea trug zwei Kaffee zu ihnen hinüber.
„Er hat vor, das College zu wechseln, hat er dir das erzählt? Ich werde ihn nicht gerade vermissen, aber es ist trotzdem schade. Lange war er nicht am Bates.“
Er sollte sofort verschwinden, dachte Tommy, schließlich war er nur wegen mir hier. Und je eher er weg ist, desto besser. In die kommenden Schwierigkeiten muss er nicht auch noch rein gezogen werden. Hoffentlich ist er auch schlau genug, nicht zu der Diskussionsrunde zu erscheinen.
„Viele Studenten wechseln“, sagte er, „David wird überall zurechtkommen.“
„Kein Zweifel.“ Ihr skeptischer Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig, als ihr einfiel, dass sie Tommy von einem Telefongespräch am Vormittag erzählen wollte. „Du glaubst nicht...“ begann sie, aber sie brauchte Tommy nur flüchtig anzusehen, um das zu sehen, was ihr bei dem kurzen Telefonanruf wegen der Einkäufe entgangen war – Tommy war nicht bei der Sache.
Sie wollte erzählen, dass ihr Vater sich bei ihrer Mutter beschwert hatte. Natürlich über das unmögliche Benehmen seiner Tochter. Seltsamerweise hatte er sich nicht darüber ausgelassen, dass sie ihm direkt gegenüber unverschämt gekommen war, sondern er hatte behauptet, sie hätte Suzi unter Druck gesetzt. Unter Druck gesetzt? Roberta konnte es sich auch nicht erklären, hatte ihrem Ex durchs Telefon geraten, erst einmal seinen Rausch auszuschlafen und es sich danach noch einmal zu überlegen, welche Beschuldigungen er losließ.
Sie könnte Tommy davon erzählen, aber sie sah ihm an, dass er nicht aufnahmefähig war; er starrte durch sie hindurch, als sie ihm die Kaffeetasse entgegenschob. Diese nahm er, ohne hinzusehen, hob sie so langsam an den Mund, als sei er in Trance, als sei sein Gehirn so mit etwas beschäftigt, dass sein Körper alle anderen Funktionen vorübergehend reduziert hatte.
„Tommy?“ flüsterte sie, halb lachend und halb beunruhigt, „würdest du mich auf der Stelle durchnageln?“
Er blinzelte, sah sie endlich richtig an, senkte die Tasse wieder.
„Was?“
„Ich wollte nur sehen, ob du mir zuhörst.“
Tommy hätte den Nachmittag ohne Gewissensbisse in Leas Café verbracht, ganz in Gedanken versunken, wie die Dinge sich entwickelten und ob er etwas unternehmen sollte. Es reizte ihn, Kontakt zu den alten Freunden herzustellen, mit ihnen zu reden, Neuigkeiten von ihnen zu hören. Auf der anderen Seite – wenn er es sich noch mal durch den Kopf gehen ließ – es würde darauf hinauslaufen, dass sie über alte Geschichten und tote Männer sprachen, in dem alten üblen Dreck wühlten, den Tommy zu vergessen versuchte. Es war keine gute Idee.
„Ich hör dir zu“, sagte er und gab sich Mühe, der Erzählung zu folgen, bis seine Aufmerksamkeit von einer Bewegung auf der Straße gefesselt wurde. Zunächst sah er nur die Uniform, ein Mann in schneller Bewegung quer über die Straße kommend. Dann erst sah er, dass es Douglas war, der es so eilig hatte. Er folgte ihm mit seinen Blicken, drehte sich dann zur anderen Richtung herum, als er zur Tür hereinkam. Irgendetwas musste passiert sein – er war wütend bis in die Haarspitzen.
„Wie konntest du das tun?“ herrschte er durch das Café, in Tommys Richtung, der automatisch zurückzuckte, aber keine Ahnung hatte, wovon Douglas sprach. Von dem, was er getan hatte, konnte Douglas nichts wissen.
Die wenigen Gäste im Café, die vom Mittagsansturm übrig geblieben waren, wagten ihn nicht direkt anzusehen, schließlich war er ein Cop – und einen wütenden Cop auf kurzer Distanz anzustarren mochte keine gute Idee sein. Trotzdem verfolgten sie alle die sich ankündigende Szene – ebenso wie Lea, die hinter der Theke an die Seite trat, das Kinn in die Handfläche stützte und nicht wirklich wusste, wie sie das ganze einzuschätzen hatte.
Sie hatte Douglas nur selten unbeherrscht gesehen, selbst wenn er deutlich wütend gewesen war, hatte er sich immer im Griff gehabt. Nun schien er nicht mehr weit von einem Ausraster entfernt zu sein.
„Lass uns draußen eine Runde drehen“, sagte Tommy, die rechte Hand auf den Rücken gelegt, die andere deutete Richtung Tür, vor der Douglas stehen geblieben war.
„Du willst wohl verhindern, dass irgendjemand mitkriegt, was du mir angetan hast. Du kannst nicht leugnen, dass du in Old Orchard Beach warst, oder? Würdest du es leugnen?“
„Ich sage gar nichts, bevor du mir nicht erklärt hast, was dir über die Leber gelaufen ist.“
„Du warst in Old Orchard Beach.”
“Ja, shoot, war ich. Und?”
„Und? Ist es nicht seltsam, dass mein Dad seinen alten Hintern nach Lewiston schwingt, kaum, dass du in Old Orchard Beach gewesen bist?“
Tommy machte eine Bewegung mit der Schulter, eine Hand noch immer auf dem Rücken.
„Komm schon“, schrie Douglas entrüstet, „du hast ihm doch den Floh ins Ohr gesetzt, dass er mal nach seinem Sohn sehen soll, oder? Warum sollte er sonst ständig hier herumhängen wie ein verdammter Schnüffler und mich beobachten?“
„Hat er sich mit dir unterhalten?“
„Ich bin ihm aus dem Weg gegangen.“ Endlich wurde Douglas’ Stimme etwas gedämpfter und Tommy schaffte es, ihn Richtung Tür zu dirigieren, indem er auf ihn zuging und ihn zurückweichen ließ. „Wir reden schon seit Jahren nicht mehr wirklich miteinander.“
„Er beobachtet nicht dich“, sagte Tommy, war sich sehr deutlich der Augen- und Ohrenzeugen bewusst, „aber das sollten wir unter vier Augen besprechen.“
„Er taucht nicht ohne Grund ständig in meiner Nähe auf. Die einzige Erklärung ist, dass du“, er stach mit dem Zeigefinger in Tommys Richtung, „ihm etwas von meinen häuslichen Schwierigkeiten erzählt hast, weil du dachtest, ich könnte Hilfe von ihm brauchen. Wie habt ihr euch das vorgestellt? Er läuft mir hier ab und zu über den Weg und dann regelt sich der Rest von allein?“
Tommy schob Douglas zur Tür hinaus, drehte sich zu Lea herum, machte eine beruhigende Handbewegung, die in einer komischen Geste endete. Sie nickte grinsend, davon überzeugt, dass sich das ganze als Irrtum herausstellen würde. Sie machte sich keine großen Gedanken deswegen. Douglas war noch immer angeschlagen wegen seiner Trennung und irgend etwas war aus ihm herausgebrochen.
„Douglas, ich erklär dir die Sache und du wirst mir ganz in Ruhe zuhören, Okay? Das ganze hat nichts mit dir zu tun.“
„Mal sehen.“
Douglas stand noch immer unter Strom und Tommy bezweifelte, dass er in diesem Zustand überhaupt zuhören konnte.
„Ich stecke in Schwierigkeiten“, sagte er betont, legte sich dabei die flache Hand auf die Brust, „und nur deshalb taucht dein Dad hier auf. Ich hab ihn engagiert, damit er ein Auge auf Lea und auf das Café hat.“
„Wenn du in Schwierigkeiten bist, weshalb kommst du dann nicht zu mir?“
„Dir wären die Hände gebunden.“
„Blödsinn. Was immer es ist...“
„Ich kann keine Cops in diese Sache gebrauchen. Tut mir leid, Douglas. Deshalb hab ich deinen Dad angeheuert. Es war dummer Zufall, dass du gedacht hast, er wäre wegen dir in Lewiston.“
Verdammt sollte er sein, wenn er auch nur einen blassen Schimmer davon hatte, wovon Douglas sprach und was ihn so wütend gemacht hatte.
Reiß dich zusammen, dachte Tommy, bring niemanden auf komische Ideen.
Das letzte Mal, als er Douglas so hilflos wütend gesehen hatte, hatten sie an einem Abend zusammen gesessen und Douglas hatte von einem grässlichen Verkehrsunfall erzählt, der während seiner Schicht gesehen war. Ein Holztruck hatte einen vor sich fahrenden Familien PKW wie eine Ziehharmonika zusammengedrückt, ein erschreckend kleines Knäuel Blech, Stahl und Polstersitze hinterlassen. Eine dreiköpfige Familie aus Vermont war dabei umgekommen und der Fahrer des Lastwagens, kaum einundzwanzig, mit farblosem langen Haar und zitternden Fingern, hatte nur noch auf den Schaden gestarrt, den er angerichtet hatte. Nach dem Telefonat mit seinem Chef hatte Chief Blake Douglas beiseite gezogen und gemurmelt (obwohl murmeln sonst nicht seine Art war), er solle den Jungen im Auge behalten, damit er nicht auf dumme Ideen käme. Douglas hatte zunächst verstanden, er solle eine Flucht unterbinden, aber Blake knurrte auf seine Nachfrage: „Ich hab ihn gerade mit seinem Boss in Mechanic Falls telefonieren lassen. Dieses Arschloch hat gefragt, ob der Truck und die Ladung in Ordnung seien. Auf ‚da sind drei Tote in dem anderen Wagen’ hat er nicht mal reagiert und dann noch gesagt, er wird ihm den Tag vom Gehalt abziehen, wenn er nicht schnell in die Firma zurückkommt. Ich befürchte, der schmeißt sich von der nächsten Brücke.“
Das Verhalten dieses Mannes, der mit seinem Hintern irgendwo im Büro seines Sägewerkes saß, hatte Douglas an diesem Abend dazu gebracht, mal wieder mehr zu trinken als ihm gut tat. Und zusätzlich hatte er noch das Hirngespinst entwickelt, zu diesem Kerl nach Hause zu fahren und ihm mitten in der Nacht die Nachricht zu überbringen, seine Familie sei soeben tödlich verunglückt.
„Du weißt doch gar nicht, ob der Mann Familie hat.“
„Irgendjemanden hat er. Und das krieg ich raus.“
Dieser Plan kam dann doch nicht zur Verwirklichung, weil Douglas beinahe in ein Saufkoma fiel und sich an nichts mehr erinnern konnte, als er morgens aufwachte. Den Fahrer des Holztrucks traf keine Schuld am Unfall, wie sich später herausstellte, der Truck mit den defekten Bremsen und abgefahrenen Reifen war hoffnungslos überladen gewesen mit den Baumstämmen aus dem nördlichen Maine.
Douglas tat mit einem furchtbar falschen Gesicht auf verständnisvoll, dass Tommy vermutete, er könnte getrunken haben.
„Erzähl mir doch nicht, dass du irgendwelchen Ärger hast, bei dem mein Vater, ausgerechnet mein Vater, dir helfen könnte. Die meiste Zeit fängt er entflogene Papageien ein, verdammt noch mal.“
„Bist du im Dienst, Doug?“
Natürlich war er es; er trug seine gebügelte Uniform, mit den Handschellen und der Dienstwaffe am breiten Gürtel. Doug zuckte fragend den Kopf zur Seite.
„Ich dachte nur, du könntest getankt haben. Das solltest du während deiner Dienstzeit nicht tun.“
„Ich habe nicht getrunken.“
Sie befanden sich mittlerweile in der Oak Street, in der entgegengesetzten Richtung zum College, genau auf der Höhe, wo der Wagen des alten Hank vor zwei Wochen Feuer gefangen hatte. Spontane Selbstentzündung und daraus resultierende nicht enden wollende Aufregung, obwohl Hank rechtzeitig aus seinem Wagen rausgekommen und die Feuerwehr sofort zur Stelle gewesen war; die schwarzen Brand- und Rußflecken waren noch immer auf dem Asphalt zu sehen. Irgendjemand aus der Nachbarschaft hatte behauptet, er hätte es selbst vorsätzlich verursacht, um die Versicherung zu betrügen, dabei lief der Wagen schon seit den späten Siebzigern nur noch mit Gottes Hilfe, und Hank hatte alles daran gesetzt, dieses wilde Gerücht auch zu unterstützen – während sein Wagen in ölig-schwarzem Qualm ausbrannte, war er wie ein Derwisch herumgesprungen und hatte gebrüllt: ‚Brenn doch, du Schlampe, brenn doch!’
Tommy starrte auf den Fleck auf dem Asphalt, hatte dabei eine andere Erinnerung im Kopf als vermutlich Douglas – er dachte an Semtex, an Feuerstarter und an die Erschütterung der Explosion, die sich in den belebten engen Straßen fortsetzte.
„Wie kommst du darauf, dass ich getrunken hab?“
Er brauchte eine Sekunde, um wieder in die Gegenwart zurückzukehren, sah Douglas stirnrunzelnd an.
„Was glaubst du wohl? Du benimmst dich wie ein Idiot, Doug. Dein Dad macht sich Sorgen um dich, aber das heißt nicht, dass wir etwas hinter deinem Rücken durchziehen.“
„Jetzt sag mir nur noch, du lässt Lea überwachen, weil sie dir fremd geht.“
„Ich kann dir nicht sagen, was es ist, aber das ist es nicht.“
„Wenn es was ernstes ist, solltest du es mir sagen.“ Douglas war von dem Trichter runter, dass es etwas mit ihm zu tun haben könnte, allerdings wollte er jetzt genau wissen, was los war.
„Es geht dich nichts an“, sagte Tommy, machte einen Schritt zur Seite, ohne auf die letzten Ränder des Brandfleckes zu treten, der sich bis auf den Bürgersteig ausgebreitet hatte.
„Ich bin Polizist, Tommy. Es geht mich alles was an.“
„Das hier nicht, glaub mir.“
„Wenn es zu privat ist, kannst du es mir sagen, du musst nicht so tun, als wärst du in eine internationale Verschwörung verstrickt.“
„Okay“, antwortete Tommy gedehnt, erweckte bei Douglas den Eindruck, als habe er ins Schwarze getroffen.
Vielleicht komm ich so aus der Sache raus, dachte Tommy. Möglicherweise lässt Douglas sich ablenken, wenn ich ihm das erzähle, was er hören will.
Sie standen neben einem Brandfleck auf der Straße, es war ungemütlich kalt, obwohl die Sonne ab und zu durch die Wolken brach und alle anderen Passanten es sehr eilig hatten, nach Hause zu kommen. Es war einfach, Douglas etwas zu erzählen, was sich plausibel in den Andeutungen anhörte und Freiraum für eigene Interpretationen ließ, das war nicht das Problem. Das eigentliche Problem daran war, dass Doug seinen Vater anrufen und ihn darüber ausquetschen könnte und Joe würde hoffentlich nichts sagen, was diese Geschichte wieder als Lüge entlarven würde.
„Du wirst Lea nicht darauf ansprechen, und wenn sie dich fragt, was los war, wiegelst du ab, verstanden? Ich werde ihr sagen, was passiert ist, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist.“
Und er setzte hinzu: „Gut, dass du deinem Dad damit noch nicht in den Ohren gelegen hast. Der hätte gedacht, er hätte einen reichlich schrägen Sohn in die Welt gesetzt.“

Er erzählte Lea am Abend, als sie im Supermarkt die letzten Einkäufe machten, dass er wegen der Veranstaltung im Bates vermutlich ein paar Überstunden machen würde.
„Wer hat sich denn angekündigt?“ fragte Lea, tippte mit dem rechten Zeigefinger die Reihe italienischer Nudeln entlang, bis sie die richtige Packung gefunden hatte.
„Politiker auf Promotiontour in eigener Sache“, murmelte er. Vor seinem inneren Auge erschien Martins Gesicht so deutlich, als wäre er unmittelbar in der Gangreihe des Supermarktes aufgetaucht, und er dachte, wie glücklich er wäre, wenn es irgendjemand anderes wäre, der sich um diese verdammte Sache kümmern würde. Martins Gesicht stand bewegungslos vor ihm, das Abbild einer alten Erinnerung, die er zu unterdrücken versuchte und es nicht schaffte. Es war schon heikel genug, dass er mit Sean zusammenarbeiten musste, um für die Sicherheit der irischen Männer zu sorgen; da konnte er es überhaupt nicht gebrauchen, dass Douglas ihm auf die Nerven ging.
„Die Flakes sind im Angebot“, sagte Lea, „sollen wir zwei Packungen mitnehmen?“
„In Ordnung“, antwortete er, so abwesend, dass seine Antwort auf jede Frage gepasst hätte. Lea warf ihm einen kurzen Seitenblick zu, sagte im selben Cornflakes-Ton: „Es ist gar kein Wahlkampfjahr, was machen die denn auf Collegetour?“
Darauf wollte Tommy nicht antworten und er hätte sich erfolgreich vor einer Erklärung gedrückt, hätte Lea ihn nicht in den nächsten Gang geschickt, um ein paar Campbells Dosensuppen zu holen, die sie Andy-Warhol-Suppen nannte. Erst an der Kasse kam sie auf das Thema zurück.
„Wie lange wird sich das hinziehen? Ich erinnere mich gerade an diese überflüssigen morgendlichen Überstunden, die sie dir aufs Auge gedrückt haben, damit du dieses Sicherheitssystem durchtestest, was dann letztendlich zu teuer gewesen ist.“
„Immerhin waren sie gut bezahlt.“
„Aber ich mag es nicht, wenn du so lange arbeiten musst.“
„Wird nicht länger dauern als einen oder zwei Tage.“
Mit den Einkäufen für eine Woche und etwas Vorrat für länger rollte Tommy den Einkaufswagen über den Parkplatz, knapp gefolgt von Lea, die noch den Kassenbon kontrollierte und kaum hinsah, ob sie ihm zum richtigen Wagen folgte, dachte Tommy, dass der einigermaßen freundliche Herbst wohl endgültig vorbei war. Die Luft war eisig, obwohl noch immer die Sonne schien und es auch noch nicht nach Winter aussah, aber er spürte es in den Knochen. Die angenehme Zeit war vorbei. Er gab sich Mühe, sich auf den Feierabendverkehr zu konzentrieren, was allerdings nicht einfach war, denn Lea plapperte ohne Ende und seine eigenen Gedanken drehten sich in einer Endlosschleife um Martin und Seamus und die anderen.
Das und die tiefstehende blendende Sonne führten dazu, dass er den Wagen, der von der linken Seite aus einer Seitenstraße kam, erst bemerkte, als Lea scharf die Luft einzog. Er bremste so abrupt, dass die Lebensmittel im hinteren Teil des Wagens nach vorn geschleudert wurden und dem Geräusch nach zu urteilen ging dabei mindestens eines der Gläser zu Bruch. Der Wagen schleuderte kurz zur Seite, kam am Straßengraben zum stehen und Tommy würgte den Motor ab, ohne dass er es wirklich bemerkte. Das Blut rauschte durch seinen Schädel, scheinbar so dickflüssig wie Ketchup und während der ersten Sekunden konnte er nichts anderen hören als das pochende Rauschen. Er konnte nicht sagen, ob Lea ihn ansprach. Mühsam drehte er den Kopf nach links und erkannte, dass der andere Wagen, den er übersehen hatte, ein knallroter alter Chevy war, und jetzt mit der Schnauze voran im Straßengraben steckte. Noch war niemand ausgestiegen, aber er glaubte den Wagen zu erkennen. Jetzt konnte er sich langsam darauf vorbereiten, der hochheiligen Gattin des Bürgermeisters zu erklären, weshalb er ihr die Vorfahrt genommen hatte.
„Tommy?“ kam es von seiner anderen Seite und ihm fiel wieder ein, dass er nicht allein im Wagen saß, sah Lea fast erstaunt an. Er konnte nicht ganz begreifen, was passiert war.
„Bist du in Ordnung?“ fragte sie, „du fühlst dich doch gut, oder? Ich dachte, du hättest am Steuer einen Herzinfarkt bekommen oder so was.“
„Nein“, sagte er. Er meinte den Herzinfarkt, konnte es aber auch auf die Frage beziehen, ob es ihm gut ginge. Nein, er fühlte sich nicht gut, ganz und gar nicht. Der scharfe Geruch von Essig zog durch den Cherokee, ein kleiner Beweis dafür, dass die eingelegten Mixed Pickles zu Bruch gegangen waren. Lea erwartete, Tommy würde sich nach ihr erkundigen, ob sie sich weh getan hatte, aber er stieg ohne ein weiteres Wort aus und ging zu dem anderen Wagen hinüber. Er hinkte ein wenig. Lea beobachtete ihn in einer sich steigernden inneren Anspannung, hatte vor ihrem inneren Auge, wie Tommy den Fahrer des anderen Wagens am Kragen vom Sitz zerrte, um dann etwas noch dümmeres zu tun – aber alles, was sie beobachtete, war so normal, dass sie sich eigentlich keine Sorgen zu machen brauchte und trotzdem hatte sie ein ungutes Gefühl. Tommy half der Frau sehr vorsichtig beim Aussteigen und Lea erkannte Mrs. Brenda Jenkins, die Frau des Bürgermeisters, er hielt sie am Ellebogen, bis er sicher war, dass sie sicher auf ihren Beinen stehen konnte. Sie wechselten ein paar Worte, Tommy zu ihr heruntergebeugt und den Kopf zur Seite gelegt, denn Mrs. Jenkins war eine relativ kleine, kräftig gebaute Frau, die unifarbene Kostüme und bunte Halstücher bevorzugte. Lea beobachtete sie, bis der Essiggeruch sie schließlich aus dem Wagen trieb. Der Wind war eisig und erinnerte sie daran, dass das Wetter bald umschlagen würde. Hatten sie so etwas schon in der Wettervorhersage erwähnt? Sie konnte sich nicht erinnern.
„Es war die Sonne“, sagte Tommy, „die tiefstehende Sonne hat mich geblendet, ich konnte überhaupt nichts mehr sehen. Es tut mir furchtbar leid, Mrs. Jenkins.“
Zunächst sagte sie nichts; sie starrte an Tommy vorbei auf die Straße, dann machte sie sich mit einem undeutlichen Geräusch von Tommys Hand los, zog den Ellebogen bis auf die Höhe ihres Kopfes zurück.
„Das sollte ihnen auch leid tun. Das sollte es. Ich werde die Polizei rufen, denen werde ich erzählen, dass sie mich von der Straße gedrängt haben. Ich hätte tot sein können.“
„Oh bitte“, sagte Lea, kam über die Straße auf die beiden zu, die Arme vor der Brust verschränkt vor Kälte. Im aufgeheizten Wagen hatte sie sich die Jacke ausgezogen. Sie kannte Mrs. Jenkins nur vom sehen und aus den Zeitungsartikeln des Sun Journals, wenn sie mal wieder ein neues Gebäude eröffnet oder eine Spende übergeben hatte. Diese ärgerlichen peinlichen Fotos mit den überdimensionalen Scheck-Kopien, alle Anwesenden mit einem identischen Lächeln auf den Gesichtern. ‚Mit diesem Baustellenschild von Scheck kommen wir uns so albern vor wie sonntagsmäßig ausstaffierte Schulkinder unter einem Haufen gleichaltriger Rowdys am ersten Schultag’, scheinen diese Gesichter zu denken. Jetzt allerdings war Mrs. Jenkins nicht in Schecklaune und Tommy schien das nicht wirklich zu bemerken. Er erklärte noch immer im Plauderton, und als ginge es nur um eine nebensächliche Kleinigkeit, wie es zu dem Unfall gekommen war. Hätte Lea ihn nicht so gut gekannt, hätte sie ihn nicht schon in einigen Stress-Situationen erlebt, hätte sie ihn für verrückt erklärt und sich gefragt, mit was für einer Lusche sie Tisch und Bett teilte. Aber sie wusste, dass es bei ihm eine Sache von Disziplin war, in solchen Situationen ruhig zu bleiben. Etwas, was ihr im Moment total abging. Sie konnte sich nicht erinnern, in letzter Zeit so schnell so wütend geworden zu sein, obwohl es nicht einmal ihr Ding war. Sie fühlte sich persönlich angegriffen und ging zwischen die beiden, nicht um Frieden zu stiften, sondern weil sie die Anschuldigungen von Mrs. Jenkins nicht auf sich sitzen lassen konnte.
Lea begann eine ungemein hitzige Diskussion mit der Jenkins, in deren Verlauf Tommy einen leichten Anflug von Panik verspürte. Es konnte nicht gut sein, sich dermaßen mit einer fremden Person anzulegen, das erregte Aufmerksamkeit bei den falschen Stellen. Seit er aus Irland weg war, hatte er sich das stets freundliche Wesen angeeignet, um möglichst nicht aufzufallen. Nichts konnte fataler sein, als bei einer Diskussion auf offener Straße (und sie würden an dieser Ecke nicht lange allein bleiben) die Aufmerksamkeit zu erregen. Selbst, wenn er im Recht war, was diesmal nicht der Fall war, musste er die Maske aufrecht erhalten. In der Vergangenheit war es ihm einige Male nicht gelungen, seine Wut zu zügeln, aber in den meisten Fällen schon. Er wartete mit angespannten Nerven darauf, eine passende Sekunde in Leas verbalem Ausbruch zu finden, um sie zu stoppen.
„Es war ein Unfall“, zeterte sie, eine Hand zur Faust geballt und in die Seite gestemmt, „das ist überhaupt nicht der Zeitpunkt für alberne Schuldzuweisungen. Vielleicht sind sie ja auch zu schnell gefahren.“
„Genau das ist eine Schuldzuweisung. Ich hatte Vorfahrt. Mich trifft überhaupt keine Schuld.“
„Das sollten wir klären, wenn die Cops hier sind. Dann können sie auch gerne wiederholen, was sie da eben vom Stapel gelassen haben, Mrs. Jenkins.“
Wo hat sie das mit der Faust her? überlegte Tommy, hat sie das aus irgendeinem Indianerfilm? Solche Posen sehen ihr gar nicht ähnlich.
Und dann begriff er erst, was sie gesagt hatte. Cops. Natürlich würde die Lewiston-Truppe anrücken, zwei Mann mindestens, je nach dem, wer gerade mit seinem Wagen in der Nähe war. In diesem Bezirk gab es einige Riesenarschlöcher, von Chief Blake ganz zu schweigen. Wenn er Pech hatte, tauchten die auf, begannen Fragen zu stellen, die mit dem Unfall nichts zu tun hatten. Alkoholprobe war nicht das Problem, keineswegs, wohl aber eine genauere Überprüfung seiner Papiere. Seiner Papiere und Daten vor seiner Einwanderung. Das war immer etwas, was ihm auf der Seele lag. Inzwischen war Mrs. Jenkins hochrot angelaufen, fingerte unentwegt an ihrem Schal herum und versuchte sich zu entscheiden, wen von beiden sie fixieren sollte – Lea oder Tommy. Ihr Blick blieb an ihm hängen, als er ohne jede Betonung sagte: „Setz dich zurück in den Wagen, Lea.“
„Wo kommen wir denn...“
„Lea“, wiederholte er, berührte ihren Nacken mit der linken Hand, „in den Wagen.“
Es drang endlich zu ihr durch, dass er ihr einen Befehl erteilt hatte, er würde darüber nicht diskutieren, keine Widerworte, keine Ausflüchte. Sie warf ihm nur einen Seitenblick zu, drehte sich um und ging Richtung Cherokee zurück. Für den Moment war das erledigt, aber spätestens zu Hause, so bald die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war, würde dieser Punkt auf der Tagesordnung stehen.
„Verzeihen sie“, sagte Tommy, „es gab keinen Grund, so heftig zu werden. Ich werde den Unfall jetzt melden, wenn es ihnen recht ist. Möchten sie ihren Mann anrufen und bescheid sagen?“
Damit war sie die nächsten fünfzehn Minuten gut beschäftigt, Tommy setzte sich an den Straßenrand, auf einen liegengelassenen Baumstamm, der bis auf die angrenzende Rinderweide lag, und sprach mit Heather Cushman aus der Telefonzentrale. Sie war in Plauderstimmung, als er sich meldete, vermutlich dachte sie, er würde sich zu Douglas durchstellen lassen wollen, aber als er in einem knappen Satz von dem Unfall berichtete und um einen Streifenwagen bat, schlug sie sofort den geschäftlichen Ton an. Sie wollte wissen, ob jemand verletzt sei, wo genau der Unfall stattgefunden hatte und Tommy wusste, dass jetzt alles seinen offiziellen Gang lief – ob zum guten oder zum schlechten. Er beendete das Gespräch und wartete auf das sich nähernde Heulen der Polizeisirene. Lea strafte ihn mit Missachtung und erst da begann er zu begreifen, dass er sie wohl doch etwas zu hart angegangen war. Darüber musste er sich später Gedanken machen, zunächst einmal musste er dafür sorgen, dass aus diesem dummen Unfall nicht mehr wurde.
Es war einfach, zunächst die noch immer aufgebrachte Mrs. Jenkins reden zu lassen, die hauptsächlich betonte, dass sie keine Schuld traf und ihr Mann hatte angekündigt, sie so schnell wie möglich abholen zu lassen, weil sie nach diesem Schrecken so schnell wie möglich nach Hause wollte. Eddie, der die Protokollaufnahme machte, dabei beim notieren nicht einmal auf den Block sehen musste, war ein netter Kerl, der auch nach einer Doppelschicht die Ruhe hatte, sich die Geschichten von vorne bis hinten anzuhören. Als er sich an Tommy wandte, um sich seine Version anzuhören, machte er eine Kopfbewegung zu Mrs. Jenkins Wagen hinüber, grinste dabei.
„Ist es so gewesen? Hast du noch irgendwas hinzuzufügen?“
„Ich war einen Moment abgelenkt und dann hat mich auch noch die Sonne geblendet. Wir hatten keinen Streit oder so was während der Fahrt, ich war einfach nur im falschen Moment mit den Gedanken woanders.“
„Hast du was gegen eine Alkoholkontrolle einzuwenden?“
„Du kennst mich, kein Problem damit.“
Von ihrem Platz aus beobachtete Lea, wie Tommy die motorischen Überprüfungen absolvierte und Eddie etwas in seinem Notizbuch krickelte. Er machte ein paar Fotos von den Wagen, von den Bremsspuren auf dem Asphalt, schrieb die nachgemessenen Abstände auf. Sie dachte nicht daran, auszusteigen und sich wieder einzumischen, egal, was Eddie davon halten mochte, dass sie sich raushielt. Nachdem alles aufgenommen war, setzte Eddie sich in den Streifenwagen funkte zur Zentrale und ließ sich zu Chief Blake verbinden.
„Nein“, sagte er, „nur ein leichter Blechschaden. Vermutlich können wir den Wagen mit dem Cherokee und einem Abschleppseil aus dem Graben ziehen. Ich sorge dafür, dass er in der Werkstatt durchgecheckt wird. Ihr geht’s soweit gut, das ganze wird nur ihren Tagesablauf durcheinander gebracht haben. Ihr Mann holt sie ab. Tommy ist weder betrunken noch übermüdet gewesen. Er hat einfach den anderen Wagen übersehen.“
Er machte eine Pause, runzelte die Stirn und wandte sich dem Wageninneren zu, um seine Stimme nicht zu den anderen dringen zu lassen. Tommy stand mit den Händen in den Hosentaschen mitten auf der Straße, als warte er wie ein Anhalter auf das nächste Fahrzeug. Chief Blake sagte, er wolle ihn im Revier sehen und eine Blutuntersuchung machen lassen. Er glaube nicht daran, dass kein Alkohol im Spiel gewesen sei.
„Ich glaube nicht, dass es nötig ist“, sagte Eddie und bekam über Funk die herrische Antwort, dass er besser wissen müsste, was nötig war und was nicht.
„Okay“, sagte Eddie. Im Wagen sitzend wartete er einen Moment, starrte auf das Funkgerät und versuchte sich einen Reim darauf zu machen. Vermutlich war der Grund dahinter nur eine alberne Abneigung gegenüber Tommy und er wollte ihm auf dem Revier den Marsch blasen. So etwas in der Art. Eddie wollte es nicht als seine Idee verkaufen, einen Besuch auf dem Revier anzutreten, wollte sich aber auch nicht als Befehlsempfänger seines Bosses outen und haderte einen Moment mit sich, was er tun sollte. Aus seiner Sicht war es ein simpler, glimpflich verlaufener Unfall, mehr nicht. Nur, weil er wusste, dass Tommy keine Schwierigkeiten machen würde, ging er die Sache ganz gelassen an. Er stieg aus, ordnete seine Jacke und blieb neben Tommy stehen.
„Ist alles geregelt“, sagte er, „du müsstest nur noch einmal mit aufs Revier kommen wegen der Alkoholprobe und dem Protokoll. Zur Unterschrift.“
„Okay“, sagte Tommy, „kann Lea nach Hause fahren? Wer weiß, wie lange das dauert.“
Ahnt er etwas? dachte Eddie, etwas verwundert darüber, dass es so einfach erschien.
„Klar kann sie fahren. Sie wird ja wohl nicht ihre Koffer packen und aus der Stadt verschwinden.“
Eddie wollte nicht wissen, weshalb Lea im Auto saß, deutlich schmollte und nicht einmal Hallo gesagt hatte; es war einiges, was er einfach kommentarlos hinnahm.
„Nein, wird sie nicht“, sagte Tommy, „bringen wir’s hinter uns.“
Sie zogen den roten Wagen aus dem Straßengraben, ließen den Motor laufen zur Probe und als der Chauffeur von Mr. Jenkins kam, um Mrs. Jenkins abzuholen, rief Eddie bei der nächsten Autowerkstatt an, um den Wagen zur Überprüfung abholen zu lassen. Währenddessen hockte Tommy sich vor die geöffnete Tür des Cherokees, wo Lea hinter dem Steuer saß und den Kopf schief gelegt hatte.
„Ich fahr mit Eddie ins Revier, ich hoffe, es wird nicht zu lange dauern.“
„Soll ich nicht mitkommen?“ Ihrem Ton war nicht zu entnehmen, dass sie wütend war, aber ihrem Gesicht war es anzusehen.
„Fahr besser nach Hause.“
„Wieso willst du mich nicht dabei haben?“
Das kann ich dir nicht beantworten, beim besten Willen nicht. Genau so ein Gesicht machte er, und was er gleichzeitig sagte, konnte nur eine Lüge sein, obwohl es sich nett anhörte.
„Du hattest einen harten Tag, Lea, und wenn Eddie eine Zeugenaussage noch braucht, machen wir das morgen. Fahr nach Hause und mach dir keine Sorgen.“
Sie würde sich Sorgen machen und vermutlich war es keine gute Idee, sie allein fahren zu lassen, aber selbst das war besser als die Alternative. Sie konnte einfach nicht dabei sitzen, wenn sie ihm seltsame Fragen stellten, auf die er keine Antworten hatte. Oder noch schlimmer – wenn er die Fragen beantwortete und sie nicht mit diesen Antworten leben konnte. Er sah dem Cherokee nach, mit dem Gefühl, dass er sie vielleicht nicht wieder sehen würde. Innerlich bereitete er sich auf das Schlimmste vor.
„Hey“, sagte Eddie, „kommst du? Machen wir uns auf die Socken.“
„Ich mach mir keine Sorgen wegen des Alkoholtests“, bemerkte Tommy und zuckte mit den Schultern, „aber ich kann mir schon vorstellen, welchen Ärger die Sache nach sich ziehen wird.“
„Niemand wird annehmen, dass du Mrs. Jenkins mutwillig die Vorfahrt genommen hast. Hast du doch nicht, oder? Glaub mir, alles, was auf dich zukommen wird, ist lästiger Papierkram mit der Versicherung.“
„Ich hab keine guten Nerven für so was.“
Um Eddie nicht in Schwierigkeiten zu bringen, nahm Tommy auf der Rückbank des Streifenwagens Platz, lehnte sich zurück und hörte Eddie antworten: „Blake wird dir schon nicht den Kopf abreißen“, und er dachte: Doch, genau das wird er tun.
 
Wenn du registriert und angemeldet bist und selbst eine Story veröffentlicht hast, kannst du die Stories bewerten, oder Kommentieren. Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diese Story kommentieren.
Weitere Aktionen
Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diesen Autoren abonnieren (zu deinen Favouriten hinzufügen) und / oder per Email weiterempfehlen.
Ausdrucken
Kommentare  

Oh, Mist, dass Tommy diesen Unfall gemacht hat. Das wird ihn in Schwieirigkeiten bringen. Arme Lea, sie scheint noch immer völlig ahnungslos zu sein.

Petra (19.04.2009)

Login
Username: 
Passwort:   
 
Permanent 
Registrieren · Passwort anfordern
Mehr vom Autor
Fisteip - Inhaltsangabe  
Das Haus auf der Klippe - Inhaltsangabe  
Hanami - trauriges Kirschblütenfest - WIEDER KOMPLETT EINGESTELLT  
Mein kurzes Leben mit einem Vampir  
Winterreifen für Schubkarren  
Empfehlungen
Andere Leser dieser Story haben auch folgende gelesen:
---
Das Kleingedruckte | Kontakt © 2000-2006 www.webstories.eu
www.gratis-besucherzaehler.de

Counter Web De