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11 Seiten

Die abenteuerliche Reise nach Persien/3

Romane/Serien · Fantastisches
© rosmarin
- 3 -
_______
Falken blickte Maren, die wie in Trance ihre Lippen bewegte, beunruhigt an.
"Weißt du, wie lang eine Ewigkeit ist", murmelte sie. "Wenn du alle tausend Jahre einen Tropfen aus dem Ozean nimmst."
"Maren? Was sagtest du da eben.“
"Und wenn du den ganzen Ozean geleert hast, dann ist in der Ewigkeit eine Sekunde vergangen."

Das konnte es nicht geben. Falken war völlig verunsichert. So etwas gab es nur in Filmen oder schlechten Büchern. Aber hier war es Realität. Beunruhigt blickte er immer wieder zu Maren, die die Augen geschlossen hielt und aussah, als ob sie fest schliefe, während er aufgewühlt im Zimmer umher lief. Das war doch der Satz, den er ursprünglich gedacht, aber dann verworfen, da er etwas Ähnliches in einem Hörspiel gehört hatte. Und nun sprach Maren, eine eigentlich wildfremde Frau, die er gerade erst kennen gelernt hatte, seinen Text Wort für Wort genau nach. Obwohl er selbst nie mit jemandem darüber gesprochen hatte. War es möglich, dass Telepathie so stark sein konnte?
Irgendwie erschöpft, setzte er sich wieder Maren gegenüber.
"Maren, was ist mit dir?", fragte er vorsichtig, "fühlst du dich nicht wohl?"

Maren saß ganz blass im Sessel, ohne sich zu bewegen.
"Wenn du alle tausend Jahre einen Tropfen aus dem Ozean nimmst", flüsterte sie, "und wenn du den ganzen Ozean geleert hast, dann ist in der Ewigkeit eine Sekunde vergangen."
Falken berührte Maren leicht an der Schulter. Sie musste wach werden. Er wollte Klarheit. Jetzt , sofort.
"Entschuldigung, ich bin etwas eingenickt", sagte Maren erschrocken. "Vielleicht der Wein..."
"Nein, Maren, du hast etwas gesagt, was nur ich wissen kann."
"Ich habe im Schlaf gesprochen? Oh, wie peinlich. Was habe ich denn gesagt?"
"Du hast einen ganzen Satz Wort für Wort genau so gesprochen, wie ich ihn nur gedacht habe."
"Und was habe ich gesagt?"
"Du hast gesagt: 'Weißt du, wie lang eine Ewigkeit ist. Wenn du alle tausend Jahre einen Tropfen aus dem Ozean nimmst. Und wenn du den ganzen Ozean geleert hast, dann ist in der Ewigkeit eine Sekunde vergangen'."
"Hm", sagte Maren leichthin. "Es soll ja vorkommen, dass zwei Menschen das Gleiche denken. Oder träumen. So wird es wohl gewesen sein."
"Aber ausgerechnet diesen Text. Wenn ich ihn wenigstens geschrieben hätte."
"Ach, Michael", Maren lachte und stand auf, "mach dir darüber keine Gedanken. Komm, wir gehen wieder an die frische Luft. Um die Müdigkeit zu vertreiben."
"Natürlich", sagte Falken, noch immer beunruhigt über das Vorgefallene, "Vergiss die Wollweste nicht."

Falken wollte Maren mit keinen weiteren Fragen belästigen. Ein Spaziergang würde ihnen beiden gut tun.
So gingen sie einige Minuten hinaus in die mondhelle Nacht und Maren fühlte sich bald besser.
"Ich bin bereit, weiter zu lesen", sagte sie, während sie das Wohnzimmer betraten. "Ich trinke aber nichts mehr. Ich bin so einen schweren Wein nicht gewohnt."
Sie nahm das Manuskript mit dem auffällig violetten Umschlag von der Couch, auf der sie es achtlos liegen lassen hatte, warf mit einer anmutigen Bewegung ihre rotblonde Mähne zurück und las weiter:

- Sanders stand früh auf, auf Zehenspitzen schlich er aus dem Zimmer, um Elisabeth nicht aufzuwecken, und bereitete in der Küche das Frühstück. Während er noch überlegte, ob er wohl Tee oder Kaffee kochen sollte, stand Elisabeth schon in der Tür.
"Mir bitte Tee", sagte sie.
"Guten Morgen, Elisabeth", begrüßte sie Sanders fröhlich. "Komisch, ich überlege gerade: Tee oder Kaffee. Da erscheinen Sie wie eine Fee aus dem Märchenland. Das war direkt eine Gedankenübertragung. Dann trinke ich auch Tee. Haben Sie gut geschlafen?"
"Ich schlafe immer gut und fest."
Sanders und Elisabeth tranken ihren Tee und fuhren dann zurück in die Stadt.
"Ich möchte bald meinen Urlaub beenden und mit Ihnen nach München fahren", sagte Elisabeth. "Sie meinen Eltern vorstellen."
Natürlich war Sanders darüber sehr erfreut. Und so besprachen sie eilig die Reisetour. Sie wollten keine Unterbrechung und keinen Aufenthalt. Nur schnell nach Hause.

Am Abend stand der Mann mit der Narbe schon wartend auf der Treppe in Elisabeths Hotel. Demonstrativ hielt er den großen Schlüssel mit der Nummer 36 in der Hand und sprach, wie immer, kein Wort. Den Blick hatte er wieder in die Ferne gerichtet, in der er etwas zu suchen schien, was er nie finden würde.
Bei diesem Anblick liefen Sanders, wie jedes Mal, die Gruselschauer den Rücken hinab. Und wieder hinunter, bis sie seinen ganzen Körper erfasst hatten und wild in seinem Kopf kreiselten.
Schnell verabschiedete er sich mit einem hektischen Handkuss von Elisabeth. Sie sollte um nichts in der Welt merken, wie sehr ihn dieser verflixte Unmensch, wie er ihn in seinen Gedanken betitelte, immer wieder von Neuem erschreckte. Doch dann blieb er gegen seine Gewohnheit, einer plötzlichen Eingebung folgend, stehen und beobachtete die beiden.

Elisabeth verschwand mit dem seltsamen Portier in der oberen Etage.
Als sie an den bunt verglasten Fenstern vorbeigingen, war ihm, als schwebten sie. Ja. Sie schwebten davon. Er konnte ihre Füße nicht mehr auf dem Boden erblicken. Sie schwebten hinein in einen luftleeren Raum. Was sollte das nun schon wieder.
Es dauerte eine Weile, bevor er sich aus seiner Starre lösen und die wenigen Schritte zu seinem Hotel gehen konnte. Nachdenklich verlangte er an der Rezeption die Rechnung. Doch da teilte ihm der Portier mit, dass Herr Sadik sie schon beglichen habe.
‚Auch gut‘ , dachte er und wunderte sich, warum er sich nicht wunderte. Also war ihm sogar schon das Wundern vergangen.
‚Wenn das so weiter geht, weiß ich wohl zu guter Letzt nicht mehr, ob ich lebe oder schon tot bin.‘
Bei diesem Gedanken wurde ihm noch unheimlicher zumute, doch zauberte er auch ein amüsiertes Lächeln auf sein Gesicht. Unangebracht fröhlich, brachte er sein Gepäck in die Garage, damit sie morgen pünktlich abfahren könnten, und ging wieder zurück ins Hotel.

In der Nacht schlief er schlecht. Die Freude, Elisabeth neben sich zu haben, aber auch der Gedanke an den seltsamen Portier und die lange Fahrt, ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Immer wieder schreckte er aus unruhigem Schlaf. Um fünf Uhr stand er dann auf, obwohl er erst um sieben Uhr mit Elisabeth verabredet war, und lief nervös im Zimmer umher. Punkt sieben Uhr saß er dann am Frühstückstisch und starrte erwartungsvoll zur Tür. Doch Elisabeth war diesmal nicht pünktlich. Sie kam auch in den nächsten drei Stunden nicht.

Die Kellner räumten die Tische ab. Es waren keine Gäste mehr da.
Nur Sanders saß einsam auf seinem Stuhl. Vor ihm auf dem Tisch stand ein Glas Wasser. Er hatte es nicht angerührt; er starrte noch immer wie hypnotisiert zur Tür. Es musste es passiert sein. Etwas Schreckliches. Nur so konnte er sich Elisabeths Nichterscheinen erklären.

"Fragen Sie doch mal in dem Hotel der jungen Dame nach“, riet ihm ein Kellner mitleidig. "Vielleicht ist ihre Begleiterin ja schon abgereist."
"Danke. Gute Idee."
Sanders erhob sich schwerfällig und schleppte sich regelrecht zu Elisabeths Hotel.
"Eine Frau Röhrig ist hier nicht gemeldet", sagte der Portier hinter dem Tresen. "Ein Zimmer 36 haben wir auch nicht. Wir sind nur ein kleines Hotel mit vierzehn Zimmern."
Diese Auskunft verschlug ihm fast die Sprache. Er war nahe daran, an seinem gesunden Menschenverstand zu zweifeln.
"Wann kommt denn der Nachtportier?", fragte er nach mehrmaligem Schlucken. "Er wird bestimmt alles aufklären."
"Der Nachtportier?"
"Ja."
"Den gibt es hier nicht. Nur ich bin bis vierzehn Uhr da."
"Haben Sie vielleicht auch keinen Gast mit einer Narbe über dem ganzen Gesicht.“
Der Portier schaute Sanders zweifelnd an.
"Einen Gast mit Narbe? Nein. So einen haben wir niemals gehabt."

Sanders war fassungslos. In seinem Kopf begann sich wieder alles zu drehen. Er konnte das Ganze doch unmöglich tatsächlich geträumt haben. Es war alles so real. Obwohl, manchmal hatte er ja schon an der Realität gezweifelt. Und gestern Abend besonders.
Wer war das Mädchen in dem altmodischen Kleid. Es musste sie geben. Es durfte kein Traum sein.
Aufgewühlt eilte er durch die Stadt; er suchte alle Plätze auf, an denen er mit Elisabeth gewesen war, ging in alle Restaurants, die kleinen, lauschigen Cafes, die sie besucht hatten, fragte die Leute nach ihr. Doch ohne den geringsten Erfolg.
Am Abend setze er sich ermattet in sein Auto auf dem Parkplatz vor dem Hotel und wartete erschöpft auf Elisabeth.
Vielleicht würde sie ja doch noch kommen. Bestimmt hatte sie etwas zu erledigen, von dem er nichts wissen sollte.
Quälend langsam verging Stunde um Stunde. Doch Elisabeth erschien nicht.
So hetzte er nochmals in die Stadt. Wieder ohne Erfolg. Von Elisabeth war nicht die geringste Spur zu entdecken. Niemand hatte sie gesehen, geschweige denn gesprochen.

Völlig abgespannt gelangte Sanders zu seinem Auto, schob die Sitze nach hinten, mit der Absicht, etwas auszuspannen, und nickte endlich ein. Doch kurz darauf erwachte er wieder. Jemand hatte mit der flachen Hand an die Windschutzscheibe geklopft.
Erschreckt fuhr er hoch. Er sah in ein Gesicht, das sich an die Scheibe presste, dann einen Mann, der aussah wie ein Schatten. Das Gesicht öffnete den Mund, klappte ihn wieder zu, sperrte ihn wieder auf. Doch kein Laut war zu hören.
Entsetzt und zu Tode erschrocken, sah er, dass der Schattenmann den übergroßen Schlüssel mit der Nummer 36 über seinem Kopf hielt und damit wedelte wie mit einem Fächer. Doch dann atmete er erleichtert auf. Das war doch der stumme Portier mit der Narbe. Vermutlich wollte er einen Irrtum aufklären. Der Schlüssel passte vielleicht zu einem anderen Zimmer. Unerklärlich war ihm nur, dass dieser Kerl ihm keine Angst mehr einflößte, sondern ihm sogar vertraut erschien. Kurios, kurios.
Doch da. Was sollte denn das?
Verwundert rieb er sich die Augen. Da stand ja auch Elisabeth. Da. Auf der Treppe. Und sie lächelte ihm zu. Na, also.
Schnell öffnete er die Tür, stieg aus dem Wagen und folgte dem Portier, der dem Hotel zustrebte.
Doch plötzlich war der Portier nicht mehr zu sehen, und auch Elisabeth stand nicht mehr auf der Treppe. Stattdessen wurde es hell in der oberen Etage, und wie gestern kamen Elisabeth und hinter ihr der Mann mit der Narbe schwebend die Rolltreppe herab.
"Scheiße!", rief Sanders plötzlich, "von wegen Rolltreppe! Die schweben ja! Das sind ja Geister!"
Voll Panik rannte er zurück zu seinem Auto, verriegelte in Windeseile die Türen, ließ sich schaudernd auf seinen Sitz fallen.
"Nur Ruhe", beschwor er sich, nachdem er mehrmals tief durchgeatmet hatte, "Ruhe. Nerven behalten. Alles klärt sich auf."

Mit dem Tuch, mit dem er sonst die Scheiben reinigte, wischte sich Sanders den Schweiß vom Gesicht. Plötzlich durchzuckte ihn wieder ein Geistesblitz. Panisch rannte er zurück zum Hotel und hetzte durch alle Gänge. Er musste das Rätsel lösen. Er befand sich in der Realität. Es konnte kein Traum sein.

Aber eine dritte Etage gab es nicht. Das Hotel hatte nur zwei Stockwerke.
Doch da, die dritte, nicht vorhandene Etage, war jetzt hell erleuchtet. Wahnsinn.
„Was ist hier los!“, schrie er wie ein Verrückter nach oben und fuchtelte wild mit seinen Armen. „Spinnt ihr denn alle!“
Da fingen wie in einer Diskothek die Lichter in der dritten Etage an, in allen Regenbogenfarben zu blitzen und zu kreisen. Und da! Da tanzte Elisabeth mit dem Narbenmann einen wilden Tanz. Einen Hexentanz. Real oder nicht. Sanders beobachtete fasziniert dieses Schauspiel.

Elisabeth und der Narbenmann schienen zu gleiten, sie bewegten sich leicht und anmutig in verschiedenen tänzerischen Figuren, um dann, plötzlich, in erotisch verschlungenen Posen einen Moment zu erstarren und diesen Wahnsinnstanz von Neuem zu beginnen.
Sanders konnte sich nicht satt sehen. Alles geschah gespenstisch lautlos.
Lange stand er wie erstarrt.
‚Nur Ruhe. Einen kühlen Kopf bewahren‘ , dachte er wiederholt.
Er entschloss sich, alles Erlebte noch einmal Revue passieren zu lassen.
Es musste eine Erklärung für diese unheimlichen Dinge geben. Er würde sich nicht zum Narren halten lassen. Von wem auch immer. Auch nicht von seiner eigenen Phantasie. Also, immer schön der Reihe nach.

Als er am ersten Tag in Teheran ankam, erinnerte er sich, war er in die Stadt bergab gefahren. Am Straßenrand hatte er einen Imbissstand entdeckt und war stehen geblieben. Der Wagen war vorn auf den Gehsteig gestoßen, so dass es nicht notwendig gewesen war, die Handbremse anzuziehen. Dann aber begann das Auto zu rollen. Und nicht etwa bergab. Nein. Es rollte bergauf. Und jetzt, so im Nachhinein, fiel ihm auch auf, dass der Bach bergauf floss. Und die Getränkedose, die ein Junge gerade weggeworfen hatte, begann ebenfalls bergauf zu rollen. Mein Gott! Und auch die Menschen waren sehr seltsam. Sie nahmen dies alles wie selbstverständlich und wunderten sich nicht. In Deutschland würden sie sich wundern, wenn dort alles normal wäre, was bergab gehen müsste, bergauf ginge.
‚Doch dieses Phänomen beeindruckt mich doch nicht besonders‘ überlegte er weiter, ‚in Deutschland, Düren oder Monschein gab es ebenfalls dieses seltene Naturereignis. Hat mit Erdmagnetismus zu tun.
Aber das hier. Diese tanzenden Zombies. Sachen gibt´s.‘
Wenn er Drogen genommen hätte, wäre das leicht zu erklären. Aber damit hatte er nie etwas zu tun gehabt.
Oder doch? Ihm kam ein schrecklicher Gedanke. Vielleicht waren es ja die Eier, die er mit dem vielen Knoblauch gegessen hatte. Den er beim Zähneputzen an der Wasserquelle unter der Pinie loszuwerden versuchte. Da, wo er seine Zahnbürste liegen gelassen haben musste.
Oh, Gott! Bestimmt waren es die Eier.
Sanders sackte vor Schreck in den Knien zusammen, Schweiß trat ihm auf die Stirn. Am ganzen Leibe zitternd, sank er zu Boden.
Vor sein geistiges Auge trat das deutsche Ehepaar, dass er bei seiner Ankunft in Teheran kennen gelernt und dieses ihn gewarnt hatte, einseitig gebratene Eier zu essen.

"Warum denn das?", hatte er verwundert gefragt.
"Es könnte sich ein Virus darin befinden", erwiderte die Frau, "welches Halluzinationen hervorrufen könnte."
"Deshalb müssen die Eier beidseitig gebraten werden", sagte der Mann, "um das Virus unschädlich zu machen. Am besten ist es aber, man isst gar keine Eier."
"Ich habe aber großen Appetit und werde in der nächsten Gaststätte einige davon verzehren", war seine unbedachte Antwort.
"Wie Sie wollen", sagte der Mann und erzählte mit sichtlichem Vergnügen, dass es den deutschen Botschafter arg erwischt habe.
"Täglich hat er drei Frühstückseier zu sich genommen", lachte er. "Schön einseitig und knusprig gebraten."
"Und eines Tages", fuhr seine Frau fort, "hat er den Hörer abgenommen, ohne dass das Telefon geläutet hatte."
"Und gesagt", sagte der Mann, "er käme gleich. Dann hat er dem Personal mitgeteilt, er müsse in die japanische Botschaft. Den Wagen verschmähte der Botschafter. Er soll mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zum japanischen Kollegen gefahren sein, dann auf einen sieben Meter hohen Baum gestiegen und auf den nächsten fliegenden Teppich in Richtung Botschaft gewartet haben. Nach drei Stunden ist der Teppich auch endlich geflogen gekommen."
Der Mann lachte und nickte seiner Frau zu.
"Der Botschafter hat es sich darauf gemütlich gemacht. Doch schon nach wenigen Minuten ist er abgestürzt. Er hat sich drei Rippen, das linke Bein und die rechte Schulter gebrochen. Hahaha!"

„Meine Güte. Es waren die Eier.“
Mühsam erhob sich Sanders. Und er war mit dem Virus infiziert. Was nun. Seine Beine zitterten immer stärker. Nervös rieb er seine feuchten Handflächen gegen einander, während er dem Treiben der Beiden zusah, bis das Licht erlosch. Dann stieg er in sein Auto.

Es war eine dunkle Nacht. Kein Stern blinkte am Himmel. Ohne Halt erreichte er im Morgengrauen die Stelle, an der er die Wasserquelle unter der Pinie entdeckt hatte. Doch die Pinie stand nicht mehr da. Aber der Felsvorsprung und die Quelle stimmten.
Bestimmt hatte er sich verfahren. Oder in der Nacht die richtige Stelle übersehen. So fuhr er wieder zurück, dann wieder zu der Stelle. Doch alles war wie vordem. Die Pinie war verschwunden. Und auch die Zahnbürste nirgends zu entdecken.

"Das darf doch alles nicht wahr sein!", fluchte er laut. "Was ist denn nur los. Träum ich oder wach ich?"

Hätte er genauer hingesehen, und wäre er nicht so aufgeregt gewesen, hätte er die Zahnbürste unter der Felsnische, in die sie der Wind gefegt hatte, gefunden. So wollte er nur weg von diesem mysteriösen Ort und führ ohne Aufenthalt weiter, hielt nur an Tankstellen, um zu tanken oder auf Rastplätzen, um ein weinig zu schlafen.
Nach fünfhundert Kilometern Fahrt erreichte er endlich Istanbul, überquerte, innerlich jubelnd, die Bosporusbrücke nach Europa und war nun nicht mehr aufzuhalten. Mit Tempo ging es durch Bulgarien, Sofia, Kosovo, Nisch, Belgrad, Zagreb, Slowenien nach Österreich.
Hier erst hielt er ausgiebig Rast, trank einen Kaffee und nahm seit Teheran die erste Nahrung zu sich. Danach duschte er an der Tankstelle und schlief im Auto einige Stunden.
Als er aufwachte, wunderte er sich, dass es so warm war. Es war doch erst Februar. Aber nicht die Spur von Schnee zu sehen. Und die Sonne stand hoch am Himmel.

Verwirrt fuhr er weiter. Noch etwa fünf Stunden Fahrt bis München, sagte er sich, und hatte es nun nicht mehr so eilig.
An der Grenze bei Salzburg rechnete er noch in Minuten bis nach Hause. Etwa neunzig Minuten oder hundertzwanzig Kilometer. Nur noch siebzig, noch vierzig, dreißig ...
Da überfiel ihn plötzlich ein seltsames Verlangen. Er wollte unbedingt Rotwein trinken. Und so sehr er sich auch gegen das ungewöhnliche Begehren wehrte, fuhr er doch ohne seinen Willen rechts zur Tankstelle, obwohl ihm unerklärlich war, warum er ausgerechnet hier stehen geblieben war.
Sollte denn der Spuk nie ein Ende nehmen.
Welch magische Kräfte waren hier im Spiel.
Es waren doch nur noch fünfzehn Kilometer bis zur Stadt. Dann wäre er schon in seinem Landhaus und könnte sich endlich wieder richtig ausschlafen, und vor allem ein ausgiebiges Bad nehmen.

Es war schon später Abend.
Wie in Trance verließ er das Auto. Sorgfältig sperrte er die Türen ab, ging dann um den Wagen herum und überzeugte sich, dass alles in Ordnung war. Immerhin hatte er ja eine wertvolle Ladung mit und dementsprechende Verantwortung.
Dann betrat er die Raststätte.

Der große Raum war leer. Nur der Wirt stand am Spielautomaten; er schoss die Kugeln ab und bewegte dabei seinen Körper so, als könne er den Lauf der Kugel bestimmen. Von Sanders nahm er keine Notiz.

Sanders setzte sich auf einen Platz, von dem aus er den Raum überblicken konnte und auch die Tür im Auge hatte. Plötzlich sah er einen Mann, den er lieber nicht gesehen hätte. Ein kahler Kopf, übersät mit braunen Hautflecken, ein längliches, knochiges Gesicht, straff überzogen mit fahler Haut. Und diese Brille. Sie hatte so starke Gläser, dass man von dem Gesicht nur die riesig großen Augen sah. Der Kerl rauchte eine Zigarre, lächelte ihm höflich zu und zeigte dabei seine gelben, wackligen Zähne, die schier endlos aus dem fleischlosen Kiefer ragten.
Dieser Anblick störte ihn so sehr, dass er den Platz wechselte und so dem Mann den Rücken zudrehte. Doch da erblickte er ihn im Spiegel an der Wand gegenüber. Und dieser Unmensch lächelte noch immer. Am liebsten hätte Sanders dem Kerl eins in die Fresse gegeben. Doch das verbot ihm selbstverständlich seine gute Erziehung.
‚Aber schön wäre es doch. Und bestimmt sehr erleichternd‘, dachte er missmutig.

Während also Sanders darüber grübelte, ob er dem Kerl eins überziehen sollte oder nicht, kam ihm der rettende Gedanke.
‚Dort hinten scheint ein Nebenraum zu sein‘, hoffte er zumindest, und stand auf, ohne den Glatzkopf aus den Augen zu lassen. Langsam ging er an dem Wirt vorbei, der jedoch noch immer keine Notiz von ihm nahm. Er öffnete eine Tür und stand sogleich, wie er vermutet hatte, in einem Nebenzimmer. Unsicher versuchte er den Lichtschalter zu finden. Es gab keinen. So stand er in völliger Dunkelheit und wartete. Worauf? Er wusste es nicht. Minuten vergingen. Er wagte sich nicht zu rühren.
Da spürte er einen eisigen Luftzug und mit ihm ein menschliches Wesen. Furchtsam zuckte er zusammen.
"Komm doch her", vernahm er eine angenehme Frauenstimme, "her zu mir."
Wie ein Raubtier versuchte er mit seinem Blick das Dunkel zu durchdringen und erkannte tatsächlich die Konturen einer Frau.
Das schwarze Haar der Frau war in der Mitte gescheitelt, an den Schläfen spiralig eingedreht.
So würde eine Spanierin vor hundert und noch mehr Jahren ausgesehen haben. Vielleicht auch eine Andalusierin oder Mexikanerin.
Eine rote Rose steckte im Haar hinter dem zierlichen Ohr der Unbekannten. Das Kleid, das sie trug, hatte einen weiten Ausschnitt, der vorteilhaft ihren üppigen Busen betonte, und einen weiten Rock. .
"Ich habe hier auf dich gewartet", sagte die Frau leise.
"Schön für mich", erwiderte Sanders, als er sah, dass die Konturen immer attraktiver wurden, fast klassisch in dem bunten Operettenkleid. Er hatte sich entschlossen, mitzuspielen. Was blieb ihm auch anderes übrig. Vielleicht befand er sich ja tatsächlich in einem Traum. Einem Albtraum, aus dem er nicht erwachen konnte.
"Ich warte schon 333 Jahre auf dich", flüsterte die geheimnisvolle Schöne.
"Du hast dich unwahrscheinlich gut gehalten."
Sanders, dem ganz heiß geworden war, war sogar zum Scherzen.
Wieder so ein irrationaler Spuk, dachte er und sagte:
"Ich hätte dich bedeutend jünger geschätzt, Schätzchen."
"Hier steht dein Rotwein", sagte die Frau. "Nachdem du dich so gesehnt hast."
"Nun, meine Liebe", Sanders trat noch etwas näher an die Frau heran, "verrate mir, wer du bist. Entfernt erinnerst du mich an eine Frau, die ich gekannt habe."
"Vor dreihundert Jahren waren wir Mann und Frau." Die schöne Frau schmiegte ihren Körper fest an Sanders, dem ganz mulmig wurde. "Wir hatten eine Kneipe. Ein Häuschen. Und zwei Knaben."
"Sehr interessant."
Sanders rückte etwas beiseite. Ihm wurde immer unheimlicher. Der Körper der Frau schien sich mit seinem verbinden zu wollen. Und die starre Kälte, die von ihm ausging, ließ ihn noch mehr frösteln.
"Wir erzeugten unseren eigenen Wein", fuhr die Frau mit leiser Stimme fort. "Hier ist er. Dein Lieblingswein."
Vorsichtig nippte Sanders von dem Pokal, den ihm die Frau mit einer anmutigen Geste hinhielt.
Das war ein Wein. Er hatte ihn zwar noch nie getrunken, aber er mundete vorzüglich, war von eigenartigem Geschmack und einer dunkelroten, fast violetten, Farbe.
"Eine wunderbare Blume", stimmte er zu.
"Trinke diesen Wein, schließe die Augen und höre zu. Ich erzähle dir jetzt eine Geschichte", sagte die schöne Frau.

***
 
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Kommentare  

es klärt sich alles auf.
gruß von


rosmarin (30.11.2009)

Elsabeth bewegte zwar die feuchten Lippen, aber gebissen hatte sie ihn nicht. In dieser Hinsicht kann man also erleichtert ausatmen, aber so richtig zur Ruhe kommen kann man bei deinem Roman trotzdem nicht. Er wird immer geheimnisvoller und verwirrender. Noch eine Geschichte soll sogar erzählt werden. Werde gleich das nächste Kapitel lesen.

Jochen (29.11.2009)

welch seltsame übereinstimmung zwischen falken und maren...
keine elisabeth, kein nachtportier, keine zimmernummer 36...
vielleicht waren es wirklich die eier, ei(n)seitig gebraten, ein eiervirus vielleicht?
...der rest ist wirklich unheimlich, und ich kann mir keinen reim drauf machen. also werde ich mir gleich die fortsetzung reinziehen! ;)
lieben gruß


Ingrid Alias I (29.11.2009)

hallo, doska, ich auch, oh, wei.
grüß dich, hab einen tollen abend.


rosmarin (28.11.2009)

Oh,oh, noch eine Geschichte in der Geschichte? Ziemlich riskant, was du dir da ersonnen hast, liebe Rosmarin. Bin wirklich neugierig wie du das alles vernüftig klären willst.

doska (28.11.2009)

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