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2 Seiten

15 minuten

Aktuelles und Alltägliches · Kurzgeschichten
© kadek
U-bahnhof friedrichstrasse. 07.11.01. 20:16 – 20:31
Ich hetze in richtung s-bahn, hetze vorbei, drehe um und bleibe stehen, höre ihnen zu und rauche. Drei männer. Zwei sitzen und spielen akkordeon, einer singt. Seine stimme ist tief und besitzt scharfe konturen. Sie raut die töne leicht an, die voll aus seinem bauch heraus klingen. Zwischendurch sagt er ein paar worte auf russisch zu den andern. Die akkordeonspieler antworten ihm nur mit ihrer mimik. Einer von ihnen ist ein bisschen feist, und grinst die ganze zeit leute an, die an ihm vorbeirennen und viel zu tun haben. Der sänger hat aufgehört zu singen und raucht jetzt. Ein vierter mann tritt dazu. Das cello gehört ihm und der cellokoffer, der nach strassenmusikermanier aufgeschlagen vor ihnen liegt. Er verteilt zigarillos an die anderen. Seine augen sind die augen eines mannes, der gerne tief in frauenaugen schaut. Er setzt sich dazu und streicht mit.
Ihre wehmütigen und leidenschaftlich begehrenden lieder füllen den durchgang. Werden begleitet von den störkulissen einer funktionierenden realität.
Ich fühle die musik in meinem herzen, in ihr dieses sehnen nach wärme. Ich höre ihrem spiel aufmerksam zu, das sie in einer sprache der töne und des rhythmus miteinander spielen. Der sprache, die so unmittelbar ist wie keine andere. Die so direkt auf unsere seele wirkt.
Die musik berührt, erweckt, lädt ein, greift auf und nimmt den, der zuhört, mit sich. Sie erhebt mich über das dumpfe stampfen hinweg, takt alltäglich in grau stummen gesichtern. Der feiste spielt vollmundig haupsächlich die akkorde. Der schmale mit brille setzt abstrakte soli dazu, während das cello verklärt melancholisch dazwischenschwingt.
In dem moment, da ich diese musik höre, glaube ich tatsächlich wieder an liebe, an freiheit und an schönheit. Leidenschaften wirbeln durch die akkorde, von denen einige kunstvoll zum tragischen hingewandt entgleisen, andere mit leichtigkeit sich zerstreuen, nur um später wieder die hand des andern zu finden.
Ein schnieke typ schlappt vorbei und ascht in den cellokoffer. Der sänger ruft ihm was auf russisch nach. Die andern spielen weiter.

Ich kenne diese männer nicht, doch ich glaube ihnen, dass sie auch empfinden, was sie spielen. Ich will es glauben.
Ich habe aufgeraucht. Gebe ihnen ein wenig geld und steige in die u-bahn. Die musik ist noch immer in mir. Ich betrachte die menschen, die mir gegenüber sitzen. Sie sind alt und krank und hässlich, doch sie können mich nicht deprimieren. Ich stelle mir die schönheit, die freiheit und die liebe vor, die einmal in ihnen war. Ich forsche in ihren augen, wie viel noch davon lebt. Und ich glaube auch an sie und verharre nicht in der aufkommenden melancholie, sondern schaue nach vorn.
 
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Kommentare  

Der letzte Absatz deiner Geschichte hat mich aufgeweckt, ehrlich, der war wirklich gut. Ich bin mir noch nicht sicher warum, aber er bewegt am meisten von dieser Geschichte!


Marco Frohberger (16.11.2001)

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