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19 Seiten

Rocking Chairs - Teil 13

Romane/Serien · Nachdenkliches
© Tintentod
13
Nach seiner Rückkehr schlief er fast zwanzig Stunden und quälte sich drei Tage mit einem ausgewachsenen Muskelkater herum. Sophie beäugte die Shadow misstrauisch, während Candy vor Begeisterung herumhüpfte und unbedingt eine Runde drehen wollte. Sidney und Martha sagten keinen Ton, aber an den Blicken, die sie sich zuwarfen, war nichts Falsches zu deuten.
„Candy, du setzt dich auf gar keinem Fall da drauf“, sagte Sophie, „genauso wenig wie ich mich auf diese Maschine setzen werde. Ich habe keine Ahnung, was du mit dem Ding vorhast, Rick, aber ich hoffe, du hattest einen guten Grund.“
„Die Maschine war billiger als ein Wagen“, sagte Rick, „außerdem brauche ich für die nicht mal einen Parkplatz. Ich kann sie mit ins Haus nehmen, wenn es sein muss.“
„Noch etwas, was nicht passieren wird“, sagte Sophie.
Weil den Sturzhelm unterwegs für eine Tankfüllung verkauft hatte, lieh Candy sich den Motorradhelm eines Nachbarn und bekam die Erlaubnis, sich hinter Rick auf den Sozius zu setzen. Sie kicherte, hielt sich an Rick fest und rief Sophie über die Schulter zu, wenn er nicht so geizig gewesen wäre, hätte er sich eine Harley gekauft und nicht so einen Abklatsch, und Rick ließ die Shadow mit einem heftigen Ruck vorschießen und Candy kreischte laut auf. Sie war noch zu hören, als die Maschine schon die Straße runter hinter dem Haus verschwunden war.
„Die beiden werden verunglücken“, sagte Sidney.

Rick und Candy drehten einige Runden durch Blue Hill und die Küstenstraße hinunter, und als sie an dem Einkaufszentrum vorbeikamen, klopfte sie Rick auf die Schulter und rief ihm ins Ohr, er solle auf den Parkplatz fahren.
Sie stieg mit steifen, vorsichtigen Bewegungen vom Motorrad, nahm den Helm ab und warf ihn Rick zu, der ihn zu fangen versuchte, fast fallen ließ und dann doch hielt.
„Bring mir einen mit“, sagte er, „einen Ordentlichen, nichts mit süßem Zeug.“
Sie zeigte ihm den erhobenen Daumen und verschwand durch die Tür ins Starbucks. Durch die Scheiben konnte er die Jugendlichen aus Blue Hill sehen, die sich die Nasen an der Scheibe plattdrückten, um einen Blick auf die Shadow zu werfen, von der Candy abgestiegen war. Er grinste darüber, wie Candy zwei Kaffee bestellte und bei der Ausgabe wartete, mit den Mädchen plauderte und einem der neugierigen Jungs einen sanften Boxhieb verpasste, weil er offensichtlich eine dumme Bemerkung machte.
Sie kam mit den Kaffeebechern zurück, die sie nur mit dem Fingerspitzen hielt, und sagte grinsend: „Jetzt bin ich das Stadtgespräch für mindestens zwei Wochen.“
„Bin dir dabei immer gerne behilflich.“
Sie tranken den Kaffee an der Promenade der Water Street, die Shadow abgestellt auf dem Parkplatz vor dem großen Gebäude der öffentlichen Bibliothek.
„Sophie wird sich auf das Ding niemals draufsetzen“, sagte Candy.
„Die Shadow ist auch nicht für sie, sondern für mich. Wir haben noch immer den Nova, also sind wir flexibel genug.“
Fast hätte er gesagt, „flexibel genug auf der Insel“, aber da er diese Überraschung noch nicht preisgegeben hatte, wollte er nicht, dass Candy etwas vor ihrer Schwester erfuhr.

Über die Insel und das Haus sprachen sie spät nachts, als sie nach einem langen Tag endlich ins Bett kamen. Sie hatten erst spät gegessen, weil überraschend Nachbarn vorbeigekommen waren, dann hatte Carlos sich in den Kopf gesetzt, unten am Strand einfach davonzulaufen und nicht zurückzukommen, und Rick hatte über ihn geflucht und durch die Gegend geschrien, es geschehe ihm ganz recht, wenn er irgendwo auf der Straße überfahren werden würde. Das Ende vom Lied war, dass er der Spur einer heißen Hündin gefolgt war und diese wohl ganz erfolgreich umworben hatte, denn er kam erst nach Einbruch der Dunkelheit zurück, vollkommen durchnässt, abgekämpft und hechelnd, aber mit einem zufriedenen Ausdruck auf dem Gesicht.
Zur Strafe sperrte Rick ihn in den Waschraum, wo er ihm sein Futter hinstellte.
„Da bleibst du“, hatte er gesagt und versucht wie ein strenger Vater zu klingen. Sophie im Hintergrund hatte sich ein Lachen verkneifen müssen.
Endlich zu zweit im Bett, endlich mit warmen Füßen und mit der nötigen Bettschwere, flüsterte Rick, dass José ihm etwas geschenkt habe.
„Als er gehört hat, dass wir uns vermehren“, sagte Rick, „es wird ihn nicht wirklich viel gekostet haben, schätze ich, aber wir können komplett neu anfangen. Wenn du soweit bist und wann immer du willst.“ Er hielt den Atem an, weil er merkte, dass sein Mund schneller als sein Verstand wurde. Er hasste es, wenn ihm das passierte. Den nächsten Satz hätte er fast mit „Was ich damit sagen will“ angefangen, aber auch das schluckte er schnell herunter.
„Wir fahren es uns ansehen, morgen früh, okay?“
„Ich drück dir im Schlaf das Kissen aufs Gesicht und ersticke dich, wenn du mir nicht sofort sagst, was es ist.“ Sophie stemmte sich hoch, sah ihn mit einem so kritischen Gesicht an, dass Rick dachte, sie probiere ihr erstes Mama-ist-böse-Gesicht an ihm aus, und er prustete vor Lachen los. Dafür beugte sie sich über ihn, als wolle sie ihn küssen, griff hinter sich nach dem Kissen und packte es ihm aufs Gesicht, bevor er die Arme heben konnte. Rick rutschte undeutlich lachend unter dem Kissen weg, ließ sich auf den Boden fallen und blieb dort liegen, bis Sophie über ihm erschien und ihn angrinste.
„Ich mach meine Drohung wahr“, sagte sie, „und ich werde vor jedem Gericht freigesprochen. Ich behaupte einfach, meine Hormone hätten verrückt gespielt.“
„Ein Haus“, sagte Rick. Wieder einmal bewunderte er sie dafür, wie sehr sie sich unter Kontrolle hatte, wenn sie es wollte, in ihrem Gesicht zeigte sich keine Regung, nur ein freundliches Lächeln.
„Ein Haus auf Monhegan“, sagte er auf dem Fußboden liegend.

Während Sophie sich darauf konzentrierte, einen immer dickeren Bauch zu bekommen, fuhr Rick von freitags bis sonntags nach Monhegan Island, um das Haus in Schuss zu bringen. Weil er von so etwas nicht wirklich Ahnung hatte, aber sein Stolz ihn davon abhielt, Sidney zu fragen, hatte er sich auf der Insel umgehört und ein paar helfende Hände gefunden.
Während der Wintersaison hatten die Fischer nicht wirklich etwas zu tun, teilweise überwinterten sie auf dem Festland, nahmen reguläre Jobs an und kamen nur zur Fangsaison zurück auf die Insel.
Rick und Sophie hatten gemeinsam mit der Fähre von Port Clyde übergesetzt, hatten schon auf der Fähre den anderen Fahrgästen Löcher in die Bäuche gefragt und seltsame Blicke kassiert.
„Sie sind aber früh dran, um bei uns Urlaub zu machen“, sagte eine Frau, die aus ihrem Station Wagon herauskroch und ihre lärmenden Kinder auf dem Rücksitz ignorierte.
„Wir machen keinen Urlaub“, sagte Rick, „wir haben eines der Häuser gekauft.“
Weil er aufgrund des Lageplans nur wusste, dass das Haus am Strand lag, aber kein Straßenname angegeben war, war er froh, dass sie nicht nach der Adresse fragte.
„Herzlich willkommen“, sagte die Frau, „die letzten Zugezogenen waren ein Malerehepaar, die hat es allerdings nach diesem harten Winter wieder vertrieben.“
„Denen ist vermutlich die weiße Farbe ausgegangen“, sagte Rick, „wegen den Schneelandschaften, meine ich.“
Sie stellte sich als Allie Delahanty vor und schien sofort versöhnt, als sie Sophies Bauch unter dem Mantel entdeckte.
„Ihr Erstes?“ fragte sie und sofort war Rick abgeschrieben. Die beiden Frauen verzogen sich in die Kabine, während Rick auf Deck blieb, über die Bordwand in die Wellen starrte, und in dem Station Wagon die Delahanty-Kinder randalierten. Dafür lernte er den Fährmann Willy Burton kennen, der sich sehr abfällig über die lärmenden Kinder äußerte und sich kaum auf die Steuerung seines Schiffes konzentrierte.
„Die alte Elisabeth Ann weiß von allein, wo es langgeht“, sagte er, „die fährt die Strecke schon ein paar Jahre länger als ich.“
Er erzählte, dass das Fährboot aus dem Jahr 1947 war und in Südostasien eingesetzt worden war, es konnte viele Geschichten erzählen, wenn man es ließ.
„Wir fahren jeden Tag drei Mal von Port Clyde nach Monhegan und wieder zurück“, sagte Burton, „wenn es das Wetter zulässt. Diesen Winter konnten wir drei Wochen lang nicht übersetzen, das war eine harte Zeit. Was machen sie auf der Insel?“
„Wir siedeln um.“ Er wusste nicht, wie er es sonst nennen sollte. Es war kein Umzug für ihn, denn er nahm gerademal den Inhalt einer Tasche mit, er hätte es einen grandiosen Neuanfang genannt, wenn er offen hätte sein wollen. Aber vermutlich würde es noch sehr lange dauern, bis er wirklich offen mit sich und Anderen umgehen konnte.
Burton erzählte von der Insel, von den Bewohnern und ihren Besonderheiten, dass es weder ein Krankenhaus, Bank, noch eine Schule auf der Insel gab und in den kurzen Sommermonaten die Touristen einfielen wie die Heuschrecken.
„Ich hoffe, euer Haus war isoliert“, sagte Burton, „sonst habt ihr eine Menge Spaß damit.“
Solche Dinge, die ab sofort in seinem Leben wichtig waren, hatte er auch schon von Sidney gehört und Rick hatte keine Lust, sich einen weiteren Vortrag darüber anzuhören. Er nickte nur Richtung Kabine und meinte, er würde mal sehen, wo sein Weib abgeblieben sei.
Die Elisabeth Ann nahm Kurs auf den Hafen und die Anlegestelle, vorbei an der vorgelagerten kleinen Insel, die bis auf die üblichen Seevögel unbewohnt war, und Rick starrte zu der Anlagerung von Felsen, Rietgras und kleinen Häusern hinüber. Sophie sah die Insel vermutlich mit anderen Augen, sie war aus dieser Gegend und dirigierte ihn durch den Hafen und durch die Straßen.
„Wir müssen bis zum Ende der Lobster Cove Road“, sagte sie, „ich hab zwar noch kein Straßenschild gesehen, aber ich denke, wir sind auf dem richtigen Weg.“
Sie orientierte sich mit der Straßenkarte und den wenigen Anhaltspunkten. Es gab eine Poststelle und ein kleines Hotel auf der Insel. Das Hotel sah aus wie aus einem alten Horrorfilm und Rick nannte es in Gedanken nur „Bates Motel“. Zwar war der harte Winter vorbei, es lag nur noch wenig Schnee und die Temperaturen bewegten sich in den Plusgraden, aber das hieß nicht, dass die Straßen in einem guten Zustand gewesen wären. Überall war der Straßenbelag beschädigt, teilweise waren die Löcher so tief, dass Rick sie in einem großen Bogen umrunden musste. Dann hörte der Asphalt ganz auf und es blieb eine festgefahrene Schotterfläche.
„Na prima“, sagte Rick, „ich ruiniere gerade den Unterboden von deinem Nova.“
„Keine Bange“, erwiderte Sophie mit der Nase in der Karte, „das hört gleich wieder auf.“
Sie hatte Recht – danach kam ein Feldweg, der sich durch die unbewohnte Insellandschaft schlängelte und der bestand nur aus Erdboden, der zum Glück sehr felsig war und der Nova sich nur durch eine dünne Schlammschicht bewegen musste. Der Grund stieg nach der nächsten Kurve leicht an und über die niedrige Vegetation im Winterschlaf sahen sie wieder das Meer und hörten das Rauschen der Brandung. Es war die südliche Spitze der Insel, an der die Lobster Cove Road endete.
Sie stellten den Nova am Straßenrand ab und folgten dem Fußweg zu den Häusern hinunter. José hatte gesagt, es sei ein rotes Haus, das Erste in der Reihe von kleinen Sommerhäusern, aber es gab kein rotes Haus. Die Häuser, gebaut in einer Reihe zwischen Felsen und Strand, waren kleine eingeschossige Sommerhäuser im Neu-England-Stil, jedes Haus hatte ein Giebeldach, eine kleine Veranda, daneben das Panoramafenster des Wohnzimmers, das ein wenig vorversetzt war und darüber ein kleines Giebelfenster hatte.
„Das Erste muss es sein“, sagte Rick, „mal sehen, ob der Schlüssel passt.“
Sie hatten die restlichen Unterlagen und Schlüssel in Port Clyde in einem Maklerbüro abgeholt und dort war ihnen gesagt worden, dass das Haus lange leergestanden habe. Das mochte eine höfliche Umschreibung von Maklern für „heruntergekommen“ sein.
Sophie hakte sich bei ihm unter und sie liefen hinunter zum Haus, entdeckten, dass es einen verwilderten Garten hinter dem Haus gab, aber die Überreste eines Zauns waren nicht zu finden. Während Sophie um das Haus lief und versuchte, einen ersten Blick durch die Fenster zu werfen, schloss Rick die Vordertür auf. Er musste sich mit der Schulter gegen das Holz werfen, um die verklemmte Tür zu öffnen. An den Innenseiten der schmalen Veranda entdeckte er die Überreste der roten Farbe auf den Holzwänden, wo der Wind und der Sand sie nicht abgeschmirgelt hatte.
Sophie kam von der anderen Seite auf die Veranda und sagte: „Die Fenster sind vollkommen verdreckt oder zugenagelt, ich konnte nichts sehen.“
Das Haus war in einem fürchterlichen Zustand. Es stank nach Seetang und abgestandenem Salzwasser, die wenigen zurückgelassenen Möbel waren staubig und vermodert. Einige der Parkettdielen waren lose und quietschten bei jedem Schritt und das Schlimmste entdeckten sie in Küche und Bad. Dort schienen sich Ratten oder Mäuse eingenistet zu haben, und in den Überresten von Küchenabfällen und vergessenen Mülltüten fanden sich jede Menge Nagerkot und Kakerlaken.
„Hier muss erst einmal entrümpelt werden“, sagte Sophie, „bevor man überhaupt irgendetwas sehen kann, meine Güte.“
Sie sagte nicht, dass es zu klein und zu alt sei, obwohl es das in ihren Augen war. Es mochten kaum siebzig oder achtzig Quadratmeter Wohnfläche haben und der Dachboden war sicher gerade hoch genug, um dort ein paar Kisten zu lagern. Keine Chance, ihn zur Wohnfläche auszubauen. Aber es hatte einen großen Vorteil, den sie nicht von der Hand weisen konnte – es gehörte ihnen.
„Ich bin sehr großzügig“, sagte sie, gab Rick einen Kuss rechts und links und auf den Mund, „du darfst hier alles in Ordnung bringen und ich komme wieder, wenn du fertig bist.“
„Du wirst es nicht wiedererkennen“, sagte Rick.
Bevor sie die Fähre zurücknahmen, machten sie eine Tour durch den Ort, Sophie wollte unbedingt in das kleine Museum und war enttäuscht, dass es geschlossen war.

Rick begann damit, das Gerümpel und den Müll durch das große Verandafenster nach draußen zu werfen, wo er die kleinen Teile in schwarze Müllsäcke steckte und den Rest einfach unten am Strand verbrannte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sich jemand daran stören würde. Die anderen Häuser standen alle leer, er hatte sie alle bei seiner Ankunft abgeklappert, weil er nach Werkzeug hatte fragen wollen. Sie alle sahen aus, als seien sie nach dem Herbst nicht mehr bewohnt gewesen.
Also fuhr er mit der Shadow in den Hafen zurück und sprach dort einen der herumsitzenden Fischer an, die auf ihren Holzkisten hockten und Bojen bemalten. Er heuerte Wooley an, dem er sagte, er könne nicht viel bezahlen, aber er würde sich revanchieren, wenn er irgendwas zu reparieren habe. Wooley kam mit seiner Werkzeugkiste und brachte noch einen anderen Fischer mit und sie reparierten den Fußboden und verlegten einige der elektrischen Leitungen neu. Nachdem Rick einen Blick in die Toilette geworfen hatte, entschied er sich, das Porzellan ebenfalls aus dem Fenster zu schmeißen und eine Neue zu kaufen. Er wollte es niemandem zumuten, dieses Ding sauber zu machen, am allerwenigsten sich selbst.
Als das Wetter es zuließ, nahm Rick sich den Garten vor, erst mit einer Astsäge, dann mit einer elektrischen Heckenschere, die er sich von Wooley auslieh. Die Hecken und Dornensträucher bekam er nach und nach weggeschnitten, schleppte alles ans Wasser, wo der Haufen mit dem brennbaren Abfall immer größer wurde. Als das Wetter trocken genug schien, lud er Wooley auf ein Bier ein, um den Abfall gemeinsam zu verbrennen.
„Allie hat mir erzählt, dass sie euch auf der Fähre getroffen hat“, sagte Wooley, als sie das erste Bier öffneten und anstießen, „sie sagte, deine Frau machte einen sehr netten Eindruck.“
„Ach? Und ich etwa nicht?“
„Mit dir hat sie nicht gesprochen, glaube ich.“
„Wie viele Kinder habt ihr eigentlich? Ich hab nur ein undeutliches Gewusel in dem Wagen gesehen.“
Wooley starrte in die Flammen, trank an seinem Bier und kratzte sich den dicken Bauch unter der Latzhose. Rick wusste einen Moment nicht, ob ihm das Thema unangenehm war oder er erst in Gedanken nachzählen musste.
„Zwei Mädchen und drei Jungs“, sagte Wooley, „und wenn meine Frau das nächste Mal sagt, Honey, ich glaube, ich bin schwanger, erschieß ich mich.“

Als Rick an dem Abend zurück nach Blue Hill fuhr, kam er in einen anhaltenden Regenschauer, der ihn auf der Shadow vollkommen durchnässte, und er sich wünschte, er wäre in dem Haus geblieben, um dort zu übernachten. Obwohl er eine dicke Jacke und eine Motorradhose trug, lief ihm das Wasser bis in die Unterhose und er fror erbärmlich im Fahrtwind. Er hätte irgendwo anhalten und das Ende des Regens abwarten können, aber er war schon einmal nass und wollte nur noch so schnell wie möglich nach Hause.
Scheiße, dachte er, ich hätte mir doch ein Auto kaufen sollen.
Das Ortsschild von Winslow Cove flog an ihm vorbei und bewies, dass er Dreiviertel der Strecke bereits hinter sich hatte. Die ganze Zeit hatte kaum Verkehr geherrscht auf der Strecke und er hatte das dumme Gefühl gehabt, alle anderen in dieser Gegend saßen bereits gemütlich und trocken in ihren Häusern und er war der einzige Idiot, der noch unterwegs war. Ab und zu kam ihm ein Wagen entgegen, blendete ihn mit den Scheinwerfern und verschwand hinter ihm im Regendunst.
Noch eine halbe Stunde, dachte Rick, dann bin ich endlich zu Hause.
Hinter der nächsten Kurve erschien ein grellweißer Wagen auf der Gegenspur, der die Regengischt hinter sich herzog wie ein Brautschleier und obwohl Rick nicht erkennen konnte, was für ein Wagen es war, musste es ein Sportflitzer sein. Rick fuhr schon knapp über der Richtgeschwindigkeit, aber der Kerl hatte es wirklich eilig. Rick drosselte das Tempo etwas, wischte sich das Regenwasser aus den Augen, und merkte erst, als der Wagen nahe heran war und er in das grelle Fernlicht starrte, dass etwas nicht stimmte. Er bremste ab, fast zu spät begriff er, dass der Wagen auf dem Mittelstreifen fuhr und er riss die Honda nach rechts weg. Bei trockener Straße wäre er einfach auf den Standstreifen gefahren, was sicher gut gegangen wäre, da er schon das Tempo rausgenommen hatte, aber jetzt geriet er auf Aquaplaning und die dicken Reifen glitten auf der nassen Straße unter ihm weg und die Shadow knallte mit ihm auf der bewachsenen Böschung neben der Straße auf die Seite. Die Rutschpartie konnte nicht lange gedauert haben, aber es kam ihm wie eine kleine Ewigkeit vor. Sein Bein unter der Shadow wurde heiß und dann gefühllos, ebenso wie seine Schulter, mit der er gelandet war und er konnte schon Sidneys Worte hören „Und das alles ohne Sturzhelm“. Immerhin landete er nicht auf dem Kopf.
Da wäre ich gelandet, wenn ich nicht gebremst hätte, dachte er.
Als die Rutschpartie endlich zu Ende war, bewegte er sich vorsichtig und zog das Bein unter der Maschine raus. Er konnte stehen und sich bewegen, aber das Bein fühlte sich an, als sei alles in Fetzen und er war froh, dass es so dunkel war. Die Shadow lag halb im Straßengraben, zum Glück für ihn, wenn er den Motor wieder ans Laufen brachte, konnte er sie aufrichten und weiterfahren.
Rick machte einen unsicheren Schritt auf die Straße, drehte sich um und sah, dass der weiße Sportwagen in einiger Entfernung stand, mit laufendem Motor und eingeschaltetem Licht.
Da will jemand sehen, ob es mich erwischt hat, dachte Rick. Er hatte ein seltsames Gefühl, sein Herz raste noch immer, eine Nachwirkung des Unfalls, und er ging auf den Wagen zu. Wenn dort jemand drin saß, der gesehen hatte, dass er abgeschmiert war und sehen wollte, ob es ihm gut ginge, wollte er ihm die Gelegenheit geben, sich zu entschuldigen. Rick war kaum ein paar Schritte nähergekommen, als der weiße Sportwagen einfach weiterfuhr. Er gab Gas, ohne noch einmal anzuhalten. Rick stand mitten auf der nachtschwarzen Straße, starrte dem Wagen hinterher und murmelte: „Vor dem hättest du mich warnen können, buddy.“
Mascots Stimme war sehr undeutlich und verwaschen, vielleicht wegen des endlosen Regens, und er murmelte in Ricks Kopf: Ich hab dich gewarnt. Du solltest zuhören.
Er warf den Motor der Shadow an, hebelte sie hoch und schob sie auf die Straße zurück.
Prachtvolles Mädchen, dachte er, springt an ohne Mucken.
Sehr vorsichtig und langsam fuhr er weiter, er konnte seine Schulter nicht mehr bewegen und sein Bein brannte wie die Hölle. Sein Kopf war leer gefegt und er versuchte sich nur noch darauf zu konzentrieren, heil nach Hause zu kommen.
Er dachte, er würde es schaffen, aber kurz vor Blue Hill wurde ihm schlecht und er hielt an, verlagerte das Gewicht auf das gesunde Bein und kotzte neben die Shadow auf die Straße. Danach fühlte er sich zittrig und die Straße verschwamm ständig vor seinen Augen. Es schien reine Glückssache, dass er die richtige Straße zum Haus der Reitmans fand und in die richtige Einfahrt abbog. Mit letzter Kraft stieg er von der Shadow, zog sie auf den Ständer und humpelte durch die Garage ins Haus. Er hatte keine Ahnung, wie spät oder wie früh es war, aber Carlos würde dafür sorgen, dass sie alle aufwachten.
Rick wartete im Mud Room, wo er sich auf die niedrige Kommode setzte und Carlos von der anderen Seite der Tür jaulen und kratzen hörte. Es dauerte eine Weile, bis er Sophie hörte. Sie flüsterte mit dem Hund, er solle Ruhe geben und Rick sagte, sie solle den Hund irgendwo einsperren. Er hatte Angst, Carlos würde ihn vor Freude anspringen und an das lädierte Bein kommen.
„Was ist denn los?“ rief Sophie, „alles in Ordnung mit dir?“
Sie zog den Hund in die Küche und schloss die Tür hinter ihm ab.
Im Mud Room zog Rick sich sehr langsam und vorsichtig die Jacke aus, seine Schulter schien nur geprellt zu sein und er konnte sie wieder bewegen, aber sein Bein war eine ganz andere Hausnummer. Sophie öffnete die Tür und sah sofort, was passiert war.
„Das verdammte Motorrad“, sagte sie, und das war auch das Erste, was Sidney sagte, als er Ricks Bein sah. Die Motorradhose aus Leder und die Jeans darunter hatten das meiste von seinem Bein abgehalten, beide waren in Fetzen gerissen und leider auch ein Teil seiner Haut. Besonders dort, wo sein Knie und sein Oberschenkel direkt unter der Maschine Bodenkontakt gehabt hatten.
„Uh“, machte Rick, als Sophie ihm vorsichtig erst die Schuhe und dann die Hosen auszog und er die abgeschmirgelten Hautfetzen sah.
„Kannst du das Knie bewegen?“ fragte Sophie, „das sieht aus, als hätte das Gelenk was abbekommen.“
Er konnte das Knie normal bewegen, bewies es einige Male und konnte es belasten.
„Hat nichts abbekommen“, sagte er, „verdammte Scheiße, die Hosen sind hinüber.“
„Besser die Hosen als deine Knochen. Wir fahren trotzdem in die Klinik.“
„Dein Bein sieht aus wie nach einer Gurkenhobelbehandlung“, rief Candy von der Tür des Mud Rooms und Rick rief zurück: „Du wirst nie wieder die Gelegenheit haben, mich in Unterhosen zu sehen.“
Er sträubte sich nicht gegen die Klinik, dazu war er zu müde. Außerdem tat seine Schulter weh und er wollte es durchchecken lassen, bevor er mit gebrochenen Knochen am Haus arbeitete. Außerdem wusste er, was er sich in den nächsten fünfzehn Jahren anhören konnte, wenn er sich nicht untersuchen ließ.
Sophie fuhr ihn ins Memorial und wartete mit ihm in der Notaufnahme. Weil er über die wunde Haut keine Hose ziehen konnte, trug er eine weite Jogginghose von Sidney. Es war so früh am Morgen, dass sie nur darauf warten mussten, bis einer der Ärzte auf Bereitschaft zu ihm in den Behandlungsraum kam.
Rick lag bereits halb ausgezogen auf der Pritsche, versuchte einen Blick auf seine Schulter zu werfen, die rot-blau angelaufen war. Der Arzt schien weit über sechzig und hatte Mühe, seine Augen offen zu halten, außerdem war er so schwerhörig, dass Rick mehrmals wiederholen musste, dass er einen Motorradunfall gehabt hatte. Er erzählte haargenau, wie ihm die Maschine weggerutscht war und er mit ihr in den Straßengraben gesegelt war und sagte, dass seine Schulter zwar schmerzte, aber er sich bestimmt nichts gebrochen habe.
„Das werden wir sehen. Wir schicken sie jetzt erst einmal zum Röntgen. Sie sollten bei so einem Wetter nicht Fahrradfahren.“
Eine ebenfalls übermüdete Schwester brachte ihn in den Röntgenraum und er wurde einmal komplett durchleuchtet. Das übliche Prozedere nach einem Verkehrsunfall. Er hockte mit Sophie im Warteraum und wartete auf die Ergebnisse, sie tranken den schlechten Kaffee aus dem Automaten und Rick erzählte von den Fortschritten am Haus. Er sagte keinen Ton von dem Wagen, der den Unfall verursacht hatte, weil er mittlerweile selbst schon nicht mehr daran dachte. Vermutlich war er eingeschlafen ohne es zu merken und hatte sekundenlang geträumt. Der Unfall an sich war schon schlimm genug und er musste ihr nicht noch mehr Angst machen, indem er beichtete, dass er auf dem Motorrad eingeschlafen war.
Die Schwester kam mit den Röntgenbildern und erklärte, dass er sich nichts gebrochen habe. Die Prellungen und Schürfwunden waren behandelt und er bekam Schmerzpillen.
„Bin ich entlassen?“ fragte er und die Schwester antwortete mit einem in die Höhe gereckten Daumen.
In Sophies Bett schlief er mit einem Eisbeutel auf der Schulter und das verletzte Bein über der Bettdecke, dick eingeschmiert mit Wundsalbe. Er schlief bis in den frühen Vormittag und musste beim späten Frühstück wieder einige Fragen beantworten.
„Ich bin zu schnell gefahren im Regen“, sagte er.
Ein schneller weißer Wagen auf dem Mittelstreifen, der auf den letzten Metern in seine Richtung schwenkte. Der Fahrer hatte angehalten, wollte sehen, was er angerichtet hatte und war einfach weitergefahren.
„Du hättest dir den Schädel spalten können“, sagte Martha und er versprach, an einen Sturzhelm zu denken, wenn er sich eine neue Lederhose kaufte.
Es gibt nicht viele solcher Wagen in Maine, flüsterte Mascots Stimme, selbst in New York hast du die selten genug zu Gesicht bekommen. Halt einfach die Augen offen.
Er rief bei Fred an und sagte ihm, er würde für ein paar Tage nicht arbeiten können, weil er sich mit der Shadow zerlegt habe. Trotz der Arbeit an dem Haus arbeitete er noch immer stundenweise bei Fred in der Werkstatt, weil er das Geld brauchte. Es war seltsam, dass ihm bisher nur sehr selten der Gedanke gekommen war, einfach wieder ein paar krumme Dinger zu drehen und jedes Mal war die Verlockung nicht wirklich groß gewesen. Das Geld, was er ehrlich verdiente, gab er für die wichtigen Dinge aus. Wenn er wieder auf einem Schlag eine Menge Kohle in den Händen hatte, würde er es für Drogen ausgeben, weil er es nicht anders gewöhnt war. Es war schnelles und schmutziges Geld und wurde für schmutzige Dinge ausgegeben.
Fred sagte, er würde die Wagen in der Werkstatt stehen lassen und er könne vorbeikommen, sobald er es schaffte. Wenn die Besitzer allerdings auf die schnelle Reparatur bestanden, würde er die Reparatur selbst erledigen.
Bis auf das Pochen in seiner Schulter und die breitflächigen Schürfwunden, die unter dem Verband zogen und spannten, fühlte er sich gut und er verbrachte die meiste Zeit in der Garage, wo er die Blechschäden an der Shadow ausbesserte. Als er damit fertig war, fuhr er in den nächsten Motorradladen, kaufte eine neue Motorradhose und wie versprochen einen Sturzhelm. Er verbrachte knapp einen halben Tag vor dem Fernseher und sah sich „Married with Children“ an, bis er es leid war und mit der Shadow zu Fred fuhr. Er brauchte etwas länger, um auf den Boden zu kommen und wieder hoch und konnte sich nicht hinknien, aber er tauschte das zerbrochene Rücklicht an dem alten Toyota aus und entbeulte die Motorhaube des grell angemalten Käfers.
„Morgen fahr ich wieder auf die Insel“, sagte er, „aber du kannst mir für nächste Woche was dalassen.“
Er drehte eine Runde mit Carlos und sie kamen dreckverschmiert nach Hause.
Mud Season, dachte Rick, erst Schnee und Eis, dann kommt das warme Wetter und der Matsch. Bis der im Sommer wieder trocken ist, dauert es vermutlich nur drei Wochen und das Ganze geht von vorn los. Wer denkt sich solches Wetter aus?
Carlos war vom Schlamm vollkommen unbeeindruckt, folgte seinen üblichen Spuren und Duftmarken in der Gegend, verbellte sich mit dem Collie des Nachbarn, den er auf den Tod nicht leiden konnte, und fing ein paar Mal seinen Ball, den er zum Spaziergang mitgenommen hatte. Rick warf ihn hoch genug, dass er ihn aus der Luft fangen konnte und nur nass von seiner Spucke war.
Sie nahmen den Weg zurück ins Haus durch die Garage und durch den Mud Room, wo Rick den Hund mit alten Handtüchern so weit die Pfoten und den Bauch reinigte, dass er wieder ins Haus konnte. Wie üblich trabte Carlos in die Waschküche und inspizierte seinen Futternapf. Manchmal war er frisch gefüllt, wenn er wieder nach Hause kam und er vergaß nie, das zu kontrollieren.
Sophie war noch in der Redaktion der Lokalzeitung, deren Namen Rick immer vergaß, weil jede zweite Lokalzeitung in der Gegend so hieß. Und weil die Nachrichten darin kaum richtige Nachrichten waren. Welche Kuh hatte geworfen, welches Schaf hatte den Schönheitswettbewerb gewonnen, wer hatte ein Baby bekommen, hatte geheiratet, war gestorben.
Wir werden auch darin stehen, dachte Rick, sobald die Krabbe auf der Welt ist. Obwohl – vielleicht auch nicht. Vielleicht müssen wir erst heiraten, damit wir in der Lokalzeitung vorkommen.
Sophie hatte das Thema ihm gegenüber nicht einmal angesprochen, aber Rick hatte sie mit ihrer Mutter darüber sprechen hören. So ein Mutter-Tochter-Gespräch, das er nur durch Zufall und auch nur widerwillig belauscht hatte, während er Carlos in der Waschküche fütterte. Er hörte ihre Stimmen von nebenan, konnte nicht einordnen, ob solche Gespräche normal waren in einer Familie oder ob er sich Sorgen machen sollte. Wenn Martha ihrer Tochter den Wunsch einpflanzte, heiraten zu wollen, bevor das Kind auf der Welt war, wie sollte er darauf reagieren?
Nachdem er dieses Gespräch unfreiwillig belauscht hatte, wartete er darauf, dass entweder Sophie oder Sid etwas zu ihm sagen würden. Das Gespräch mit der anderen Seite, das Vater-Schwiegersohn-Gespräch, das ebenso peinlich wie befremdlich sein würde. Aber beides fand nicht statt.
Wenn Sophie darüber nachdachte, geheiratet zu werden, sprach sie Rick darauf nicht an.

Als Sophie nach Hause kam, sich in ihrem Zimmer umzog und den schmerzenden Rücken durchdrückte, musste sie sich daran erinnern, wie kurz die Zeit war. Das Baby würde vermutlich noch nicht auf der Welt sein, wenn sie in das Haus auf der Insel zogen, wenn es nach Rick ging. Sie würde ihr erstes Kind nicht zu Hause bekommen wollte. Sie wollte ein gut ausgestattetes Krankenhaus mit möglichst vielen Ärzten und Hebammen um sich herum, die wussten, was sie taten und die nicht mittendrin so etwas sagen würden wie „Ach du meine Güte“ oder „So was habe ich auch noch nicht gesehen“ und „Keine Ahnung, was wir jetzt tun sollen“. Darüber musste sie mit Rick sprechen. Sie hatte nichts dagegen, auf die Insel zu ziehen, aber sobald ihr Geburtstermin näher rückte, würde sie zurück nach Blue Hill ziehen. In die Nähe des Memorials, in dem sie sich die Geburtststation bereits angesehen hatte.
Er kann nichts dagegen haben, dachte sie, aber ich muss mit ihm darüber reden.
Nachdem sie Monhegan Island und das Haus am Ende der Lobster Cove Road besichtigt hatte, hatte sie in der Redaktion viel Zeit damit verbracht, alles über die Insel herauszufinden. Sie mochten eine Polizeistation, ein kleines Museum und eine Poststation haben, aber kein Krankenhaus, keine Schule.
Bislang verlief ihre Schwangerschaft vorbildlich, sie hatte Anflüge von Übelkeit am Morgen, die sie erfolgreich mit kleinen Portionen von trockenem Brot und Tee bekämpfte, sie überwandt jeden Tag die Müdigkeit und hoffte, sie hatte ebenso die Stimmungsschwankungen im Griff, aber das war etwas, was sie weder beurteilen mochte noch konnte. Sie konnte sehr gut damit leben, dass sich in ihren Füßen das Wasser ansammelte, wenn sie lange stand oder saß. Weitere Komplikationen wollte sie in Blue Hill ausleben und genießen (genießen, weil sie nichts dagegen machen konnte und ihr deshalb nichts anderes übrig blieb), und nicht auf der Insel.
Rick fand sie schlafend auf ihrem Bett, sie hatte sich zu einer Kugel zusammengerollt, weil sie im Schlaf zu frieren begonnen hatte. Er zog die Überdecke von seiner Seite des Bettes, deckte sie zu und beobachtete, ob sie davon aufwachen würde. Sie gab einen summenden Ton von sich, bewegte ihre Hände, die sie zwischen ihre Brüste gepresst hatte, und schlief weiter.
Rick zog sich aus, vorsichtig, weil die trockenen Krusten an seinem Bein an der Innenseite der Hose hängen blieben und sich mit leisen ziependen Ssssts verabschiedeten. Es tat nicht wirklich weh, aber es war sehr unangenehm. Einmal aus den Hosen, schmierte er die rosaroten Wunden mit der Salbe ein und schob erst das verletzte, dann das gute Bein in die alte Pyjamahose. Als er endlich im Bett neben Sophie lag, kein bisschen müde aber gelangweilt genug, um einschlafen zu können, zuckte Sophie neben ihm zusammen und schreckte hoch.
„Schlecht geträumt?“ fragte er, legte seine Hand auf ihre Schulter und sie wühlte sich aus der Überdecke.
„Ich weiß nicht“, sagte sie, „ich kann mich nicht erinnern, aber vielleicht war es auch nur ein Geräusch.“
„Da war kein Geräusch.“ Aber seine Stimme klang nicht überzeugend. Er kannte sich aus mit Geräuschen und Stimmen, die er hörte und die doch nicht da waren.
Sophie stand auf, der runde Bauch mit dem vorgewölbten Bauchnabel stach unter ihrem T-Shirt hervor, das ein wenig zu kurz war, sie zog die Überdecke beiseite, schlug die Decken auf und kroch ins Bett zurück.
„Wann bist du nach Hause gekommen?“ fragte sie, wühlte sich unter den Stepp- und Wolldecken zu ihm hinüber, ließ ihre Hände wandern und Rick sagte, er sei nur mit dem Hund spazieren gegangen nach der Arbeit.
„Du weißt schon, wie komisch sich das anhört“, murmelte sie.
„Andere Dinge wären noch viel komischer.“
Bevor sie fragen konnte, was er damit genau meinte, war sie schon wieder eingeschlafen.

Wieder auf der Insel kümmerte er sich weiter um den Wildwuchs, entdeckte dabei einen kleinen Schuppen, der vollständig unter altem Gebüsch verschwunden gewesen war und den ständigen Wind, Regen und Salzwasser erstaunlich gut überstanden hatte. Dort konnten sie zumindest Werkzeuge und alten Schrott lagern.
Englischen Rasen würden sie hier vermutlich niemals haben, aber die Fläche zwischen Haus und der Böschung, an deren Seite der Holzschuppen stand, war weitläufig genug, um Softball zu spielen oder Carlos jede Menge Frisbees fangen zu lassen.
Auf einem extra Haufen sammelte er die Flaschen, Plastikabfälle und anderes Zeug, was sich von diversen Strandpartys und Besuchern angehäuft hatte und überall herumlag. Er machte sich Sorgen wegen der Scherben, die vermutlich noch im Boden steckten, und würde viel Zeit darauf verwenden, alles abzusuchen.
Das Haus brachte er auch von außen in Schuss und entschied sich für ein strahlendes Blau für die Fassade und weiß für die Fensterläden. Von Wooley hatte er sich eine Leiter ausgeliehen und die Farbe hatten sie ebenfalls zusammen gekauft.
„Ich hab allerdings selbst genug zu streichen“, sagte er, „meine Bojen liegen schon die ganze Zeit rum und warten auf mich.“
In der Küche, die leer geräumt und gestrichen wirklich wie eine Küche aussah, obwohl nur eine altersschwache Spüle darin stand, überraschte Rick eine schwarze Katze, die ihn anfauchte und durch das halb geöffnete Küchenfenster nach draußen sprang. Er steckte den Kopf durch das Fenster und rief ihr nach: „Wir ziehen mit einem Hund ein, richte dich schon mal drauf ein.“

Das Haus wurde langsam bewohnbar, gleichzeitig wurde das Wetter endlich freundlicher. Der Regen wurde erst wärmer, dann hörte er irgendwann auf. Sophie verbrachte die freundlichen Nachmittage im Garten ihrer Eltern, lag mit einem Buch in einem Lehnstuhl und mit einer Wolldecke über den Beinen. Sie gab sich den Fressattacken hin und überprüfte jeden Morgen ihren Bauchumfang mit einem Maßband. Rick hatte an einigen Kursen zur Geburtsvorbereitung und Babypflege teilgenommen und sie hatte ihn nur einmal darum bitten müssen. Zu ihrer Überraschung hatte er sich sehr gesittet und fast schüchtern benommen, offensichtlich überwältigt von der Anwesenheit vieler schwangerer Frauen. Sie kam nicht auf den Gedanken, dass er etwas getan haben könnte, von dem er vermutete (nicht wirklich sicher war), dass es gegen seine guten Vorsätze verstoßen hatte. Hollis hatte angerufen und er hatte ihn spontan eingeladen, ihm auf der Insel zu helfen und Hollis hatte sofort den nächsten Bus genommen. In Burnswick hatte er ihn mit der Shadow abgeholt.
Hollis hatte eine abgeschabte Sporttasche dabei, die er sich vor den Bauch drückte, als er hinter Rick auf die Shadow stieg. Sein Haar war länger geworden und er sah ein wenig aus wie ein roter Bobtail.
„Wir müssen uns beeilen“, rief Rick nach hinten, „wenn wir die Fähre verpassen, sitzen wir den halben Tag fest.“
„Ist Sophie auch auf der Insel?“
„Sie ist zu Hause bei ihren Eltern. Rund wie eine Kugel.“
Während der Überfahrt sprachen sie wenig, es waren zu viele Leute um sie herum und die meisten von ihnen grüßte Rick mit einem Nicken oder Winken. Von Hollis erntete er deswegen einen komischen Seitenblick und er erklärte: „Die Insel ist klein genug, dass man innerhalb von zwei Tagen alle Einwohner kennenlernt.“
„Ich hoffe, du weißt, worauf du dich da eingelassen hast.“
Von dem Strandhaus war Hollis restlos begeistert, er wanderte durch die Räume angefangen bei dem Gästeraum, der das Kinderzimmer werden würde, dessen Fenster zum Meer rausging. Das Bad lag zwischen dem Gästeraum und dem großen Schlafzimmer. Durch die Küchentür gelangten sie in den Garten, der zwar freigeschnitten und ohne Müll war, aber noch immer nicht wie ein Garten aussah. Dort rauchten sie eine Zigarette, lauschten dem Rauschen der Wellen und dem Kreischen der Seevögel.
„Wieso sind die anderen Häuser leer?“ fragte Hollis.
„Die werden vermutlich erst in den Sommermonaten bezogen. Bist du bereit für ein wenig Scheißarbeit?“
Hollis meinte, es gäbe Schlimmeres und sie pinselten Farbe an die Wände des Kinderzimmers, bauten die Küchenmöbel auf, die Rick für wenig Geld in Port Clyde gekauft hatte, und versuchten es ordentlich zu machen.
„Bist du sicher, dass Sophie diese Farben für das Kinderzimmer wollte?“ fragte Hollis. Sie hatten die Farbe erst ordentlich an die Wände gepinselt, dann hatten sie wilde Muster gemalt, die sich über die ganzen Wände zogen.
„Sie hat davon keine Ahnung“, sagte Rick. Er hatte sich einen Stofffetzen um die Stirn gebunden, war mit Farbe beschmiert und sah aus wie ein angeschossener Fernsehcowboy.
„Aber sie schmeißt mich mit Büchern und Zeitschriften zu und da steht drin, dass Kinder auf bunte Farben stehen. Und erzähl mir nicht, das wäre nicht bunt.“
„Das sieht aus wie ein Angeldust-Trip“, sagte Hollis, „aber vielleicht bereitet das alles das Baby auch auf die wirkliche Welt vor.“
Rick stand in der Mitte des Raumes, drehte sich um die eigene Achse, die Hände in die Hüften gestemmt. Er drehte sich, betrachtete die Muster, die sie kreiert hatten, und kratzte geistesabwesend die juckende Hautstelle an seinem Knie.
„Wenn’s ihr nicht gefällt“, sagte er, „mal ich einfach wieder drüber.“
Sie legten es nicht darauf an, alles an einem Tag zu schaffen und zogen am frühen Abend in die Bar am Hafen. Es war kaum mehr als ein kleiner Raum mit Theke und Zapfanlage und Lizenz zum Alkoholausschank, aber es war die einzige Bar auf der Insel.
Sie tranken ein paar Bier, fuhren trotzdem mit der Shadow zum Haus zurück und machten ein Lagerfeuer am Strand, wo sie Schweinswürstchen grillten.
„Das ist nicht Coney Island“, sagte Hollis, „aber es ist in Ordnung. Du kannst neu anfangen, das ist es, was du wolltest.“
„Das ist die letzte Chance, die ich habe. Wenn ich das versaue…“ Er wedelte mit dem halb verbrannten Würstchen und ließ den Rest unausgesprochen.
Sie schliefen in dem Haus auf blanken Matratzen und Rick vermisste Carlos, der immer der Dritte im Bunde gewesen war, wenn sie unterwegs gewesen waren.
„Vermisst du sie?“ fragte Hollis und er antwortete mechanisch: „Natürlich.“
Sophie schien so weit weg in diesem Moment, es war ein anderes Leben, wenn er mit Hollis unterwegs war. Manchmal schien es ihm, als würde Mascots Stimme dann in den Hintergrund treten, als sei es nicht nötig, von ihm zu hören, wenn Hollis in der Nähe war.
Ich mache keine Dummheiten mehr, dachte er, und Mascot hat mich nicht vor dem weißen Sportwagen gewarnt, auch wenn er es hinterher behauptet hat. Es wird alles gut laufen, es geht gar nicht anders.

Sie arbeiteten drei Tage lang und feierten bis spät in die Nacht am Strand, hatten sich mit Bier und Whiskey eingedeckt und für den letzten Tag organisierte Rick einen anständigen Grill und Steaks und sie veranstalteten ein Fleisch- und Alkoholgelage. Das Haus war fertig. Sie hatten die Wände gestrichen, Teppiche ausgerollt, die Küche eingerichtet, das Bad mit neuen Armarturen ausgestattet (dabei hatte ein Freund von Wooley geholfen, der sich mit Gas, Wasser und Scheiße auskannte) und sie hatten den alten Gennie wieder ans Laufen gebracht.
„Mit diesen Dingern kenne ich mich mittlerweile aus“, sagte Rick, „so was hat hier jeder hinter dem Haus, weil auf die Stromversorgung kein Verlass ist.“
Sie fuhren am späten Morgen mit einem wundervollen Kater auf der Shadow von Port Clyde nach Burnswick, warteten dort auf den Bus nach New York. Rick hatte das Gefühl, sein Magen gehöre jemand anderem und bei seinem Schädel war er sich auch nicht sicher. Sie hockten in dem Wartesaal beim Kaffeeautomaten und flüsterten miteinander.
„Wir könnten einfach mit der Shadow zurückfahren“, sagte Hollis.
„Du weißt genau, was dann passiert. Ich bleibe hier, du fährst nach Hause.“
„Ich komme dich besuchen, wenn mir langweilig wird.“
„Ich bin nicht aus der Welt, buddy.“
„Du bist sogar noch weiter weg.“

Hollis stieg erst in letzter Sekunde in den Bus, setzte sich auf die Seite, wo er Rick nicht mehr sehen konnte und fuhr davon.
Er ist eifersüchtig, dachte Rick, und er nimmt es mir übel. Ich wäre es auch an seiner Stelle.
Er fuhr mit einer heftigen Unruhe im Bauch zurück nach Blue Hill, schob es auf den Kater, den er hatte, und wollte sich nicht eingestehen, dass die Trennung von Hollis der wahre Grund war. Er wusste, dass er ihn vermutlich nicht wiedersehen würde.
 
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Kommentare  

So nun ist die Trennung von Hollis wohl entgültig. Rick hat wohl wirklich vor, sich zu ändern. Das Haus auf der Insel, lässt ihn wohl hoffen, einen Neuanfang zu wagen. So, jetzt mache ich erst einmal schluss, lese aber bestimmt bald weiter.

Petra (17.01.2011)

Hab`s mir schon gedacht, dass er ihnen nicht gerade eine Villa schenken, würde, aber Rick und Sophie sind wohl froh, dass sie überhaupt ein Dach über dem Kopf bekommen können. Doch frage ich mich, ob der Wagen nicht absichtlich Rick von der Fahrbahn gedrängt hat?

Jochen (10.11.2010)

Jetzt ist es eine schöne , ingteressante Story. Du hast den Fluss ein bisschen gesteigert, die Gespräche sehr gut beschrieben, und auch sonst könntest du ihne weiteres zu einem Verlag gehen, und die Story veröffentlichen!Sehr gute Arbeit!!!beste grüße

Jürgen Hellweg (07.11.2010)

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