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6 Seiten

Wölfin der Taiga - 4. Kapitel

Romane/Serien · Fantastisches
Jade zuckte zusammen. Sie öffnete die Augen. Völlig orientierungslos setzte sie sich auf. Der Boden unter ihr war nass und kalt. Ihre Hände gruben sich in die feuchte Erde. Nur langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit. In einiger Entfernung brannten sah sie die Lichter ihres Hauses leuchten.
Sie sprang auf die Füße. Erst jetzt bemerkte sie, dass diese nackt waren. Sie fröstelte. Warum war sie hier? Hatte sie nicht vorhin noch im Wohnzimmer gesessen und in den alten Sagen der Mohawks gestöbert?
Ihre Arme und Beine schmerzten. Erschlagen machte sie sich auf dem Weg zum Haus. Leise öffnete sie die Türe und begab sich nach oben in ihr Zimmer. Das Licht wollte sie lieber gar nicht erst einschalten, wer weiß welche Überraschungen sie noch erwarteten.
Als sie sich auf ihr Bett sinken ließ, zog es fürchterlich in ihren Beinen. Jade biss die Zähne zusammen. Das konnte kein Muskelkater sein. So sehr war sie nun auch nicht aus der Übung, auch wenn sie das Ballett in letzter Zeit stark vernachlässigt hatte…
Mit einem langgezogenen Stöhnen zog sie ihre Kleidung aus und ließ sich in zurück in die Kissen fallen. Noch lange lag sie wach und starrte aus dem Fenster. Der Mond schien hell durch die Bäume vor dem Haus und zeichnete wirre Schatten auf ihren Zimmerboden. Erst, als es bereits zu dämmern begann, fiel Jade in einen unruhigen Schlaf, der von Wölfen begleitet wurde…

„Was zur Hölle…?!“ Florence schnappte nach Luft, als Jade am nächsten Morgen die Küche betrat. Nach dem Duschen war sie in ihre Hotpants und ein Top geschlüpft, also hätte sie damit rechnen müssen, dass es ihre Mutter auffallen würde. „Jade, was hast du angestellt?“ Florence stand vom Frühstückstisch auf und umrundete Jade inspizierend.
Jade zuckte die Schultern. Sie hatte ja selber keine Ahnung. Dass sie in der letzten Nacht auf dem Boden mitten im Wald aufgewacht, konnte sie sich vielleicht noch erklären, aber woher die tiefen Kratzer an ihren Armen und die blauen Flecke an ihrem Hals kamen, wusste sie beim besten Willen nicht.
Jade ließ sich auf den nächsten freien Stuhl sinken und rieb sich den Nacken. Alles an ihrem Körper schmerzte so sehr, als hätte sie einen Kampf gegen einen Ringer verloren. Sie blickte auf ihre Beine herab. Den letzten Schmutz der gestrigen Nacht hatte sie vor einigen Minuten in der Dusche beseitigt. Sie hatte sich heute Morgen selbst den größten Schreck eingejagt. Ihre Arme und Beine waren blutverkrustet gewesen, Erde hatte an ihrem Körper geklebt. Noch jetzt fühlte sie sich wie gerädert. Doch das schlimmste war – sie hatte keine logische Erklärung für ihr erschreckendes Aussehen am Morgen, geschweige denn für diesen nächtlichen Ausflug und ihr Erwachen auf dem Waldboden.
Jade nahm sich einen Apfel aus dem Korb in der Mitte des Tisches und biss herzhaft hinein. Florence zog ihren Stuhl näher an Jade heran, um ihren Hals besser betrachten zu können. Ihre Fingerspitzen berührten vorsichtig die blauen Flecke. Jade zuckte zusammen.
„Mum, lass das!“ Sie drehte den Kopf beiseite. „Die gehen schon wieder weg, das ist nichts Schlimmes…“
Florence zog ihre Hand zurück. Sie dachte an das Gespräch von gestern Nachmittag zurück, an das, was sie Jade über die Wölfe erzählt hatte. Krampfhaft versuchte sie sich die Bilder ins Gedächtnis zu rufen, die die Kinder vom Stamm gezeigt bekamen, wenn die Alten die Legenden erzählten. Wie die Wölfe nach ihrer Rückkehr aussahen. Es gelang ihr nicht. Sie seufzte resignierend. „Jade, du musst unbedingt mit Deinem Großvater reden!“ Ihre Stimme klang drängender, als sie es beabsichtigt hatte.
Ihre Tochter nickte. „Das habe ich vor. Ich wollte später ins Reservat fahren. Woher kommt diese plötzlich Erkenntnis?“
„Ich… ich glaube, ich konnte die gestern nicht alles über die Wölfe erzählen. Es ist einfach schon zu lange her. Ich selbst habe nie einen der Wölfe gesehen. Das war lange vor meiner Zeit. Alles, was ich über die Wölfe weiß, stammt aus Erzählungen der Alten.“ Florence zog die Stirn kraus. Sie sorgte sich um ihre Tochter. „Ich weiß nicht, was Dein Großvater Dir noch alles erzählen kann – definitiv mehr als ich. Es ist gut, wenn Du das weißt, auch wenn ich vermute, dass das alles zu nichts führen wird.“ Sie berührte Jade sanft am Arm. „Außerdem wüsste ich keinen vernünftigen Grund, warum Du ein Wolf sein solltest…“
Jade nickte. Es beruhigte sie, dass ihr Mutter genauso dachte wie sie – auch wenn ihr damit in keinster Weise geholfen war.
Neben ihr auf dem Tisch vibrierte ihr Handy. Gabriella rief an. Jade biss sich auf die Lippe. Sie hatte ein schlechtes Gewissen. In den letzten Tagen hatte sie ihre Freundin ziemlich vernachlässigt. „Hey, Gabriella!“
„Hey, Jade, wie sieht’s aus? Lust auf Joggen an der Marina mit anschließendem Eisessen?“
Jade musste schmunzeln. Sogar aus Gabriellas Stimme sprühte die pure Lebensfreude. Jade war froh über diese willkommene Ablenkung. Sie wusste genau, sie würde verrückt werden, bliebe sie zu Hause sitzen und hätte Zeit sich Gedanken zu machen. „In einer halben Stunde an der Marina!“, antwortete Jade und klappte ihr Handy zu. Voller Vorfreude Gabriella wieder zu sehen, sprang sie auf – zuckte aber sofort zusammen, als der stechende Schmerz sie wieder durchfuhr. Florence sah sie erschrocken an.
„Nichts passiert, Mum!“, beschwichtigte Jade und nahm sich fest vor, diesen Schmerzen und dem Auslöser dafür auf den Grund zu gehen.
Als Jade am großen Spiegel im Flur vorbeilief, erschrak sie. Sie konnte sich unmöglich in diesem Aufzug mit Gabriella treffen. Ihr würden ihre Verletzungen sofort auffallen und dann würde sie wieder unangenehme Fragen über sich ergehen lassen müssen. Andererseits würde Gabriella genauso misstrauisch werden, wenn sie in Winterkleidung auflaufen würde. Jade verzog das Gesicht. Mit den Fingerspitzen fuhr sie vorsichtig an den blauen Striemen, die sich wie eine Kette um ihren Hals legte, entlang. Wenigstens ein Tuch würde Jade sich umlegen müssen, um diese erschreckenden Male zu verdecken. Auf dem Weg zur Marina konnte sie sich dann eine passende Geschichte dazu einfallen lassen…

Gabriella hatte ihre braunen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, dessen einzelne Strähnen in der Brise des Meeres tanzten, während sie mit Hilfe des Steg-Geländers ihre Beine dehnte.
Als Jade ihre Freundin entdeckte, musste sie schmunzeln. Seit Jahren versuchte sie Gabriella das richtige Dehnen beizubringen und noch immer riss sich ihre Freundin dabei beinahe sämtliche Gliedmaßen aus.
Jade gesellte sich zu Gabriella, hob mit der Anmut einer Ballerina ihr Bein auf das Geländer, den Fuß gestreckt, sodass er eine Linie mit dem Bein bildete.
„Gaby, hör auf, Du zerstörst Dein Knie!“, unterbrach sie ihre Freundin zwischen zwei Ächzern. „Schau her…“ Jade zog die Arme zu ihren Zehenspitzen und beugte ihren Oberkörper über ihr Bein, bis die Finger ihre Zehen berührten.
Gabriellas Bein schnalzte zurück zum Boden und kam mit einem dumpfen Geräusch auf dem Holzsteg auf. „Jade, gib‘s auf, bei mir ist das vergebene Liebesmüh…“
Jade grinste sie über ihren Arm hinweg an und beendete ihre Dehnübung, bevor die vor Ungeduld tippelnde Gabriella ein Loch in den Holzsteg gelaufen hatte. „Na, dann komm!“ Gemeinsam begannen sie ihre morgendliche Joggingrunde. Gabriella und Jade waren ein aufeinander eingestimmtes Team. Jede kannte das Lauftempo der anderen und keine wagte es, auch nur einen Tick schneller zu laufen. Doch an diesem Tag dauerte es nicht lange, bis Jade in ihrer Welt versunken war und Gabriella ein ganzes Stück hinter sich gelassen hatte. Jades Füße schienen den Erdboden kaum zu berühren und trotz der Schmerzen in sämtlichen Gliedmaßen waren ihre Bewegungen flüssig. Nur ab und zu bemerkte sie, dass ihr Bein ihrem Gewicht nicht standhalten konnte und unter ihr wegknickte.
Jade lief und lief. Lief, ohne die Geschwindigkeit ihrer Schritte zu bemerken. Lief, ohne die geringste Anstrengung zu verspüren. Sie lief einfach. Bis –
„Stop!“ Gabriellas Stimme drang zu ihr vor wie aus weiter Ferne.
Jade bremse abrupt ab und blieb stehen. Es dauerte einen Moment, bis Gabriella zu ihr aufgeschlossen hatte. Sie stütze die Hände auf die Knie und atmete heftig.
„Was war das denn? Seit wann hast Du so ein Tempo drauf?“
Jade biss sich auf die Lippe. Wenn sie das wüsste… Sie zuckte mit den Schultern und betete, dass sich dieses Thema damit erledigt hatte.
„Komm, lass uns in das kleine Café dort drüben gehen. Genug Anstrengung für heute.“ Jade strich Gabriella, die immer noch nach Luft rang, beruhigend über den Rücken. Gabriella nickte.
Sie suchte sich ein Tisch, von dem aus sie die ganze Marina überblicken konnten. Der Kellner brachte die Getränke und Jade versank wieder völlig in ihrer Welt, bis sie Gabriellas kühle Finger auf ihrer Schulter spürte. Jade zuckte zusammen, als sie die Linien ihrer Verletzungen nachzeichnete. Jade atmete hörbar aus.
„Jade, was ist passiert?“ Gabriellas Stimme, die sonst immer ruhig und besonnen klang, war jetzt scharf und drängend. Zu lange hatte sie die Verletzungen ihrer Freundin mit angesehen, ohne einen erklärbaren oder gar sinnvollen Grund dafür erkennen zu können.
Jade zog an ihrem Strohhalm und schüttelte langsam den Kopf. „Gaby, ich kann dir das nicht erzählen. Du würdest mir für völlig verrückt halten…“
Gabriella sah Jade durchdringend an. „Wenn ich Dich für verrückt halten wollen würde, hätte ich schon viel eher eine Gelegenheit dafür gefunden. Also, was ist passiert?“
Jade ließ ihren Blick schweifen. Es stimmte, was Gabriella sagte. Schon so viel hatten sie gemeinsam erlebt und jedes Mal hatte Gabriella zu ihr gestanden und ihr den Rücken gestärkt. Sie würde ihr es nur zu gern erzählen. Nur, was sollte sie ihr erzählen? Von nächtlichen Ausflügen, die sich selber nicht erklären konnte, genauso wenig, wie Kratzer und Bissspuren an ihrem Körper? Legenden von Wölfen, deren Wahrheitsgehalt sie nicht einzuordnen vermochte? Sie entschied sich für die Kurzform.
„Ich weiß es selbst nicht so genau. Seit ein paar Nächten unternehme ich rätselhafte Ausflüge und wache am nächsten Morgen mit diesen Verletzungen auf, ohne mich an irgendetwas erinnern zu können. In der Everest Bibliothek habe ich ein Buch der Mohawks gefunden, die so etwas ähnliches beschreiben. Heute Nachmittag werde ich mich mit meinem Großvater treffen. Er hat Vermutungen, die mit irgendwelchen Legenden des Stammes zusammenhängen. Wölfe und so…“
Gabriella zog die Augenbrauen nach oben. „Wölfe? Du meinst… Werwölfe?“
Jade verzog das Gesicht. „Gaby, glaub dieses Zeug nicht.“ Sie zog wieder an ihrem Strohhalm. „Zumindest nicht, bis ich ein paar Fakten darüber habe…“, murmelte sie in ihren Milchshake.
Gabriella nickte, sie schien zu verstehen, was Jade an dieser Sache beunruhigte. Einmal mehr in letzter Zeit war Jade froh, so eine ruhige, ausgeglichene Freundin zu haben, die sich nicht mal bei Geschichten über Werwölfe aus dem Konzept bringen ließ. Jade war sich sicher, Gabriella würde nicht weiter nachfragen, bis sie von selbst wieder etwas zu diesem Thema sagen würde, mochte sie sich noch so große Sorgen machen.
Mit einem Mal ging ein Ruck durch Jades Körper. Sie richtete sich auf, alle ihre Sinne waren geschärft.
„Jade, alles in Ordnung?“ Gabriella sah sie von der Seite an, doch Jade nickte nur.
Sie kniff die Augen zusammen und lauschte. Der Wind fegte durch ihre Haare und brachte einen Geruch mit sich. Jade atmete tief ein, hielt den Geruch fest. Sie wusste nicht, woher er kam, doch er war ihr so vertraut, so bekannt, als würde sie ihn jeden Tag riechen. Jades Haare vollführten weiterhin den Tanz mit dem Wind. Sie war bis aufs Äußerste gespannt, jede Faser ihres Körpers schien unter Strom zu stehen. Jade erhob sich von ihrem Platz und folgte der Richtung, aus der der Wind diesen wundervollen Geruch zu ihr getragen hatte. Mit der Anmut einer Tänzerin bewegte sie sich über die Planken der Marina – und blieb ruckartig stehen, als er um die Ecke trat…
 
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Kommentare  

Wirklich schön geschrieben.

Gerald W. (18.04.2011)

Ein geheimnisvolles Kapitel mit einem spannenden Ende. Wer riecht so gut und kommt da gerade?

Jochen (11.04.2011)

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