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40 Seiten

Dark Mirror

Schauriges · Kurzgeschichten · Fan-Fiction/Rollenspiele
Dark Mirror


Über allen Gipfeln ist Ruh,
in allen Wipfeln spürtest du
kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur,
balde
ruhest du auch.

Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), dt. Dichter



Dark Mirror.

Prolog.



“Sie starb letztendlich am multiplem Organversagen. Sie hat die letzten Stunden nicht leiden müssen.”
Dr. Willard schob sich wieder seine Lesebrille auf die Nase und sah April aus klugen und braunen Augen ohne falsches Mitgefühl an. Sie war Dankbar dafür.
Sie hatte sich die Haare im Nacken zu einem ordentlichen Pferdeschwanz zusammen gebunden und dennoch fühlte sie sich zu frei für diesen Anlass.
Wieder einmal machte sie den Mund auf, um etwas zu sagen, räusperte sich dann erst und schluckte.
“Wird ihre Familie für alles aufkommen? Wenn nicht, dann…”
Dr. Willard schüttelte den Kopf.
“Nein, nein, es ist für alles gesorgt. Da brauchen sie sich keine Gedanken zu machen.”
Er lächelte. Es wirkte wie einstudiert. Ihm war auch nicht nach Lächeln zumute, aber man hatte es ihm so beigebracht. Es sollte ein vertrautes Gefühl vermitteln, doch es hatte keine Wirkung bei ihr.
Er lehnte sich in seinem Sessel zurück….April hörte, wie er unter der Last des Mannes knirschte, dessen Bauchumfang wohl das Meiste seines Gewichtes ausmachte….und legte seine dennoch seltsam filigranen Hände auf die Kugel, die er in seiner Körpermitte vor sich her schob.
April starrte sie eine Weile an, schüttelte sich dann innerlich und sah wieder hoch.
“Es war ihr sehr wichtig, dass er es bekommt.“ , erklärte er weiter. “Sie erwähnte es in den letzten Stunden ihres Lebens wieder und wieder. Nun ja, ich persönlich sehe keine andere Möglichkeit, als da die Star Sheriffs ein zu schalten. Ich vermute, ich kann es ihm nicht als Päckchen schicken.”
April nickte langsam.
Vor ihrem geistigem Auge klingelte ein freundlicher Postbote in grau-grüner Uniform bei Jesse an der Tür, hielt ihm ein Päckchen hin, dass der blauhaarige junge Mann brav quittierte.
Sie lächelte leicht.
“Wir werden unser bestes probieren….allerdings stehen auch für uns nicht gerade seine Türen offen. Ich bin mir nicht mal sicher, ob ihr Tod ihn in irgendeiner Weise interessiert.”
Die letzten Worte klangen verbittert. Nicht, dass sie es geplant hätte. Es war einfach so. Eine schlichte Tatsache. Faktum, Basta.
April strich sich fahrig über die schlanken Oberschenkel.
Ihr Gegenüber nickte verständnisvoll, ließ aber nicht locker.
“Es war ihr so wichtig. Sie legte ihre ganze Energie hinein. Alles, was sie wollte, was sie immer und immer wieder sagte, war, das Jesse Blue es nach ihr Ableben bekommt.”
Für die blonde, junge Frau war das immer noch ein Rätsel. Er hatte ihr so weh getan, ihr so übel mitgespielt, ihr sein wahres Gesicht gezeigt….jenes, welches hinter der hübschen und charmanten Maske hauste…nein, gar lauerte.
“Wir werden dafür sorgen, dass er es bekommt. Ich verspreche es. Ich wünschte nur, ich könnte es auch ihr noch versprechen.”
Sie senkte den Kopf: Sie wollte dem Anderen nicht zeigen , wie Tränen sich unter ihren Lider hervor stahlen.
Er machte es ihr einfacher, indem er so tat, als würde er es nicht bemerken.
Nach einer scheinbaren Ewigkeit sah sie auf.
“Kann ich es mitnehmen? Oder ist es irgendwo untergebracht?”
Dr. Willard war sichtlich erleichtert, dass die Navigatorin hier nun nicht hemmungslos zu weinen beginnen würde. In dreißig Jahren des Arztseins hatte er sich immer wieder erfolgreich aus der Affäre gezogen, wenn junge Frauen weinten.
Es machte ihn nervös-
Nicht, dass sie weinten…sondern das es ihm gefiel.
Ein Schweißfilm hatte sich fast unmerklich auf seiner Stirn gebildet, als er April erklärte, dass sie es mitnehmen kann.

***

“Es ist groß.”
Colt hatte das etwa 1.20 lange und 1 Meter breite, in brauner Folie eingepackte Etwas auf den Tisch gelegt. Es nahm beinahe die ganze Fläche ein und so musste er auf die Anrichte greifen, um an seinen Kaffee zu kommen.
Eine Tasse hatte das Gebilde schon herunter geschmissen und ein weiteres Mal wollte er es nicht riskieren.
Schließlich und endlich hatte er über den Tag verteilt schon genug böse Blicke geerntet. Die meisten von April, einige von Fireball aber auch Saber hatte schon eine Augenbraun hochgezogen, nachdem Colt einen sarkastischen Kommentar über das gemacht hatte, was wohl eingepackt nun auf dem Tisch lag.
“Wie sollen wir es denn zustellen?”
Fireball setzte sich an den Tisch, beugte sich tief, um die Dicke des Päckchens aus zu machen. Fünf Zentimeter, Nicht mehr. Die Tiefe einer normalen Leinwand.
“Dr. Willard hat erzählt, dass sie bis zur letzten Stunde ihres Lebens daran gemalt hat. Ich wusste gar nicht, dass sie malt. Ich wusste eigentlich nichts über sie.”
Saber fuhr sich mit der flachen Hand über die noch unrasierte Wange. Es machte es kratzendes Geräusch das seltsam lange nachhallte.
“Wir haben uns aus den Augen verloren. Deswegen brauchst du kein schlechtes Gewissen zu haben.”
April wusste, dass er recht hatte.
Die ersten Monate, nachdem sie Tris von Jesse befreit hatten, war der Kontakt freundschaftlich gewesen. Sie trafen sich, waren zusammen in der Stadt…dann telefonierten sie viel miteinander, schließlich, nach zwei Jahren, schrieben sie sich nur noch, erst regelmäßig, dann, nur noch zu besonderen Anlässen. Und im letztem Jahr hatten sie sich dann völlig aus den Augen verloren. Das Tris krank war…so sehr krank, dass ahnte sie nicht.
Nicht einmal im Traum.




***


Tagebucheintrag “19. September.”


Eigentlich kann ich es nicht einmal glauben. Kann sich das einer Vorstellen? Ich bin nun der Besitzer eines wirklich hässlichen Bildes. Aber nichts für ungut. Es ist von Tris. Sie hat es selbst gemalt. Ich muss zugeben, dass ich ein bisschen durcheinander bin. Ich wusste nicht, dass sie krank war. War sie es denn schon, als wir uns kannten? Ich weiß es nicht. Bemerkt habe ich nichts,…aber ich hatte andere Sachen im Kopf. Vielleicht hätte sie blutend vor mir zusammen brechen können und ich hätte es nicht einmal bemerkt.
Die ganze Angelegenheit entging nicht einer gewissen Komik. Saber hatte es tatsächlich geschafft, eine Signatur der Basis zu bekommen, auf der wir uns gerade befinden. Nun, sie liegt im absoluten Grenzbereich also was soll’s. Machen können sie eh nichts. Wir befinden uns nicht im Gebiet des KOK, wenn wir auch draufspucken könnten . *g*
Er sagte, dass….”



***



“…sie dir tatsächlich was hinterlassen hat.”
Jesse, immer noch im Taumel dessen, dass er in seinen privaten Räumen stand, und über die große Leinwand mit Saber kommunizierte, zog eine Augenbraun hoch.
Er hatte eine Tasse Kaffee in der Hand, die nun langsam aber sicher drohte, aus zu kippen, weil er sie schlicht vergessen hatten.
“Sie ist tot..”, wiederholte er wieder.
Ihm wurde kalt und er schlang einen Arm um seinen nackten Oberkörper. Vor weniger als fünfzehn Minuten hatte er noch in seinem weichen und warmen Bett gelegen.
Bis jemand an seiner Schulter rüttelte und er wie aus weiter Ferne hörte, dass jemand an seinem Com war.
Nun stand er hier, mit langsam erwachendem Verstand.
“Ja, verstorben.”, erklärte Saber noch einmal.
Er sah auf die Uhr.
“Vor wenigen Stunden.”, fügte Saber hinzu.
“Verstorben…” Jesse kam sich schon blöd vor, weil er ständig wiederholte, was der Blonde ihm sagte.
Saber, der auf dem großen Monitor in seinem Wohnzimmer bedrohlich nah wirkte, obschon er tausende von Kilometer entfernt war, holte einmal tief Luft.
“Hast du verstanden, dass sie dir was hinterlassen hat.”
“Mir was hinterlassen…”
Wieder eine Wiederholung, wieder ärgerte er sich, schüttelte den Kopf und konzentrierte sich.
“Ich kann mir gar nicht denken, was sie mir hinterlassen haben wollen würde.”
Sekundenlang dachte er tatsächlich über die grammatische Richtigkeit des Satzes nach, wobei er kurz nach recht unten sah, dann wieder aufschaute und Saber unschuldig lächelnd anblickte.
“Was ist es denn?”
Saber lächelte zurück. Er konnte sich bewusst nicht daran erinnern, dass er den blauhaarigen jungen Mann schon mal angelächelt hatte.
“Es ist ein Bild. Ein selbst gemaltes Bild. Es war ihr wohl sehr wichtig, es zu Ende zu stellen. Sie hat bis zum Schluss daran gearbeitet.”
“Ein Bild?”
Saber grinste. “ Ja, ein Bild.”
“Was ist drauf?”, hakte Jesse nach, aber nun zuckte der Blonde die Schultern. Er wusste es nicht. Sie hatten es nicht ausgepackt.
“Wie und wann können wir es dir übergeben?”
Jesse dachte einen Augenblick darüber nach.
“Ohne Tricks? Ich bekomme das Bild und wir gehen wieder unserer Wege?”
“Ohne Tricks.”, bestätigte der Kopf der Star Sherrifs.
Jesse lächelte offener.
“Dann komme ich heute nach Yuma City. Central Park. So um 19.00 Uhr.”


***



Kapitel 1

Brechen.

Tagebucheintrag 20. September.

“Ich konnte nicht schlafen. Ich weiß nicht, wieso. Die ganze Nacht habe ich mich von einer Seite auf die andere gewälzt. Das Bild habe ich abgeholt. Hm, es war eher aus Neugier, als irgendwas anders. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Vielleicht ein Landschaftsbild oder etwas romantisches. Statt dessen…
Es ist das Bild eines Spiegels.
Ja, da ist nur ein Spiegel drauf. Also man sieht in einen Raum, der weit und groß und hell ist. Doch es stehen keine Möbel drin. Dort ist ein Fenster, welches geöffnet ist. Vorhänge wehen im Wind. Helle Vorhänge. Und dann ist da neben dem Fenster an der Wand ein Spiegel.
Ich glaube, er ist aus Holz.
Aber das Glas ist dunkel. Wie schwarzes Glas. Es ist auch nichts im Spiegel zu sehen.
Nichts spiegelt sich.
Seltsam.
Als ich es ausgepackt habe, ist mir nahezu schlecht geworden.
Ich kann nicht einmal sagen, was mich geritten hat, aber ich habe es aufgehängt.
Ja.
Ich habe es aufgehängt.
Nun sitze ich hier an meinem Schreibtisch und starre es wieder und wieder an.
Die Übelkeit ist vorüber.
Ich habe wohl was falsches gegessen.
Ich habe… …

***

….

“…gekotzt wie ein Bullemiekranker.”
Jean hob eine Augenbraun und klopfte Jesse wieder auf den Rücken. Eine eigenartig freundschaftliche Geste, die er hin und wieder anwandte.
Im Laufe der letzten zwei Jahren hatte sich so was wie eine Freundschaft entwickelt obschon es zu Anfang so aussah, als würden sie sich eher gegenseitig umbringen.
Nachdem Jean in sein Team versetzt wurde, trotz Jesse Protesten Nemesis gegenüber, hatten sie sich die ersten Tage angeschwiegen, schließlich angebrüllt und Lühr machte ihre Witze darüber, dass sie dringend schon einen Vorrat an Reinigungsmitteln brauchten, weil sie damit rechnete, dass sich eines Tages eine schmierige, dunkle Blutspur durch die Korridore ziehen würde.
Doch es wurde anders, als sie es erwartet hatte.
Sie hatten sich arrangiert. Erst zaghaft, dann jedoch intensiver und schließlich und endlich waren sie an den Punkt gekommen, an dem sie sich jetzt befanden.
Nun ja, zur Zeit befanden sie sich vor Jesses Toilette.
Der blauhaarige zog die Spülung und beobachtete, wie sein Mageninhalt den Weg der Schwerkraft folgte und schließlich im Untergrund verschwand.
Er spuckte noch einmal hinterher. Sein leicht grünlicher Speichel trieb auf der Wasseroberfläche und Jesse kämpfte gegen einen neuerlichen Übelkeitsschwall an.
Langsam und auf wackligen Beinen stand er auf, wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen und schloss für einen Moment die Augen.
“Geht schon wieder…”, flüsterte er noch etwas benommen, merkte aber, wie so langsam wieder Kraft in seine Beine kam.
Ihm war kalt, aber das schon seid einigen Tagen. Zumindest kam es ihm so vor.
Jean hatte seine Hand nach wie vor auf Jesses Rücken liegen. Eine angenehme Wärme ging davon aus. Pulsierend und lebendig.
“Kannst du arbeiten? Willst du lieber wieder ins Bett gehen?”
Jesse schüttelte den Kopf.
Er wollte sich nur die Zähne putzen und dann zur Besprechung gehen.
Sie hatten ihre Basis am Grenzstreifen zum Gebiet des KOK`s aufgebaut. Immer mit einem Grinsen im Gesicht und sehr offensichtlich.
Es war eine Freude mit anzusehen wie Ramrod hin und wieder an ihnen vorbei schipperte, wie die Schiffe des KOK´`s an ihnen vorbei trudelten und sie rein gar nichts tun konnten.
Sie hätten sich die Hand reichen können, hätten sich gegenseitig bespucken können.
Die unglaubliche Hilflosigkeit der Anderen war Balsam für seine Seele.
Selbst jetzt, wo es ihm so elend ging, musste Jesse darüber lächeln.
Jean sah das Grinsen auf seinem Gesicht und zog eine Augenbrauen hoch.
“ Es geht wieder, oder?”
Jesse nickte. Wenn er jetzt noch die Besprechung bestand, ohne dabei auf den Tisch zu kotzen, konnte es nur ein guter Tag werden.


***

Lühr hatte nur zwei Dinge zu tun. Die erste Sache, die sie zu tun hatte, war Jesses Wäsche aus seinem Badezimmer zu holen, sie in einem großen Sack zu stecken und schließlich in die Wäscherei zu befördern.
Die zweite Sache, die sie zu erledigen hatte war: Seine sauberen Sachen aus der Wäscherei zu holen, sie aus dem Sack zu packen, und in den Schrank einzuräumen.
Soweit, so gut.
Mal davon abgesehen, dass Lührs Verständnis für optimale Arbeitseinteilung gleich Null ging, war es außerdem so, das man ihr zwei Dinge sagen konnte, von denen sie eine Sache wieder vergessen würde und die andere Sache würde sie als so unwichtig einstufen, dass sie es nicht tat. Es war nicht ihre Schuld. Ihr Gehirn funktionierte eben nicht auf die normale Art und Weise.
Nach dem Jesse zu der Besprechung aufgebrochen war, war sie mit einem großen Sack aus der Wäscherei in sein Quartier getreten, hatte den Sack schwungvoll auf sein Bett geschmissen und starrte ihn eine Weile an. Sie wusste, irgendetwas hatte sie damit zu erledigen aber dieses lag schon wieder in der Kategorie “Unwichtig”.
Sie zuckte die Schultern, drehte sich um die eigene Achse und erhaschte einen Blick in sein Arbeitszimmer.
Als Jesse gestern mit dem Päckchen wieder kam hatte sie keine Gelegenheit gehabt, einen Blick darauf zu werfen.
Nun aber sah sie von hier aus genau darauf.
Es war ein Bild.
Lühr fuhr sich durch die wirren, kurzen Haare und blickte sich versohlen um.
Niemand war da, der ihr hätte sagen können : “Lühr, fass das nicht an! Lühr, raus da! Lühr….setzt das Wohnzimmer nicht unter Wasser!”
Und wenn niemand da war….
Also quasi niemand, der ihr ein Verbot aussprach…
Sie grinste, steckte ihre Hände in die tiefen Taschen ihrer Hose….Oh, wie sie Taschen liebte. Was man darin alles aufbewahren konnte…was sie darin schon alles aufbewahrt hatte, war erstaunlich und ekelhaft zugleich…und schlenderte mit unschuldigem Gesichtsausdruck in das Zimmer, welches eigentlich für sie tabu war.
Sobald sie die Schwelle von Schlafzimmer zu Arbeitszimmer übertreten hatte, fühlte sie sich etwas schuldig…aber das Gefühl von Schuld war bei ihr so gut ausgeprägt wie die Sehkraft eines Maulwurfes.
Ihre Fingerspitzen fuhren über die glänzend polierte Arbeitsplatte des Schreibtisches, sah dann, dass sie eine verräterische Spur darauf hinterließ und nahm den Saum ihren Shirts, um sie schnell wieder zu entfernen.
Keine Spuren.
Nur keine Spuren hinterlassen.

…..Lühr…..


Lühr spürte einen Ruck in ihrem Innern. Etwas, das ausgehend von ihrer Wirbelsäule eine Welle des Schmerzes durch ihren Körper jagte. Universal. Nicht auf einen Punkt beschränkt.
Überrascht riss sie die Augen auf, krümmte sich stöhnend, kam auf wackligen Beinen wieder hoch und hielt verblüfft die Hände vor dem Bauch, obwohl der Schmerz weder von ihrem Bauch ausging noch sich wirklich in ihrem Bauch manifestierte.
Ihre Wangen waren blass geworden doch unter ihren Augen hatten sich verräterische Ringe gebildet. Sie sah auf, erblickte das Bild, das über dem Schreibtisch hing und stellte überrascht fest, dass es sich geändert hatte. Vor noch wenigen Sekunden war auf dem Bild nichts weiter zu sehen als ein leerer Spiegel und ein geöffnetes Fenster.
Nun aber hatte sich in den Spiegel ein leichter Schatten geschoben.
Lühr streckte ihre Hand aus, bemerkte nicht ohne Verwunderung, dass dieser zitterte und berührte die raue Oberfläche des Gemäldes.
Sie konnte die zum Teil spitzen Erhebungen der getrockneten Farbe unter ihren Fingerkuppen ausmachen. es fühlte sich an wie winzige Berge.
Ihre Finger glitten über die Oberfläche bis hin zu dem Spiegel…… doch genau an der Stelle, an dem Übergang des Raumes zum Spiegel, änderte sich die Oberfläche.
Sie spürte Glas.
Es war eindeutig. Das kühle Element strahlte eine unbändige Energie aus, die von Lührs Fingerspitzen bis in ihre Schultern krochen.
Es hatte bereits ihre Fingerspitzen taub gemacht und fühlte sich an wie Ameisenfüßchen , die ihren eifrigen Weg über ihren Handrücken nahmen, von dort aus über ihren Unterarm krabbelten um sich in ihrer Achselhöhle zu vereinigen.
Lühr schrie leise auf, zog ruckartigen ihren Arm fort und rieb sich die tauben Finger.
Sie hatten sich dunkel verfärbt, waren fast bläulich geworden, an den Fingerkuppen beinahe schwarz.
Lühr stöhnte und starrte das Bild an.
Der Schatten in dem Spiegel……nur ein leichter, kaum zu erkennender dunkler Bereich, war wieder verschwunden.
So, als wäre er nie da gewesen.
Es war wieder nur ein Spiegel.
Sie verließ das Arbeitszimmer mit Beinen wie aus Gummi.


***

“In ihrer Krankenakte steht, dass sie den Ärzten Rätsel aufgab.”
April hatte die Kopie der Akte vor sich liegen. Über den Berichten waren Röntgenaufnahmen ausgebreitet.
Sie zeigten verschiedene Bereiche von Tristas Körper, durchleuchtet wie Pergamentpapier.
Aprils Stirn war in Falten gelegt und ihre Finger wanderte über das Geschriebene.
“Hier steht, dass, als sie eingeliefert wurde, weil sie Probleme mit dem Magen hatte. Sie klagte über ständige Übelkeit und Erbrechen. Man hatte sie auf den Kopf gestellt, aber nichts ungewöhnliches gefunden.”
Die blonde junge Frau musste sich wieder Tristas Gesicht vor Augen rufen. Sie hatte ein ansteckendes Lachen gehabt.
Nun nahm sie die Aufnahme ihres Magens und drehte das schwarz-graue durchscheinende Plastikscheibchen in ihren Händen, während Saber sich zu April an den Tisch setzte.
“Was geschah als nächstes?”, wollte er wissen.
April sah ihn an….er hatte sie aus ihren Gedanken an Trista gerissen.
“Oh, nachdem man ihr Magen beruhigende Medikamente gegeben hatte, war es ihr Kopf. Sie bekam Kopfschmerzen und man ging davon aus, dass es an den Medikamenten lag.”
“Kopfschmerzen, hm?”
Saber trank einen Schluck des mittlerweile kalt gewordenen Kaffees.
“Bekam sie da auch Medikamente?”
April nickte erst, dann deutete sie auf einen Behandlungsbericht.
“Und eine Sonde ins Hirn, weil ihre Schmerzen nicht besser wurden.”
Saber schüttelte sich.
Eine Sonde in den Kopf.
Eine verdammte Sonde.
Bei dem Gedanken wurde selbst ihm übel.
“Und das war nicht alles. Obwohl immer wieder neue Untersuchungen gemacht wurden, konnte man letztendlich nur zusehen.”
April dachte, dass es schrecklich gewesen sein musste. Wie sich Tris gefühlt haben mochte, als sie merkte, dass ihr niemand helfen konnte.
Wie hilflos sie gewesen war.
Selbst April fühlte sich hilflos bei dem Gedanken.
“Ich weiß nicht, ob ich auf die Beerdigung gehen kann. Ich bin ja nicht für sie da gewesen.”
Saber schüttete den Kopf.
“Natürlich warst du für die da.”
April biss sich auf die Unterlippe und sah wieder auf die Unterlagen.
“War ich nicht…”



***


Kapitel 2

Schmerzen



Die Worte, die Gattler sprach, drangen wie durch einen Nebel zu ihm. Er sah zwar, dass der Andere aufgebracht war, dass er aufgesprungen war und mit der Faust auf den Tisch kloppte, aber Jesse verhielt sich still.
Normalerweise…..also im absolut normalem Fall, wobei Normal bedeutete, dass alle anderen Menschen dies für jähzornig und unbeherrscht halten würden, wäre er aufgesprungen, hätte den Anderen an dessen Kragen gepackt und zu sich über den Tisch gezogen. Aber nicht heute.
Heute nicht.
Sein sowieso schon blasse Gesichtshaut war noch weißer geworden. Auf seinen Wagen waren hektische, rote Flecken erschienen die wie Blumen darauf leuchteten.
Wieder führte er eine Hand an die Schläfe, rieb vorsichtig über den empfindlichen Bereich und schluckte, weil die Übelkeit von heute morgen schon wieder mehr als deutlich in seinen Eingeweiden tobte.
Nun gesellte sich seid etwa einer Stunde ein quälender Kopfschmerz hinzu, der ihn nahe zu verzweifeln ließ.
Angefangen hatte es ganz harmlos.
Ein leichten, kaum wahr zu nehmendes und dumpfes Klopfen hinter den Augen. Etwas, dass er leicht hätte ignorieren können. Doch mit der Zeit wurde daraus ein Orchester von Bässen und Trommeln und nun, nach einer guten Stunde, schien es, als habe sich ein kleines Wesen mit messerscharfen Krallen in seinem Hirn eingenistet und würde dort, langsam und genüsslich, die Krallen durch die Hirnrinde in
seine Schläfenlappen treiben.
Einige Male hatte er darüber nachgedacht einfach auf zu stehen und sich ab zu melden. Nemesis wäre nicht glücklich darüber gewesen, aber er hätte zumindest ein Schmerzmittel nehmen können.
Aber er hatte zu lange gewartet und nun…..nun hatte er das Gefühl, dass jede Bewegung, die Bewegung des Aufstehens, die Bewegung seines Mundes, um etwas zu sagen…..ja, seine Stimme selbst…einfach seinen Kopf von seinem Körper sprengen würde.
Genau so würde es sein.
Die Kommandanten um ihn herum würde angeekelt das Gesicht verziehen wenn sie mit seiner Hirnmasse bedeckt wäre.
Er schluckte.
Selbst das verursachte, dass das Wesen mit den unglaublichen Krallen im Kopf aufbegehrte und scheinbar wahllos seine Hirnwindungen trennte.
Er hörte, wie sich rechts von ihm jemand zu ihm rüber beugte.
“Geht es dir gut?”
Flüsternde Worte, wie in sehr weiter Ferne.
Das Wesen in seinem Kopf schrie auf und jagte seine Krallen von innen in Jesses Augen als er nur daran dachte, langsam den Kopf zu schütteln.
Er stöhnte leise, öffnete die Augen, die er in den letzten Minuten weitgehend versuchte geschlossen zu halten und nahm nicht ohne eine gewisse Belustigung wahr, dass all Augen auf ihn gerichtet waren.
Sogar Gattler hatte anscheinend in einer Bewegung gestoppt und der Ausdruck in seinen Augen war eine eigenartige Mischung aus Mitgefühl, Neugierde und Schadenfreude.
Wieder brüllte das Tier in seinem Kopf.
Es trieb seine Krallen links und Rechts von Jesses Augen in die Schläfen und zerriss das feste Fleisch.
Das war es.
Das war alles, was er ertragen konnte.

“Meine Güte, haltet ihn …”, hörte er noch jemanden rufen als es schwarz wurde um ihn herum.

***

Tagebucheintrag 21 September.

Es war genau so schnell weg wie es gekommen war. Ich liege zwar noch im Bett…auf Anordnung von Nemesis habe ich einen Tag Bettruhe laut Arztanraten verordnet bekommen, aber eigentlich geht es mir wieder gut.
Ich habe in meinem Leben noch niemals so einem Schmerz erlebt wie an diesem Meeting. Ich hätte nicht einmal gedacht, dass so etwas Möglich wäre. Als wäre ein Monster in meinem Schädel, dass es sich zur Aufgabe gemacht hatte, mein Hirn zu fressen.
Erst in der Nacht bis in den Morgen gekotzt wie ein wahnsinniger, dann mein dröhnender Schädel.
Der Doc meint, es könnte sich dabei um eine Menschenerkrankung Namens Grippe handeln.
Ich war seid Wochen nicht mehr in Kontakt mit Menschen…..außer, als Saber mir das Bild übergeben hat. Und der wirkte gesund wie ein Bauernpferd.
Och ja, apropos Bild.
Ich habe es gerade hier vor mir liegen. Ich weiß gar nicht, wieso ich dachte, der Spiegel wäre leer.
Ist er nicht.
Da ist ein Schatten im Spiegel. Ganz eben, so als würde sich jemand in der Nähe befinden.
Ich habe ihn zu Anfang gar nicht bemerkt und verstehe gar nicht, wieso nicht.
Er ist doch ganz deutlich… ..



Jesse legte den Stift und das Büchlein weg, verstaute es sorgfältig in der Nachttischschublade und legte sich zurück in die Kissen.
Der Arzt hatte ihm ein Schmerzmittel gegeben, dass schnell wirkte und ihn schläfrig machte. Aber schläfrig zu sein war gut nach der durchgemachten Nacht.
Eigentlich war alles gut nach der Nacht und den Schmerzen.
Das Bild schmiegte sich mit seinem sanften Gewicht an seine Oberschenkel.
Immer noch war in seinem Hinterkopf ein leichtes Pochen zu spüren, wenn er sich darauf konzentrierte, aber es war wie ein Geschenk im Gegensatz zu dem, was er vorher mitgemacht hatte.
Aber das Geschenk sollte er nicht behalten können.


***

Jean suchte die wenigen Unterlagen, die Jesse im Meetingsraum liegen hatte, zusammen und steckte sie in eine mitgebrachte Tasche. Der Raum war kühl, nahezu kalt und Jean hätte sich gut vorstellen können, dass ein Mensch leicht krank werden konnte unter den bestehenden Bedingungen.
Phantomwesen waren da anders beschaffen.
“Er ist krank, hm?”
Jean hob den Kopf und sah Gattler mit einer hochgezogenen Augenbraun an.
“Mach dir keine Hoffnungen, Gattler. So schnell wirst du ihn nicht los.”, entgegnete Jean.
Der Mann lachte und schüttelte den Kopf.
“Nach allem, was er hier reißt, ist er eben doch nur ein Fleischling. Ein stinkender Wassersack, mehr nicht.”
Jean wollte etwas erwidern, presste aber die Lippen aufeinander.
Statt dessen warf er sich die Tasche über die Schulter und ging wortlos an Gattler vorbei.
“Wenn er krank ist, wird er Nemesis nichts nützen!”, rief Gattler ihm hinterher.
Gattlers Worte brannten sich in Jeans Hirn und er blieb stehen. Langsam drehte er sich um. Seine Augen waren dunkel geworden.
“Selbst alle Wassersäcke im gesamten Grenzland waren bisher klüger als du, mein Freund. Sonst wären wir nicht mehr hier auf diesen verrottenden Blechplaneten sonder würden nun längst unsere Saat in den kargen Boden des Grenzlandes pflanzen. Und das ist es, was Nemesis weiß.”
Gattler sagte nichts dazu, grinste aber.


***

“Es ist wieder da.”
Kyria rieb sich über die leicht geröteten Wangen.
Jean hatte die Tasche achtlos auf den Boden geworfen und sah sie nun etwas verwirrt an.
“Was meinst du?”
“Als er wach wurde musste er sich erst übergeben…dann fingen die Kopfschmerzen wieder an.”
Sie flüsterte und Jean wusste wieso.
Es war besser, wenn nicht so viele Leute etwas von Jesses Zustand, welcher Art er auch immer sein mochte, mitbekam.
“Hast du den Doc gerufen?”
Sie nickte, aber er sah an ihrem Gesicht, dass dies nicht wirklich zu einer Besserung geführt hatte.
“Er hat ihn wieder Schmerzmittel gegeben, aber sie wirken nicht.”
Jean machte große Augen.
“Was?”
Kyria sah ihn aus großen, wässrigen Augen an.
“Götter, Jean. Sie wirken überhaupt nicht……”

***

Lühr saß neben Jesse am Bett. Immer wieder legte sie dem blauhaarigen, dessen Haare jetzt jedoch schwarz wirkten, weil sie schweißnass waren, einen neuen, feuchten Lappen auf die Stirn und jedes Mal stöhnte er auf.
Er zitterte und ihr blutete das Herz.
Tränen hatten auf den Wangen des Mannes feuchte Spuren hinterlassen und sie widerstand nur schwer dem Drang, seine Wangen mit einem Deckenzipfel zu trocknen. Sie hatte das Gefühl, dass jede Berührung neuerliche Schmerzwellen durch seinen Kopf jagte. Je stiller und ruhiger er lag, desto weniger stöhnte er.
Weniger Stöhnen bedeutete doch weniger Schmerzen, oder?
Als Jean ins Zimmer trat, sah sie ihn verzweifelt an.
Sie wirkte beinahe genau so müde wie Jesse noch am Morgen.
“Wie geht’s es ihm?”
Lühr schüttelte den Kopf und sah wieder traurig zu ihrem Chef.
Sein Atem ging schnell und stoßweise. Hektisch hob und senkte sich sein Brustkorb.
“Nicht gut. Der Doc hat ihn gründlich untersucht und kann nichts feststellen. Wir denken darüber nach, ob wir ihn in ein Menschenkrankenhaus bringen sollen.”
Jean zog die Augenbraun zusammen.
“Ein Krankenhaus? Da wird er dann sofort verhaftet, sobald die Starsheriffs davon Wind bekommen.”
Wieder stöhnte das zitternde Bündel im Bett und bäumte sich leicht auf.
Jesse hatte das Gefühl, als müsste er aus dem Bett springen, als müsste er seine Finger in seine Augen graben um dahinter an das Hirn zu kommen, es durch die Augenhöhlen zu ziehen und es weit von sich zu schmeißen.
Jean beugte sich über ihn und strich das nasse Haar aus der Stirn.
“Und was zum Teufel ist das…”, fragte er und deutete auf eine schuppige, gerötete Stelle an Jesses rechter Schläfe.”
Lühr warf einen Blick darauf und zuckte mit den Schultern. Sie wusste es nicht.

***

Kyria hatte Lühr neues, kühles Wasser gebracht, damit sie Jesses Stirn damit kühl halten konnte. Die beiden , Jean und Lühr, saßen an Jesses Bett und unterhielten sich im Flüsterton.
Jesse war ganz still unter der Decke, ganz ruhig und das Einzige, was man an Bewegungen ausmachen konnte, war das gelegentlich Schütteln seines menschlichen Körpers, wenn wieder ein besonders starker Schmerz durch seinen Kopf jagte.
Hier und da war er in der Lage, auf eine Frage zu antworten….die letzten Minuten hatte er nur noch gesagt, dass er nicht mehr könnte und vor etwas drei Minuten hatte er Jean angefleht, ihn zu erschießen.
Sie hatte es nicht ertragen, dass zu hören und ging, neues Wasser zu holen.
Mittlerweile hatte der Doc Jesse beinahe jedes, verdammte Schmerzmittel verabreicht, aber keines, wirklich keines, hatte irgendeine Wirkung.
“Ich werde ihn narkotisieren.”, erklärte er ernst, weil ihm nichts weiter einfiel und obwohl es möglicherweise eine gefährliche Sache war, stimmten alle zu.
Nun stellte Kyria das Wasser auf den Nachttisch, stolperte dabei beinahe über das hässliche Bild, trug es aus dem Zimmer und hängte es wieder in das Arbeitszimmer.
Es hatte eine unglaubliche Wirkung, obschon es weder besonders künstlerisch wertvoll war, noch sonst irgendwie schön.
Ein geöffnetes Fenster, ein dunkler Spiegel in dem die deutliche Silhouette eines Menschen oder auch eines Phantomwesens zu sehen war.
Während sie das Bild betrachtete, wurde ihr übel.
Sie schluckte, verließ das Arbeitszimmer, schloss die Tür und legte eine Hand auf Jeans Schulter, darauf wartend, dass der Doc mit dem Narkotikum wieder kam.


Sein Verstand, der Teil, der durch den Schmerz noch funktionierte, wenn auch eingeschränkt, bemerkte zwei Dinge.
Erstens. Langsam aber sicher wurde es weniger.
Der Schmerz, für den er weder jetzt noch irgendwann einen Namen finden würde, wütete von seinem Hirn aus durch seinen ganzen Körper.
Er hatte ihn gelehrt, dass alles, was er je einem Menschen oder einem Phantomwesen angetan hatte, lediglich eine blasses Echo war gegenüber dessen, was er erlebte.
Doch nun, nun schien es, als ob bestimmte Bereiche, die so grell vom Schmerz beleuchtet waren, dass es nicht half, die Augen zu schließen, sich langsam wieder abdunkelten.
Erst wurde es dunkler, dann etwas klarer und schließlich war es, als ob der Schmerz selbst auf den Rückzug war.
Sich langsam aber sicher einfach aus seinem Körper zurück zog.
Sein brennendes, in Flammen stehendes Hirn schien nun wirklich von den kühlen, nassen Lappen, die Lühr auf seine Stirn legte, gelöscht zu werden und das erste Mal seid einiger Zeit, die er aber nicht abschätzen konnte, öffnete er die glasigen, geröteten Augen.
Lühr zog ihre Augenbraun hoch und lächelte zaghaft.
“Hallo..”, flüsterte sie.
“Hallo….”, flüsterte er zurück und spürte deutlich, wie sich sein Hirn entspannte. Nicht nur sein Hirn,. Auch sein Magen beruhigte sich langsam aber sicher. Ja, es war nicht nur der Schmerz, der ihn in den Wahnsinn trieb. Immer wieder hatte er sich weinend übergeben müssen und es gab nichts, was er hätte dagegen tun können.
Sein Magen war nur noch ein krampfender Knoten gewesen, der sich nun langsam löste.
“Es hört auf…”, flüsterte er und hatte Tränen der Dankbarkeit in den Augen.
“Es wird weniger…”

Und als der Doc wieder in Jesse Zimmer trat, bewaffnet mit einem Infusionsständer und einem Narkotikum, saß Jesse bereits aufrecht in seinem Bett. Das Gesicht noch blass, die Augen noch gerötet aber sichtlich entspannter.
“Was…?”
Der Doc ließ den Arm mit der Injektion sinken und starrte ihn verblüfft an.
Jesse zuckte die Schultern.
“Ich weiß es nicht. Es ging nach und nach weg.”, erklärte er und kratze sich die gerötete Stelle an der Schläfe.
Etwas Schorf löste sich und bildete eine kleine Ansammlung kaum wahrnehmbarer Schüppchen seiner haut auf der Bettdecke.


***


Kapitel 3

Jucken


Eigentlich hätte es regnen müssen. Statt dessen schien die Sonne. Es war fast grausam, dass die wärmenden Strahlen und der leichte Windhauch ihre Wangen kitzelten, während sie nun zusah, wie der sehr edel aussehende Mahagonisarg in die Erde herabgelassen wurde.
Es war schwer sich vorzustellen, dass Tris da drin liegen sollte. Dass sie da drin lag und nicht wieder hinaus kam. Nie wieder.
Rechts von ihr kämpfte eine ältere Frau mit Tränen. April vermutete, dass es eine Tante oder eine Freundin der Mutter war. Für eine Freundin von Tris war sie einfach zu alt, aber eigentlich musste April sich eingesehen, dass sie so sehr viel von Trista nicht wusste.
Nun traten die Menschen einzeln an das offene Grab, sprachen ein paar Worte und warfen weiße Rosen auf den Deckel des Sarges,
Eine Frau sah April aufmunternd an und drückte ihr eine Rose in die Hand.
Still stand sie da, wusste nicht, was sie sagen sollte und kam sich fehl am Platz vor. Völlig fehl am Platz. Blödsinniger Weise fiel ihr auf, dass die erdigen Wände des Grabes feucht waren und sie fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis die Feuchtigkeit durch das dichte Holz ihren Körper erreicht hatte. Ob sie wohl frieren würde und das sie eine Decke gebrauchen könnte.
Sie schluckte, warf die Rose zu den Anderen und wischte sich über die Augen.
Als dann, nachdem alle anderen auch ihre Blumen zu Trista auf den Deckel geworfen hatte, ein Mann eine Schaufel nahm und einen Schwung Dreck in das Grab schüppte….und April deutlich hörte, wie die Erde auf das Holz aufschlug, wandte sie sich ab.
Sie hatte schon lange nicht mehr geraucht, aber nun war ihr nach einer Zigarette.
Etwas schuldbewusst schlich sie sich in den Schatten einer großen, mächtigen Trauerweide und lehnte sich an den irgendwie kühlen Stamm.
“Man hält das nicht lange durch, oder?”
April drehte sich überrascht nach der Stimme um. Es war Mia. Sie kannte sie nur flüchtig. Eine Cousine von Tris, die sie früher einmal auf ihren Marathon Einkaufstouren begleitet hatte.
April schüttelte den Kopf.
“Ich kann das noch gar nicht richtig begreifen. Es ist so völlig sinnlos.”
Mia kramte in ihrer Tasche nach einer Schachtel Poniaks, öffnete sie, bot April eine an und die blonde Frau nahm sich eine.
Sie steckte die Zigarette zwischen die Lippen und nachdem Mia ihr Feuer gegeben hatte und der erste Zug Rauch ihre Lungen füllte, fühlte sie sich etwas besser. Nicht viel, aber immerhin.
“Ich habe die Arztberichte gelesen.”
Mia nickte. Sie hatte sich das schon gedacht. Star Sheriff blieb eben Star Sheriff.
“Es war wie verhext. Sobald die Ärzte das eine in den Griff bekommen hatten, meldetet sich etwas anderes und nach wie vor kann uns keiner sagen, was es war. Das Schlimmste waren die Schmerzen.”
Sie sah April an.
“Sie hat niemanden etwas getan, weißt du. Auch damals nicht.”
April nickte. Das wusste sie.
“Habt ihr denn andere Ärzte konsultiert?”
Mia nickte und lachte etwas bitter.
“Tris hat sogar eine alternative Heilerin aufgesucht. Das heißt, die Frau kam ins Krankenhaus. Damals wussten wir aber schon, dass es zu Ende gehen würde. Ihre Organe versagten schon. Ihre Niere und ihre Leber. Sie hing da schon an der Dialyse.”
Die blonde Navigatorin runzelte die Stirn.
“Eine…alternative Heilerin?”
Mia lachte wieder trocken.
“Ja, kurz nach ihrem Besuch hat Trissi dann angefangen, dieses Bild zu malen. Und bis zu ihrem Tod nicht mehr aufgehört.”
“Das Bild…”
Mia grinste.
“Trissie hatte noch nie besonderes künstlerisches Talent, aber dieses Bild hatte eine Ausstrahlung…Ich kann es nicht erklären.”
“Und diese Heilerin, wer war das?”
Mia zog noch einmal an der Zigarette, warf sie dann von sich und überlegte eine Weile.
“Sie hieß…..Anna Klisttres…oder so ähnlich. Sie konnte natürlich nichts tun. Ich weiß nur, dass Trissie mir sagte, als ich sie besuchen kam, dass sie sich besser fühlen würde, wenn sie sterben würde.”
April lief ein Schauer über den Rücken.
“Aber diese Anna hatte auch keine Diagnose?”
Mia schüttelte den kopf.
“Keine Diagnose.”
Mia sah April an.
“Aber nach ihrem Besuch wollte Tris keine Behandlung mehr. Sie wollte nur noch Schmerzmittel, damit sie malen konnte. Und das tat sie dann bis zum Exzess. Als wäre sie süchtig und es war komisch. Je mehr sie malte, desto besser ging es ihr erst …doch dann…”
Mia nickte in Richtung des Grabes.



***


Tagebucheintrag 22.September

Die Schmerzen sind weg, die Übelkeit auch. Der Doc hat mir Tabletten gegeben, die ich schlucken soll…aber ehrlich gesagt. Ich glaube nicht, dass sie helfen.
Zumindest machen sie nichts schlimmer und ich bin einfach nur dankbar dafür, dass nichts mehr weh tut.
Kann man an Schmerzen sterben?
Ich habe das immer für ein Gerücht gehalten, aber mittlerweile bin ich mir nicht mehr sicher.
Im Grunde geht es mir ja wieder gut und ich werde mich nicht beschweren.
Das Einzige, was noch übrig ist, ist der fahle Nachgeschmack, die Erinnerung an die Schmerzen und die kleine Stelle an der Stirn, die ein wenig juckt.
Der Doc meint, dass es wahrscheinlich nur eine harmlose Nebenwirkung der Tabletten ist….aber ich habe in seinem Gesicht gesehen, dass er es nicht selber glaubte.
Nun habe ich mich aus meinen Bett geschlichen….Ich sollte es nicht tun, aber ich habe es nicht mehr ausgehalten da die ganze Zeit rum zu liegen und wenn ich mir das jetzt so recht überlege, war es kein schlechter Gedanke.
Ich sitze an meinem Schreibtisch und ja, ich kann wieder das Bild sehen.
Und soll ich was sagen.
Der Schatten, der Schatten in dem Bild.
Ich schwöre bei Gott, dass er sich weiter in den Spiegel bewegt hat.
Ich bin mir sicher.
Nun gut.
Gestern war ich mir auch sicher, dass der Spiegel leer ist, das nichts darin zu sehen ist und dass hatte sich auch als Irrtum erwiesen. Aber heute bin ich mir sicher, dass der Schatten weiter am Rand des Spiegels war.
Also, was ist, wenn gestern doch nichts da war und es sich nur weiter in den Spiegel geschoben hat?
Was ist dann, Ladys und Gentlemans?
Was dann?
Ich will nicht, dass mich jemand für verrückt hält….aber all das hat mit dem Bild angefangen.
Es hat mit dem Bild angefangen.
Ich weiß nicht, wie sie das gemacht hat…aber irgendetwas hat sie gemacht.


***



“Eine Heilerin?”
Colt schob seinen Hut weiter auf den Kopf um April unter der Hutkrempe hinweg ansehen zu können.
Eine Weile dachte er darüber, dann nickte er langsam.
“Naja, wärst du an ihrer Stelle gewesen, hättest du sicher auch alles versucht.”
Da konnte sie nur zustimmen.
Colt zog den Hut wieder in die Stirn.
Er war müde, obschon er eigentlich nicht viel getan hatte die letzten Tage. Es war ungewöhnlich ruhig gewesen und das Einzige, was sie taten war, hin und wieder an der neuen, frech an der Grenze erbauten Outriderbasis entlang zu schippern, auf der sich aber nicht wirklich was tat.
Hin und wieder schienen sie die Star Sheriffs ärgern zu wollen, indem sie mit den kleinen, wendigen Scouts direkt an der Grenze entlang flogen, zogen sich aber wieder zurück, sobald Fireball das Ramrod Schlachtschiff auch nur bewegte.
Es war zermürbend und Colt fragte sich nicht zum ersten Mal, ob sie nicht lieber von hier abziehen sollten um sich anderen Aufgaben zu widmen.
Die Tatsache, dass sich allerdings Jesse Blue hier aufhielt, hielt sie an ihrem Platz. Die Möglichkeit ihn in die Finger zu bekommen war für Colt verlockender als Gold.
Und fast schon verlockender als ein Date mit einer hübschen Frau.
Bei dem Gedanken musste er bitter lachen.
Und er fragte sich unwillkürlich, wie das wohl aussehen würde.
Sie: Colt, ich würde dich so gerne heute Abend sehen. Bei Kerzenschein und mit einer Flasche Wein.
Er: Tut mir leid, Süße. Aber ich habe ein Date mit einem blauhaarigem Mann….
Er kicherte leise und April sah ihn verwirrt an.
“Ich frage mich, was sie besprochen haben.”
Colt sah wieder auf.
Er wirkte ein wenig genervt. Es lag nicht an April, vielmehr lag es an ihrem Interesse Tristas Tod betreffend.
Es schien, als könne sie sich nicht wirklich damit abfinden.
“Frag sie doch.”, schlug er vor und April machte ein verdutztes Gesicht.
“Sie fragen?”
Colt richtet sich etwas auf.
“Sicher. Du hast doch ihren Namen. Also frag sie einfach, was sie besprochen haben.”
April grinste.
Manchmal war der Cowboy gar nicht so doof.


***


Jean sah hilflos mit an, wie Jesse seine Fingernägel über die schuppige Oberfläche seiner rechten Gesichtshälfte zog. Er beobachtete, wie etwas von der trockenen, sich ablösenden Haut auf das Laken rieselte. Es erinnerte ihn an diese Schneekugeln, nur dass sich kein dumm grinsender Schneemann darin befand, sondern das schreiend, verzweifelte Gesicht seines Vorgesetzten.
Das Geräusch, dass Jesses Fingernägel machten, wenn sie über die veränderte Gesichtshaut kratzen, jagte ihm eine Gänsehaut über den Rücken, so sehr, als wollte sie sich von seinem Körper schälen.
Die Stellen unter Jesses rechtem Auge waren dunkler als der Rest, weil seine Tränen dort feuchte Spuren hinterlassen hatten.
Seid dem Morgen hatte sich an Angesicht seines Chefs deutlich verändert. Es ging so rapide, dass Jean schon meinte, er würde träumen. Witziger Weise hatte sich proportional dazu auch der Gesichtsausdruck seines Arztes verändert. Von Verwundert zu verwirrt, von verwirrt zu erschrocken, von erschrocken zu entsetzt.
Nun war er von entsetzt zu verzweifelt gewandelt und er sah Jean mit einer Mischung aus Mitgefühl und purer Hilflosigkeit an.
Er hatte eine Batterie an Salben, Cremes und Gels mitgebracht, die alle einen Scheißdreck halfen. Jean hörte Jesse stöhnen, aber er versuchte, nicht zu dem blauhaarigen hinab zu schauen. Es war einfach zu schrecklich. Das hübsche, fein geschnittene und markante Gesicht des Menschen war zu einer Ruine geworden. Und das innerhalb von Stunden.
Angefangen hatte alles mit einer harmlos wirkenden, schuppigen Stelle an der rechten Schläfe, die sich über den Vormittag langsam aber sicher über die Stirn zog und von dort aus gleich eines heimtückischen Insektes über seinen Nasenrücken schlich. Dort verdickte sich die Haut, schien sich wie Kontinentalplatten übereinander zu schieben um sich dann blutig und entzündlich ab zu lösen.
Gegen Mittag dann erschienen die ersten Stellen an Jesses Halsbeuge, arbeiteten sich von dort aus nach unten über die Brust und über die Schulter auf den Rücken. Jesses Anblick war furchtbar und wurde stündlich, wenn nicht gar minütlich schlimmer. Und er weinte. Weinte verzweifelt.
Er hatte sich das Meiste der betroffenen Haut blutig gekratzt.
Jean hatte mit angesehen, wie Jesse die Decke zurückgeschlagen hatte und die Fingernägel über die verhärtete Brustwarze gezogen hatte, bis er das blanke Fleisch erkennen konnte.
Das daraus hervorquellende Blut sickerte in die Schluchten seiner neuen, reptilienartigen Haut ein als würde sie es trinken.
Und wenn jemand glaubte, das Jesses Anblick furchtbar war…dann, so dachte Jean bei sich, sollte derjenige sich daneben stellen und es riechen….
Es RIECHEN.
Es stank fürchterlich.
Wie Honig und saure Äpfel, wie sauer gewordene Milch.
Jean wollte und konnte sich nicht vorstellen, wie sein Körper unterhalb der betroffenen Haut aussehen würde.
Und hatte es bisher nur die rechte Körperhälfte befallen, so schob es sich nun auf die linke Hälfte seines Körpers.
Der Doc hatte die Decke zurückgeschlagen und Jean zogt zischend die Luft ein.
“Götter….”, stöhnte er als er den Weg sah, den diese seltsame Hautveränderung nahm.
Sie schob sich in seine Shorts, bei Gott! In seine Shorts!!
Jean sah schon die ersten blütenartigen Blutkrusten an sehr intimen Stellen.
Nun beugte er sich doch vor, von einer makaberen Faszination ergriffen und hob den Bund von Jesses Shorts.
Sein Kiefer klappte herunter.
Was er dort sah, hatte mit einem männlichen Genital nichts mehr gemein.
Über das junge Fleisch des Mannes hatte sich eine dicke, krustige und blutige Schicht geschoben, die sich knapp unterhalb der Eichel scheinbar IN die Vorhaut grub.
Die rosa Eichel seines Bosses blickte daraus hervor wie ein ertrinkender.
Vorsichtig ließ er den Bund wieder auf die verhornte Haut Jesses Bauches zurück fallen und sein Blick war beinahe amüsiert, als er den Doc ansah.
“Das wird ihn völlig bedecken. Er ist schon wahnsinnig davon.”
Das war nicht einmal gelogen.
Als der Juckreiz begann, also an der Schläfe und an der Stirn hatte Jesses es noch mit Humor genommen, doch dann…als es sich über den Rest seines Körpers zog, schwand sein Verstand nach und nach. Nicht, dass es sein Hirn angriff….nein…es war das Jucken. Das schreckliche Jucken. Er hatte getobt, hatte geweint, hatte gebrüllt. Nun war er lediglich still und das Geräusch seiner scharrenden und kratzenden Fingernägel trieb nun Jean in den Wahnsinn.
Es hörte nicht auf. Es ging immer weiter.
Kratz, kratz, kratz..
Als hätte jemand Ratten in die Basis geschleust deren kleinen Füßchen zwischen den Wänden kratzen und tapsten.
Der Doc schüttelte den Kopf, langsam, als wäre er in einer Trance.
“Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll.”
Jean hörte ein leises Schluchzen aus Jesses Richtung, wollte ihm aber nicht ins Gesicht sehen. Seid sich das Grauen über Jesses Augen zog hatte er ihm kaum noch ins Gesicht sehen können.
“Mit seinem Blut ist alles in Ordnung…ich kann machen was ich will,,,was ich will..Das Krankheitsbild ist weder mir noch sonst irgendwem bekannt.”
Er hörte die Stimme des Arztes wie aus weiter Ferne.
“Das Krankheitsbild….”, flüstere Jean.
“Es ist von außerhalb oder so. Vielleicht ein Gift…”, überlegte der Arzt, nicht mitbekommend, dass Jean mit seinen Gedanken schon weiter gewandert war.
“Das Bild…”, flüsterte er und sein Kopf drehte sich in Richtung des Arbeitszimmers, über dessen Schreibtisch Jesse das Bild gehangen hatte.
“Er muss mit etwas Kontakt gehabt haben, …”, führte der Arzt weiterhin seine Erklärungen aus, aber Jean hatte sich schon vor dem Schreibtisch gestellt und sah leicht nach oben.
Seine Hand hob sich….zaghaft berührte er das Bild, strich mit den Fingerspitzen darüber und nahm jede Unebenheit wahr. Die raue Oberfläche fühlte sich an wie eine bergische Landschaft, mit Tälern und Hügeln und spitzen, in den Himmel ragenden Bergen in Öl gemalt.
Seine Fingerkuppeln wanderten weiter, umrandetet den Rahmen des Spiegels, beinahe traute er sich nicht das gemalte Glas zu berühren, traute sich nicht, die von außen fast ebenmäßige Oberfläche an zu fassen, die sich so sehr von dem Rest des Bildes unterschied.
“Etwas ist anders…”
Seine Stimme war mehr ein Hauch, der durch seinen Kopf spuckte, war mehr ein….
….

***

….
Schrei!
Trista drehte sich auf die anderen Seite. Ihr Magen war lediglich ein heißer Klumpen, der sich wieder zusammen zog. Sie würgte, versuchte verzweifelt den Impuls zu unterdrücken, der sie die letzten Wochen ausgezerrt hatte.
Schluchzend schaffte sie es, sich auf zu richten und die Frau, die an ihrem Bett saß und die Hand beruhigend auf die mittlerweile knochige Schulter gelegt hatte, murmelte leise Worte des Bedauerns.
Tris schüttelte den Kopf.
“Ich habe jetzt schon keine Kraft mehr.”
“Und dennoch…”
Die Frau neigte sich leicht vor.
Sie berührte Tristas Wange mit der Vorsicht einer Mutter.
“Es ist in ihnen. Wie ein Tier.”
Sie hatte einen eigenartigen Dialekt, den Tris nicht zu zu ordnen wusste.
Die Haare der Frau waren mit einem Stirnband zusammengehalten, dass sie hinten so zusammen gebunden hatte, dass es die Haare am Hinterkopf wie ein Pferdeschwanz zusammen hielt.
“Tier oder nicht Tier. Das ist hier die Frage…”
Tris lachte nervös.
“Ich kann ihnen helfen.”
Die Augen, die in den schmalem Gesicht so viel größer wirkten, als sie wirklich waren, hefteten sich an die Fremde.
“Niemand kann mir helfen. Niemand….niemand….es ist ein unbekanntes Tier, wissen sie.”
Die Frau lachte.
“Nur der falsche Käfig.”
Die Frau kam ganz nah an Tristas Ohr. Ihre Lippen berührten die weichen Rundungen ihrer Ohrmuschel.
“Ich hole es……..”

…..

***

…..
“RAUS!”
Jean zuckte zusammen und taumelte zwei Schritte zurück. Sein Schädel drohte. Er versuchte sich zu sammeln. Verwirrt sah er sich um.
“RAUS!”
Er zuckte wieder zusammen. Wollte sich in die Realität zurückholen, taumelte Augenblicke lang an einem Abgrund, der scheinbar einen Sog auf ihn ausübte, der seinen Widerstand zu brechen drohte.
Tristas Stimme, die sich gerade wie eine Art fremder Erinnerung in seinem Kopf abgespielt hatte, war der von Jesse gewichen.
Sie klang schrill und panisch.
Er wollte die Vision aus seinem Kopf haben, das Bild der Kranken und der Frau.
Der einzige Anker war Jesses Stimme, die ihn wie aus dem Krankenzimmer zerrte, indem er sich gerade befunden hatte.
Er kniff die Augen zu, riss sie wieder auf und trat entschlossen von dem Bild zurück.
Als er sich umdrehte, hätte er beinahe selbst geschrien.
Lühr stand unvermittelt hinter ihm. Ihre Augen sahen ihn beinahe listig an.
“Es ist das Bild.”, flüsterte sie kaum hörbar.
Ihre Hand hob sich, reckte den Zeigefinger ab und deutete wie ein Mahnmal darauf.
“Der Spiegel, siehst du?”
Jean folgte dem Finger, seine Augen wanderten über den Stoff von Lührs Hemd, über den Handrücken, über der Oberseite ihres Zeigefingers und schließlich dem Nagel.
Von da an folgte er dem Deut bis zu dem Spiegel.
“Was zum Teufel……”
Er konnte kaum glauben, was er sah.
“Das kann doch nicht wahr sein…”


***

“Beruhigen Sie sich.”
Dr. Kyreap hatte alle Mühe, seinen Patienten im Bett zu halten.
Jesse bäumte sich auf, riss den Mund auf, brüllte wieder und schlug blind nach dem Mann, der ihn in die Laken drückte.
Jesses Mundwinkel waren eingerissen und dickes, zähes Blut sickerte aus den Wunden in seinen Mund.
Er würgte, schluckte und würgte dann wieder.
“Raus!”, brüllte er wieder, doch diesmal klang es deutlich leiser obwohl Dr. Kyreap immer noch große Mühe hatte, ihn zu bändigen.
Verzweifelt versuchte der Arzt, den sinnlosen Schlägen des Anderen aus zu weichen. Jesse traf ihn, aber schwach und kraftlos.
Der große, schlanke grünhaarige Outrider starrte verblüfft von einem zum anderen.
“Was? Was ist denn los?”
Dr. Kyreap sah auf, fing sich von Jesse einen Kinnhaken und taumelte. Kleine Blitze explodierten vor seinen Augen und er hielt sich die Hand vor dem Mund. Währe es nicht so tragisch gewesen, Jean hätte gelacht in dem Moment. Die Augen des Arztes waren groß wie Teller und wässrig.
“Ich muss ihn fixieren. Er kratzt sich alles blutig!”
Jean nickte.

***


Es war die Hölle. Er wusste es. Es war die Hölle…nur hatte er es anscheinend versäumt zu sterben, um dahin zu gelangen. Sein Körper war eine brütende Invasion aus Schmerz, Jucken und Brennen. Er stand in Flammen.
In Flammen, verdammt noch mal.
Er wimmerte hilflos und wieder gingen seine Fingernägel über das verhornte, verhärtet Fleisch.
Er wünschte sich, er können es in Fetzen von seinem Körper reißen, weil das Jucken von UNTERHALB der Krusten kam. Von DARUNTER! Verstand man ihn nicht. Er musste das Fleisch von seinem Körper schälen, um daran zu kommen. Um daran zu gelangen.
Er musste doch.
Das Wort fixieren schwebte wie eine Giftgaswolke auf ihn zu und er brüllte wieder.
“NEIN! BITTE JEAN!”
Er sah sich gefesselt, sich windend auf seinem Bett liegen.
Aus den Augenwinkeln sah er Lühr. Sie hatte die Hände vor die Augen gelegt. Am liebsten hätte sie sich die Augen ausgehöhlt um es nicht mehr sehen zu müssen….aber dann hätte sie ihn noch gehört. Und was hätte sie dagegen tun können?
Was nur?
Er sah, wie Jean an sein Bett trat und die Hand….kühlend und wohltuend, auf seine verschorfte Stirn legte.
“Ich bringe es wieder in Ordnung.”, hörte er den Andern sagen und spürte gleichzeitig sein Herz verzagen.
Jesse schüttelte den Kopf.
“Nicht mehr..bitte. Ich kann nicht mehr.”
Jean lächelte.
“Ich bringe es wieder in Ordnung. Ich verspreche es. Bald ist es vorbei.”



***




Was ist die Hölle? Ein Ort der Sehnsucht. Ein Ort der Erlösung.
Sie ist heiß wie das Eis und kalt wie das Feuer.
Jucken.
Jucken.
Jucken.
Jucken.
Was ist die Hölle?
Wo ist die Hölle?
Bei mir, Jesse. Sie ist bei mir.
Ich habe sie gepachtet. Für wenig Geld.
Und ich bin hier.
Ich treibe meine Schuld bei dir ein.
Und du schuldest mir….
….Schmerz.



***

“Ich soll das Bild untersuchen?”
Jaquet sah Jean ein wenig verständnislos an.
Der Labortechniker zog eine Augenbraun hoch, was Jean ein bisschen an Jesse erinnerte.
Der Mann hielt das Bild vor sich, verzog ein wenig angewidert das Gesicht und drehte es um die Rückseite zu betrachten.
Er grinste.
“Nun, wenn du meine fachmännische Meinung hören willst: Es ist hässlich.”
Jean lachte heiser.
Er hatte in den letztem Tagen nicht wirklich viel Schlaf bekommen und der Humor des Mannes ging ihn auf seltsame Weise nah. Es hatte etwas ironisches an sich, was er selber nicht verstand.
“Ich vermute, es ist nicht das, was du hören willst, oder?”
Jean schüttelte den Kopf. Eine Bewegung, die träge wirkte.
“Ich will wissen ob irgendwelche Giftstoffe darin sind. Giftstoffe, die einem Menschen gefährlich werden könnten.”
Jaquet legte den Kopf ein wenig schief. Er selber hatte kaum eine Ahnung von Menschen.
“Ich werde es analysieren. Ich werde dir alles geben, was ich darüber heraus finde…aber letztendlich…..”
Er sah es wieder an und rümpfte die Nase.
“Letztendlich ist es wahrscheinlich einfach nur hässlich.”
“Möglich.”
“Es ist in Öl gemalt, oder?”
Jean, der von Malerei so viel Ahnung hatte wie ein Wiesel von Mathe, zuckte die Schultern.
“Möglich.”, wiederholte er.
Jean sah, wie der Mann das Bild wie ein Schutzschild vor sich hielt, ihn noch einmal anlächelte und dann damit in dem Laborkomplex verschwand.
Jean stand noch geschlagene fünf Minuten an der Tür und starrte sie an. Hin und wieder schwang sie auf, weil ein Mitarbeiter das Labor verließ, hin und wieder schwang sie nach innen, wenn ein Mitarbeiter kam…aber er blieb stehen.
Solange, bis er sich selbst einen Ruck gab. Es gab noch viel zu tun. Noch zu viel zu tun und wenn er sich Jesses Anblick in Erinnerung rief hatte er nicht mehr viel Zeit.

***



“Ja, ich war im Krankenhaus. Sie brauchte Beistand.”
April sah die Frau neugierig an. Sie war sich nicht sicher, was sie erwartet hatte. Eine alte Holzhütte vielleicht, mit Traumfängern an den Fenstern und Voodoopuppen an einer mit Moos bewachsenen , schäbig aussehenden Treppe.
Aber sie stand in einem modern eingerichteten Appartement. Die Wände waren in einem hellem grün gehalten. April erkannte einige interessante Objekte. Bilder und Skulpturen.

Anna Klisttres erkannte den Blick der jungen, blonden Frau und lächelte sie schief an.
“Sie haben etwas anderes erwartet? Vielleicht ein kleines Hexenhäuschen?”
April merkte, dass sie rot anlief.
Sie wollte es nicht, aber sie fühlte sich erwischt. So wie damals, wenn sie eine verbotene Süßigkeit aus dem Schrank ihrer Eltern stahl und ihr Vater sich zu ihr herab beugte um sie mit einem Augenzwinkern zu fragen, ob sie denn wirklich nichts genommen hätte vor dem Abendbrot.
“Wirklich nicht, Daddy.”
“Wirklich nicht?”
April kicherte verhalten.
“Ich hatte wohl etwas anderes erwartet.”, gab sie zu.
Anna nickte.
“Ich kenne das. Die Menschen denken bei dem Wort “Heilerin” immer an eine alte Frau mit krummen Rücken und Warze auf der Nase. Mit beidem kann ich nicht dienen.”
Sie stellte zwei filigran wirkende Teetassen auf den Tisch und April lief das Wasser im Mund zusammen, als sie die duftende Flüssigkeit einfüllte.
Ungeniert beugte sie sich vor, um eine der Tassen an sich zu nehmen und hielt die Nase darüber.
Es roch herb und frisch gleichzeitig.
Wie ein junger Mann.
“Mit was können sie denn dienen?”
Anna schmunzelte, als sie sich setzte und nun selber eine Tasse an sich nahm. Ruhig rührte sie die Flüssigkeit mit einem Holzstäbchen um, an dessen Ende ein Kandis war.
“Ich kann helfen. Ich kann helfen, Dinge anders zu sehen. Zu verlagern.”
April hatte einen Schluck getrunken und genoss den wunderbaren Geschmack. Sie schloss für einen Moment die Augen.
“Zu verlagern?”
Anna stellte ihre Tasse hin.
“Sie wollen wissen, womit ich Trista geholfen haben? Ist es das? Glauben sie, die Welt wäre unfair, weil sie nun tot ist?”
April öffnete die Augen wieder. Natürlich glaubte sie das.
Anna lachte. Es klang bitter.
“Natürlich glauben sie das. Natürlich. Sie glauben an den Tot und daran, dass davor alles gut war. Keine unfairnis vor dem Sterben, oder?”
“Glauben an den Tot?”
April zog die Stirn kraus.
“Was gibt es an den Tot nicht zu glauben. Er ist ja nun mal existent. Ich war auf ihrer Beerdigung.”
Anna Klisttres beute sich verschwörerisch über den Tisch.
“Es stellt sich nicht die Frage nach dem Tot, meine Liebe. Es stellte sich die Frage nach dem Sterben. Diese dünne und doch so wichtige Membran aus Qual und Erlösung. Mit wem teilen wir es? Wem lassen wir die Qual zugute kommen, während wir selbst Erlösung erlangen?”
April versuchte einen Sinn in dem Satz zu erkennen, aber ihr Kopf schwirrte.
“Hat sie gemalt, um alles zu verarbeiten?”
“Sie hat gemalt um zu teilen..”
“Zu teilen?”
Anna nickte.“
“Was ist mit dem, der das Bild bekommen hat?”
Nun lehnte sich Anna wieder in ihrem Stuhl zurück. Sie verschränkte die Arme lässig hinter dem Kopf.
“Es ist ein Geschenk. Sie die Erlösung….der Andere die Qual. Es ist die Membran.”
April, die ihre Tee völlig vergessen hatte, starrte die junge Frau an.
“Es ist die Membran? Wie ein…”
“Tor.”, vollendete Anna den Satz.
“Es ist ein Tor.”
“Wussten sie, dass der Spiegel das Sinnbild unserer Seele ist?”
April schüttelte langsam den Kopf.
“Wir sehen ihn ihm nur das, was sich ihm bietet. Nichts weiter.”
April bekam eine Gänsehaut.
“Wir sehen uns?”
Annas Augen wurden dunkler.
“Haben sie in einem Spiegel schon einmal etwas anderes gesehen?”
April schüttelte wieder den Kopf.
Hatte sie nicht.
Hatte sie noch nie.


****


Es hätte eine Erleichterung sein sollen, war es aber nicht. Als Jean das Bild von der Wand nahm hatte Jesse aufgekeucht.
Erst hatte er wieder geschrien. Sein : RAUS! RAUS! RAUS! War zu einem monotonem Mandala geworden. Dr. Kyreap war verunsichert. Er schickte sich an, zu gehen, spürte aber im gleichem Augenblick Jesses Schraubzwingen artigen Griff um seinen Unterarm.
Jesse wollte gerne erklären, aber immer, wenn seine panischen Augen die des Arztes trafen und er die Lippen öffnetet, die kaum noch als Lippen zu erkennen waren, zuckte ein neuerlicher Stromstoß ein Gemisch aus Brennen, Schmerzen und Jucken durch seinen Körper, ließ ihn aufbäumen und schließlich kraftlos in die Lacken sinken.
Dr. Kyreap stöhnte verzweifelt. Schweiß hatte sich auf seiner Stirn gesammelt.
“Soll ich gehen?”
Jesse schüttelte den Kopf. Sein Blick ging ans Bettende.
“Sie….soll…..RAUS!”
Dr. Kyreap folgte dem Blick.
Sie waren alleine im Zimmer, verdammt noch einmal.
Sie waren doch hier alleine.
“Er halluziniert.”
Dr. Kyreap wischte sich mit der Hand über die Stirn. Er bemerkte selbst, wie kalt sein Schweiß war. Kalt, und irgendwie klebrig.
Jean beugte sich über den blauhaarigen Mann. Sein Haar war schweißgetränkt und wirkte dadurch beinahe schwarz. Jean Widerstand nur schwer dem Impuls, dem Mann die Hand auf die Stirn zu legen.
Dr. Kyreap setzte sich auf einen der Stühle in dem abgedunkelten Zimmer
“Ich kann quasi nichts mehr tun. Das Fieber steigt enorm und ich kann es nicht senken. Sein Körper baut rapide ab. Sein Blutdruck ist so dermaßen im Keller….”
Er zuckte mit den Schultern.
“Er wird sterben, Jean. Und es gibt nichts, was ich dagegen tun könnte.”
Jean, der den Blick von Jesse abwandte, nickte langsam.
“Er muss in ein menschliches Krankenhaus. Daran wird kein Weg vorbei führen.”
Der etwas dickliche Mediziner runzelte die Stirn.
“Sie werden ihm helfen, …aber sie werden ihn auch verhaften. Sobald er auch nur einigermaßen wieder bei Sinnen ist.”
Er sah seinen Patienten an.
“Vorausgesetzt er kommt wieder zu Sinnen.”
Jean wusste das….aber die Alternative war der Tot des Menschen, der ihm irgendwie ans Herz gewachsen war und davon abgesehen für seine Art unverzichtbar geworden war.
“Ich bekomme ihn schon wieder.”, sagte er.
“Wenn er verhaftet wird, meine ich.”
Es war mehr der Funken einer Hoffung als eine Sache, die er sicher sagen konnte.
Wobei er für sich selbst eingestehen musste, dass diese Hoffung sehr gering war. Sie würden ihn bewachen wie einen Schatz. Jesse war wie die Büchse der Pandora..und die Menschen hatten sie geöffnete. Sie würden alles dafür geben, sie wieder zu schließen.
Und wenn das KOK mitbekam, dass sie ihn wegschafften…..
Wenn die mitbekamen, dass sie mit einem Schiff den geschützten Bereich der Basis verließen, würde Ramrod nicht zusehen.
Wie sollte er Jesse hier rausschaffen, ohne dass sie gleich abgefeuert wurden..
Vor allem, da er vor der Basis patrolierte, wie ein Fuchs vor einem Kaninchenbau.
“Wie willst du ihn in ein Krankenhaus bringen?”
Die Frage des Arztes holte ihn aus seinen Gedanken zurück und er grinste.
“Ich werde es gar nicht tun.”
Dr. Kyreap verstand nicht, sagte aber nichts.

***

“Wir sollen was???!”
Colt war der Kiefer herunter geklappt und er bildetet sich ein, dass er die Kiefer seiner Kollegen ebenfalls auf den Boden aufschlagen hörte.
Wie eine Kettenreaktion.
Er schluckte trocken, weil er plötzlich keinen Speichel mehr im Mund hatte.
Das bekannte Gesicht auf dem Monitor sah nicht aus, als würde es Scherze machen. Und er kannte Jean. Er wusste, wann dieser Scherze machte und wann man besser in Deckung ging.
“Du hast schon richtig verstanden, Colt. Wir brauchen eure Hilfe. Jesse muss dringend in ein Krankenhaus. Er ist sehr krank.”
Colt lachte heiser.
“Natürlich ist er krank. Er hat was mit dem Kopp!”
Er ließ einen Finger an seiner rechten Schläfe kreisen und spürte, dass Saber ihm die Hände auf die Schultern legte. Ein beruhigend und irgendwie beschützendes Gefühl.
Er schluckte das, was ihm auf der Zunge lag, hinunter.
“Was heißt krank? Wie krank ist er denn?”
Es war Saber Stimme hinter ihm. Saber sah, das Jean den Kopf senke, einige Augenblicke so verharrte, ehe er ihn wieder hob und den blonden Mann ansah.
“Er wird sterben.”


April hatte die Unterhaltung stumm mit verfolgt. Seid sie von Anna wieder da war, kam ihr die Realität wie ein Nebel vor.

Es ist ein Tor

Diese Worte wollten ihr nicht aus dem Kopf gehen. Sie hatte gehofft, sich ein zu bilden, dass sie zu viel in die Erzählung der jungen Frau hinein interpretierte, dass die Dame, die so ganz anders war, als sie es erwartet hatte, einen Scharlatarin war. Aber dieses wie Rattenzähne an ihr nagende Gefühl, dass mehr dahinter steckte, als selbst Anna preis zu geben bereit war, war überdeutlich.
Und jetzt, wo sie dem grünhaarigen Outrider zuhörte, wo sie in die grünen, intensiven Augen sah, die in einem viel zu müdem Gesicht lagen, legten sich die Zweifel um Anna.

Qual für den einen…Erlösung für sie.

Das waren ihre Worte.

“Wir werden ihn natürlich in ein Krankenhaus bringen.”, hörte sie Saber sagen…aber irgendwie bezweifelte sie, dass sie ihm würden helfen können.


***


Jaquet streckte sich. Er legte seine Arme weit hinter seinem Kopf, drehte ihn dann zur Seite und hörte etwas in seinem Nacken knacken. Er kicherte leise, als er sich wieder über sein Spectoskop beugte und nun die mittlerweile dritte Probe der getrockneten Ölfarbe untersuchte.
Alles war normal, so weit er es von sich sagen konnte.
Er war nun kein Kunstkritiker. Er fand es hässlich, aber das sollte mal dahin gestellt bleiben. Wie gesagt….Kunst war nicht sein Metier.
Er gähnte, während er die Probe nahm, unter ein Mikroskop legte um einen bakteriellen Befall aus zu schließen.
Er stellte sich seinen Stuhl ein, ließ seine angespannten Schultern kreisen und schaute angestrengt in das Okular.
“…hä…?”
Er wich von der Linse zurück, rieb sich die Augen, schaute hoch…..es lag ihm auf der Zunge, seine Kollegin zu sich zu rufen und zu sagen.
“Schau dir das mal an…”…aber er war alleine.
Er seufzte, beugte sich wieder runter und legte den Kopf an dem Gerät schief, was einen eigenartigen Eindruck machte.
“Was zum…..was…..?”
Wieder rieb er sich die Augen. Das konnte nicht sein.
Es konnte nicht, weil….weil es einfach nicht ging.
Es …es bewegte sich.
Jaquet kicherte. Es war hübsch. Es sah aus, als ob die Farben umeinander tanzten. Das Rot…das zarte Blau, das vielleicht eher unabsichtlich mit eingeflossen war und das grau zogen Kreise umeinander.
Es erinnerte ihn an eine Ölpfütze, wo sie Farben sich zwar zu vereinigen versuchten, es aber nicht schafften.
Wieder schaute er auf und machte ein komisches Geräusch in den leeren Raum, das wie ein Lachen klang und deutete auf den Objektträger.
“is ja….is ja ein Ding…”, sagte er zu niemanden und beugte sich wieder, um das Schauspiel zu beobachten. Was immer das war, es schien wie lebendig.
Es drehte sich, wurde langsamer, tanzte dann in die entgegen gesetzte Richtung und dann…
Es stoppte.
Jaquet gab einen enttäuschten Laut von sich und tippte mit dem Finger leicht an das Glas des Objektträgers.
Was dann folgte, ging so schnell, dass er nicht mal Zeit hatte, zu reagieren….aber es passierte langsam genug, um ihn den ganzen Horror wie in Zeitlupe erleben zu lassen.
Die Kraft, die es aufbrachte, war immens, aber das war es nicht, was ihm durch den Kopf ging.
Nein, was ihm durch den Kopf ging, war eine Frage.
Sie lautete.
Was?
Was?
Was?
Er hörte Glas splittern, sah es sogar. Sah, wie der Objektträger auseinander brach. Sein Mund war zu einem ulkig aussehenden und verdutztem O geworden, dann sah er es auf sich zupreschen.
Nicht etwas neben der Linse her, nicht etwas an dem Mikroskop vorbei….nein.
Es brach DURCH das dicke Glas der Linse. Es brach DURCH das Okular. Es brach DURCH…..
Er schrie den ersten Mädchenschrei seines Lebens, wich von der Linse zurück und quiekte grell. Ein Außenstehender hätte vielleicht gelacht. Es sah aus, als zöge der Labortechniker einen Faden mit sich, ausgehend von der Linse bis zu seinem Auge.
Hätte der jenige genauer hingesehen, dann wären ihm die Splitter im Auge des Mannes ausgefallen.
Und das sich windende Ding, das sich nun von der Linse löste und einige Augenblicke einfach herunter baumelte, schließlich aber hochschnellte wie ein Rotzfaden, den man wieder einsaugte.
Er jaulte, rollte seinen Stuhl zurück und knallte gegen die hinter ihn stehenden Arbeitsplatte. Einige der Flaschen und Gläser klirrten, drehten sich und fielen schließlich.
In seinem Unterbewusstsein speicherte er es ab.
Er griff nach etwas, das aus seinem Auge hing wie eine sich windenden Schlange, zerrte daran und musste mit nahezu unüberwindbarer Panik feststellen, dass es in seinen Händen zerrann wie Wasser.
Nein, wie Öl, berichtigte er sich selber.
Er brüllte wieder, weil ein neuerlicher, stechender und qualvoller Schmerz sich durch sein Auge bohrte. Er konnte spüren, wie es sich am Ende seine Augenhöhle befand, wie es sich darin bewegte und schlimmer noch, wie es darin grub.
Es wollte durch.
Im letztem hoffungsvollem Aufbäumen grub er seine Finger in sein Auge, fühlte die weiche, geleeartige Masse an seinen Finger hinunter laufen und konnte es mit den Fingerspitzen in seinen Augen berühren.
Fast triumphierend warf er seinen Kopf in den Nacken, dann hörte er es in seinem Schädel knacken und alles danach war dumpfer, nebliger Schmerz….
Hinter seiner Stirn.
Hinter seiner verdammten Stirnplatte.
Er riss seine Augen auf….das, welches noch da war und das, welches in einem zähen Fluss an seiner Wange herunter ließ wie eine dicke Träne.
Sein Mund folgte dem Beispiel.
Er öffnete sich….etwas, das wie eine Frage klang….”Glnnnnnggggnn?” drang heraus, dann fielen seine Arme schlaff links und rechts an seinem Körper herunter.
Sie baumelten noch nach, als seine Kollegin von ihrer Mittagspause wieder kam und ihn fand.


***

Jean beobachtet, wie die Bahre mit Jesse in den Transportfrachter geschoben wurde. Das kleine Schiff würde locker von Ramrod aufgenommen werden können.
Ihm war schlecht, sein Herz schlug bis zum Hals und wenn er Jesse so ansah….das, was man von ihm noch erkennen konnte, jagten kalte Schauer über seinen Körper.
“Er wird nicht wollen, dass sie ihn so sehen.”
Es war Lühr. Sie hatten sich in den letzen Tagen ungewöhnlich normal verhalten. Nun stand sie neben ihn und hatte ihre Hände ineinander verkrampft.
Sie sah ihn aus wässrigen und müden Augen an. Sie hatte mindestens genau so wenig Schlaf gehabt wie er selber. Sie hatte beinahe ständig an Jesses Bett gestanden und ihn unbeholfen nasse Lappen auf die Stirn gelegt, die nun dick verkrustet war und wie eine Berglandschaft wirkte. Wie rote, spitze Berge und jeder dieser Berge war ein Vulkan aus dem zähes, blutiges Lava floss. Er schloss die Augen.
“Ich weiß.”, sagte er nur und seufzte.
Es war Zeit.
Er nickte dem Piloten zu, dieser stieg in das kleine Schiff und wartete, bis Jean dazu gestiegen war.
Lühr sah ihnen nach, wie sie aus dem Hangar flogen.
Sie hatte die Hände an das dicke Glas gepresst und ihr Atem ging träge.
Das Schiff flog schon auf den Koloss des KOK`s zu, als sie die Nachricht vom dem toten Labortechniker hörte.




***


Colt ließ die Rampe runter. Er wartete, bis das kleine Schiff aufsetzte, zwischen Bronco und dem Red Fury Racer. Dann schloss er die Rampe und startete den Dekommressionprzess. Erst als die Warnleuchte von Rot auf grün umschlug , entspannte er sich ein wenig, legte aber automatisch seine Hand auf den Griff seines Blasters.
Er hörte, wie Saber neben ihn trat und Colt spürte die Wärme der Schulter des blonden an seiner.
“Gehen wir unsere Gäste begrüßen.”, meinte er und seine Stimme klang gereizt.
Colt holte einmal tief Luft, behielt sie eine Augenblicke in der Lunge und entließ sie dann wieder zischend.
“Gut, gehen wir unsere Gäste begrüßen.”




Jean wartete, bis das rote Licht auf grün umschlug und wies den Piloten an, die Rampe des Transporters herunter zu lassen.
Er hatte eine Hand auf Jesses Schulter gelegt und warf ihm besorgte Blicke zu.
Der junge Mann, dessen Hände an der Bahre fixiert waren, damit er sich nicht verletzte, stöhnte schwach und versuchte sich auf die Seite zu drehen.
Das weiße Laken, dass seinen Körper bedeckte, war an einigen Stellen mit der zähen, teilweise milchig trüben Flüssigkeit getränkt, die aus den schorfigen Wunden des Mannes sickerte.
Der kleine Frachter war schon von dem fauligem Geruch durchzogen und Jean war froh, als er endlich raus treten konnte.
Er schnappte unwillkürlich nach Atem, als er in Ramrods Hangar stand und Colt, Saber und Fireball auf sich zukommen sah.
Er zögerte einige Sekunden, dann streckte er Saber die Hand entgegen.
“Danke für eure Hilfe.”, begrüßte er ihn und musste grinsen, weil Saber lange Zeit die Hand betrachtete, bevor er sie nahm.
Er drückte sie kurz und widerstand dem Drang, sich die Hand an der Hose ab zu wischen.
“Wo ist er?”
Jean deutete mit einem Kopfnicken auf den Frachter.
“Habt ihr eine Krankenstation?”



***

Es war einfach unfassbar. Unfassbar. Das, was dort auf der Bahre lag, hatte nichts mehr mit Jesse Blue gemein. Colt hätte sich am liebsten übergeben. Zum einem wegen des Anblicks….zum anderen aber, und das war das Schlimmste, wegen des Geruchs.
Es war unvorstellbar.
Unvorstellbar.
Er würgte, als er den Frachter betrat und wich zurück, als er Jesse sah.
“Das ist nicht Jesse…”, sagte er unvermittelt.
Doch er war es. Das blaue Haar war niemanden anders zu zuordnen. Das aufgedunsene Gesicht war eine Ruine aus eitriger Flüssigkeit, Blut und etwas Anderem, dass ein wenig wie Milch aussah, wohl aber augenscheinlich keine war.
Die eigenartig veränderte Haut schob sich in dicken Schichten über das einst so fein geschnittene Gesicht und bedeckte es nun völlig.
Eines seiner Augen war bedeckt mit der Masse, das Andere starrte ihn aus der Klüften der Hautveränderungen an.
“Mein Gott…..großer Gott….”
Colt hielt sich die Hand an den Magen.
Er musste sich abstützen, merkte, dass er wacklige Beine bekam.
“Wir müssen sofort starten.”
Saber wies Fireball an, augenblicklich das Ziel an zu steuern, aber auch der junge Rennfahrer war wie gefesselt.
“LOS!” Saber Stimme war lauter geworden, als es Shinji je gehört hatte und riss ihn damit aus seiner Erstarrung.
April wollte etwas tun, eine Infusion anlegen oder ähnliches….aber…
“Ich kann keine Vene sehen. Nur diese…….diese Haut.”
Sie sah auf, die Nadel der Infusion in der Hand und schluckte.
“Er hat sein zwei Tagen nicht mehr getrunken.”
Jean zuckte die Schultern, als er das erzählte. Er war müde und wollte das alles hinter sich bringen.
Jeans und Aprils Augen trafen sich und beide dachten das Selbe.
Dies war nicht real. Konnte es nicht sein.
“Hast du so etwas schon einmal gesehen?”, wollte der grünhaarige, schlaksig wirkenden Mann wissen, aber April schüttelte den Kopf.
“Ich bezweifle, dass irgendjemand so etwas schon einmal gesehen hat.”
Sie legte die Nadeln weg und rieb sich über die Oberarme. Ihr war kalt geworden und am liebsten hätte sie ein Fenster aufgemacht. Der Geruch…..es war kaum zu ertragen.
Anna kam ihn in den Sinn. Sie kam ihr schon in den Sinn, als sie die Nachricht bekamen, dass Jesse in ein Krankenhaus musste.
“Glauben Phantomwesen an Flüche, Jean?”

***

Glaubst du an Flüche?
Glaubst du an den Tot….oder an das Sterben….oder an das Leiden?
Glaubst du an Erlösung?
Nicht für dich….für andere.
Dem einem die Qual, dem anderen sie Erlösung.
Sag mir nun,
Glaubst du an die Erlösung?


Sein Bier schmeckte komisch, aber er trank es dennoch.
Er hätte nicht gedacht, dass es in Ramrod eine Küche gab.
Oder zumindest etwas, das einer Küche ähnlich war.
“Du warst bei ihr? Bei der Beerdigung?”
April nickte.
Sie beobachtete den Monitor, über den sie Jesses Herzfrequenz im Auge behalten konnte. Er war seid ein paar Minuten sehr ruhig, hatte sich kaum noch berührt, nachdem sie ihm ein Beruhigungsmittel verabreichte hatte.
Weil sie nicht wusste wie, hatte sie es ihm in eine frei Stelle über den Po verabreicht, darauf hoffend, dass es seine Wirkung entfalten würde.
“Sie war ganz nett. Auch wenn sie mit ein bisschen dumm vorkam. Sie war naiv.”, erinnerte Jean sich.
“Sie war verliebt.”, korrigierte April ihn und nahm nun ihrerseits einen Schluck aus ihrem Weinglas. Das brauchte sie jetzt.
Wieder sah sie zur Tür.
Es war eigenartig, hier mit ihm zu sitzen.
Noch eigenartiger, Mitgefühl mit ihm zu haben. Mit ihm und Jesse. Aber vor allem mit ihm. Er sah müde und ausgelaugt aus. Und das machte ihr eine Sache deutlich. Dieser Mann, dieses Phantomwesen, war kein herzloses Monster. Er hatte die Zeit zu Jesse gestanden, hatte mit ihm gelitten, hatte ihm zu helfen versucht wo er nur konnte.
“Ja, verliebt.”, wiederholte er.
Jean zuckte die Schultern.
“Wie auch immer. Ich kam mit ihr klar.”
April biss sich auf die Unterlippe, dann blickte sie von ihrem Glas auf, dass sie in den Händen hielt, wie jemand , der heiße Schokolade an einem kalten Wintertag trank.
“Sie hat das Bild gemalt.”
Jeans Augen wurden zu kleinen Schlitzen.
“Das Bild……ich dachte, es hätte etwas damit zu tun, aber…”
“Aber?”
Er seufzte.
“Ich hatte es ins Labor gegeben und es kam nichts zurück. Also wird wohl nichts damit sein. Ich dachte nur…..ich hatte eine Vision….”
April erschauderte.


***

Der Bildschirm flackerte auf und Fireball hob den Kopf. Er hatte mit Ramrod ein Mordstempo drauf und hoffte einfach nur, dass er schnell ankommen würde. Er hatte von medizinischen Dingen keine Ahnung, dachte aber, das Jesse nicht mehr lange durchhalten würde. Und außerdem wollte er dieses…Ding nicht hier haben. Je schneller sie ihn abladen würden, desto besser. Nicht nur für Jesse. Auch für sie selber.
Als nun das flackernde Licht des Monitors auf sein Gesicht geworfen wurde, zuckte er beinahe schuldbewusst zusammen.
“Oh….hallo Lühr. Wahrscheinlich willst du wissen, wie es Jesse geht.”
Er hatte sich schon gewundert, wo das Outridermädchen steckte, das normalerweise wie ein siamesischer Zwilling an dem blauhaarigen klebte.
Sie sah furchtbar aus.
Das kurze, lustig gefärbte Haar war völlig zerzaust und aus ihrem Gesicht blickten Augen so groß wie Teller.
“Sag Jean, dass er tot ist.”
Fireball hob eine Augenbraun.
“Wer ist tot?”
Lühr kam näher an den Monitor. In seinem Hirn stahl sich ein Bild von ihm und Lühr
Wie sie sich an sein Ohr neigte, um ihm etwas zu flüstern.
“Der Labortechniker. Der, der das Bild untersuchen sollte.”
“Das Bild?”
Lühr nickte.
“Es lebt, Shinji. Das Bild lebt…und es will ihn wiederhaben.”
“Was?”
Lühr zuckte zusammen. Er konnte es deutlich sehen. Ihre Augen wurden größer obschon er dachte, dass es nicht möglich ist.
“Sie ist hier….hier. Ich kann nicht mehr….mehr reden…”
Ihre Worte wurden immer leiser, die letzen beiden nur ein Hauch. Nur eine Ahnung.
Langsam stand Fireball auf.
Er konnte nicht glauben was er sah.
Konnte nicht glauben, was sich da hinter Lühr zutrug.
Das alles war Wahnsinn.
“Lühr….”, auch seine Worte ein Flüstern.
Erst war es ein Schatten, der sich über die Wand zog. Es war, als wanderte er darüber. Als wäre eine Lichtquelle gewanderte, dann schien der Schatten zu stoppen und sich zu sammeln. Er wurde Dunkler. Beinahe pechschwarz.
Firenballs Atem ging schneller, als er Schatten sich VON DER WAND LÖSTE!
Er hielt sich die Hand vor dem Mund, starrte abwechselnd in Lührs Augen und dann wieder zu dem Schatten, der sich hinter ihr verdichtete.
Seine Hand hob sich, streckte den Zeigefinger aus und deutete über Lührs Schulter.
In dem Schatten entstand ein Gesicht. Erst zaghaft, dann jedoch deutlicher.
Es trat daraus hervor, bewegte sich zerschmolz wieder mit der Schwärze um sich dann wieder deutlich hervor zu heben.
“Trista…”, hauchte Fireball.
“Es ist Trista.”
Er konnte ihr in die Augen sehen. Konnte ihr verdammt noch einmal in die Augen sehen.
Er schüttelte den Kopf, als hinge er an einem Faden.
Fireball sah, wie Lühr sich umdrehte. Wie sie über ihre Schulter sah, dann….
Fireball schrie auf.
Der Monitor knallte.
“NEIN!”
Das trügerische, flackernde Licht des Monitors war erloschen.
Die Leuchtdioden an der Konsole vor ihm waren das Einzige, was den Raum erhellte.
“Wir müssen wieder zurück!”

**

Lühr schrie, als sie den Schatten sah, der Tristas Gesicht hatte. Erst stand es still und sah sie nur an, dann…mit einer unglaublichen Geschwindigkeit jagte es auf sie zu.
Sie duckte sich automatisch, wedelte mit den Händen und quiekte auf.
“FUCK!”
Sie spürte es über sich hinweg ziehen. Ein kalter, unglaublich statischer Hauch, der sich bis in ihre Knochen bohrte.
“HAU AB!”

….nein….

“WAS WILLST DU DENN?”


….Jesse….

Lühr stand auf. Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt.
“Niemals. Nur über ….DEINE Leiche!”
Lühr gackerte. Es klang irre und völlig wirr.
Es klang, als wäre Lühr wieder zu Verstand gekommen.


***


Wüten

***


Fireball wäre beinahe gestützt. Er fing sich mit den Armen rudernd und starrte in die verdutzen Gesichter seiner Kollegen, die sich alle um den Tisch versammelt hatten und nun zu zweiten Mal Aprils Ausführungen über Anna zuhörten.
Nun ja, Jean hörte es zum erstem Mal, aber er war hin und weg.
Sein Kiefer war herunter gesunken und seine Augen verrieten, dass er das alles für völligen Unsinn hielt.
Oder etwas nicht.
Ladys und Gentlemans.
War es kein Unsinn?
“Es ist Tris! Ich hab sie gesehen!”
Saber wollte etwas sagen, schloß den Mund wieder, öffnete ihn wieder und heraus kam ein : “Wa?”
Fireball holte Luft, ob sie tief in die Lungen und entließ sie wieder.
“Sie hat Lühr. Es ist Tris.”
“Tris ist TOT, verdammt noch mal!”
Der Cowboy war aufgesprungen und knallte seine Flasche Bier auf den Tisch. Schnell stob der Schaum über und bedeckte die Tischplatte um seine Flasche.
Fireball schüttelte den Kopf.
“Nicht tot genug….”
April wischte sich über die Augen.
Ihr Herz rammte gegen ihre Brust als ob es dort hinaus wollte und zwar SCHNELL!
Sie sah auf den Monitor. Sah, wie Jesse wieder angefangen hatte sich zu winden.
Er brüllte etwas, dass sie nicht verstand.
“Oh mein Gott…”, wisperte sie und jagte zur Krankenstation.


***

Als der Alarm losging, hetzte sie an dem Schatten vorbei, bückte sich, sprang zur Tür und rollte sich auf den Flur.
“Was zum…..”
Sie stockte.
Einige Outrider rannten an ihr vorbei, brüllten sich etwas zu.
“Was? Was denn?!”
Sie packte sich einen der uniformierten Männer
“WAS IST DENN LOS?!”
Ihre Stimme überschlug sich fast, um über den Alarm hinweg zu brüllen.
“FEUER!”, brüllte der andere zurück.
“WO?”
Er nahm seinen Helm ab und Lühr konnte die Panik in seinen Augen sehen.
“Überall. Wir evakuieren.”
Lühr ließ ihn los und rieb sich über die Oberarme.
“Das Bild….sie will es vernichten. Sie will es vernichten…”

***

“Vergesst es. Vergesst das Löschen! Es bringt nichts!”
Kyria schubste einige der Männer beiseite, die versuchten mit Feuerlöscher den Flammen Herr zu werden.
“Raus hier! Alle Raus hier!”
Sie wischte sich über das Gesicht und hinterließ schwarze Schlieren darauf.
Als es angefangen hatte, dachte sie an einen Kabelbrand, aber es begann beinahe überall gleichzeitig.
Überall.
Sie wich zurück, weil die Flamen sich in den Korridor fraßen, der den Laborteil mit der Technik verbannt.
“Raus hier.”, flüsterte sie und drehte auf dem Absatz um, stoppte, weil sie Lühr auf sich zu rennen sah.
“Verschwinde! Auf die Schiffe!”
Lühr schüttelte den Kopf.
“Sie will das Bild!”
Kyrea machte ein verwirrtes Gesicht.
“Was? Wer?!”
Lühr kam schlingernd vor ihr zum Stehen.
“Es ist Tris. Sie will das Bild vernichten. Nur so kann sie ihn weiter quälen.”
Es knallte irgendwo und beide Frauen duckten sich, hielten die Hände über den Kopf, als es kleine Glassplitter regnete. Die Lampen über ihren Köpfen waren zerplatzt.
“Ich hole es!”, hörte sie Lühr brüllen.
Sie holte Luft, um ihr zu sagen, dass sie sich gefälligst zum Teufel scheren sollte und verdammt noch mal endlich verschwinden sollte, als die automatischen, leicht feminin klingende Stimme der Anlage über die Flure gellte.


``ES BEFINDEN SICH EINDRINGLINGE IN DER BASIS. BITTE BEWAHREN SIE RUHE: ALLE VERFÜGBAREN TRUPPEN AN DEN HANGER: VIELEN DANK FÜR IHRE AUFMERKSAMKEIT.”


Kyria stöhnte . Das konnte doch alles nicht wahr sein.
Sie sah Lühr an…doch diese grinste breit.
“Das sind die Star Sheriffs!”, brüllte sie lachend.



***

“Kann mir mal jemand sagen, was zu Deibel da los ist? Da steht alles in Flammen?”
Colt deutete auf die Scanns und Fireball schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn..
“SChei……
Er sah, wie dutzende kleine Schiffe die Basis verließen, wie sie gleich einem Bienenschwarm ausströmten.
“Die Ratten verlassen das sinkende Schiff.”
Jean nickte.



***

“OK. OK! HOL DAS BILD!”
Kyreas Stimme wurde schon heiser, weil sie über den gellenden Alarm hinweg schreien musste.
Lühr deutet hinter sich.
“PASS AUF; WENN SIE KOMMT!”
Kyria stutze.
“WER KOMMT?”
Sie hatte die Frage kaum gestellte, als sie aufschaute und es sah.
Es war eine Menschenfrau. Oder so was ähnliches. Das Gesicht zu einer Fratze verzogen, sich ständig bewegend, sich ständig verwischend.
“Götter…..”, flüsterte sie und zog ihre Waffe.



Lühr hielt sich schützend die Hände vor das Gesicht, holte tief Luft und rannte durch eine dünne Feuerwand. Sie hustete, spuckte auf den Boden und wischte sich über die brennenden Augen. Der Alarm gellte schrill in ihrem Kopf und sie konnte nur schwer klar denken. Das konnte sie schon unter normalen Umständen schlecht, aber gerade jetzt wünschte sie sich, sie könnte ihre Gedanken zusammen halten.
Sie suchte im dicken Rauch nach Orientierung, sah die Labortür und jubelte innerlich. Als sie die Hände an die Tür legte, zog sie sie schreiend zurück. Entsetzt sah sie ihre Handflächen an. Beinahe augenblicklich bildeten sich Blasen. Sie jaulte auf und unterdrückte ein Schluchzen.
Wütend hob sie ein Bein und trat mit Wucht die Tür auf. Dicke Rauchschwaden hatten sich ins Labor geschlichen und ihre Augen tränten. Helle Kanäle bildeten sich auf ihren schmutzigen Wangen.
Sie zuckte zusammen, als neben ihr das Glas einer Vitrine platze. Die Hitze war unglaublich.
Vorsichtig arbeitete sie sich vor.
Es war das Rot des Bildes, welches sie als erstes sah, als sie sich abermals über die Augen wischte.


***

“LÜHR! Verdammt noch mal. LÜÜÜHHR!”
Jean fluchte in den Com und musste sich zusammen reißen um ihn nicht in die nächste Ecke zu schmeißen.
“Wir kommen durch den Hangar rein.”
Fireball deutete auf einen gescannten Bereich.
“Und dann?”
Colt knabberte an seinen Fingernägeln.
“Dann holen wir Lühr.”
Fireball starrte ihn an.
“Und was, wenn sie mit den Anderen geflohen ist?”
Jean schüttelte den Kopf.
“Nicht sie. Nicht Lühr. Sie ist noch da…das weiß ich.”
Saber wiegte den Kopf. Etwas in seinen Hals knackte, aber er ignorierte es.
“Gut, gehen wir rein. Gehen wir rein und holen das verrückte Huhn. Aber dann würde ich echt gerne weg hier.”


***

Kyria hatte zwei Mal geschossen. Zwei Mal sauber durch das Ding durch.
Es stob auseinander, vereinigte sich dann wieder und Kyria hätte schwören können, dass es lachte.
Es wurde dunkler, schien sich mit dem Rauch des Feuers zu vereinen und eine eigenen Realität zu bilden.


Lauf….

Kyria steckte die Waffe weg.

Lauf…..


Kyria ballte die Hände zu Fäusten.


Lauf….


“Na komm schon.”, zischte sie und knurrte.
“NA DANN KOMM DOCH SCHON, DU MISTSTÜCK”.


***

“FESTHALTEN!”
Colt krallte sich an seine Satteleinheit. Er sah die Basis auf sich zukommen, kniff die Augen zusammen und konnte nicht glauben, was sie da taten.
“AUFSCHLAG!”
Das war Fireballs Stimme.
Und Sekunden später ging ein Ruck durch das Schiff, der ihn nach vorn und wieder zurück schleuderte.
Das Geräusch, das Ramrod machte, als seine metallene Oberfläche über den Boden schrammte, pellte ihn die Haut von dem Armen.
Dann war Stille.
Colt hob seinen Kopf, schüttelte ihn und hielt sich eine Stelle an seinem Schädel, die besonders schmerzte.
“Ok Leute. Wir sind da. Für weitere Pläne bin ich dankbar.”
April Gesicht erschien auf den Monitor. Sie beugte sich über Jesse. Er bäumte sich auf, brüllte und April versuchte ihn mit aller Macht auf der Bahre zu halten.
“Was ihr auch immer macht. Beeilt euch. Beeilt euch bitte.”
Saber packte Fireball, riss ihn vom Sitz und stieß Colt an.
“Los, Sucht Lühr. Jean und ich holen das Bild!”
Fireball hatte sich mit zerren lassen, nun stoppte er und zeigte nach draußen auf den Hangar.
“Diese Lühr? Und dieses Bild?”, fragte er.


***

Ihr stand tatsächlich der Mund offen.
Wenn es etwas gab, was man ja erst mal nicht so wirklich glaubte, dann war es wohl das, dass plötzlich ein riesiges Schiff, das da irgendwie nicht hingehörte durch den Hangar preschte, wo es irgendwie nicht wirklich rein passte. Es füllte den kompletten Hangar aus. Das Bild taumelte in Lührs Händen und sie hätte es fallengelassen, wenn nicht die Rampe runter gefahren worden und Jean herunter gerannt gekommen wäre.
Er steckte beiden Zeigefinger in den Mund und pfiff, dass es ihr einen fröhlichen Laut entlockte.
“LÜHR!”
Sie wurde wie aus einer Erstarrung gerissen, hielt das Bild hoch und wedelte damit.
“Das Bild. Es ist das Bild. Es ist Sie!”
Jean verdrehte die Augen.
Konnte ihm nicht einmal jemand etwas sagen, dass er noch nicht wusste?
Er wollte gerade den Mund aufmachen, um das zu sagen als er sie sah. Sie wirklich und leibhaftig sah.
“Götter…..”



Götter….Lühr las es von seinen Lippen und drehte sich um.
Auf ihrem Gesicht hatte sich ein komisches Grinsen gesetzt, das ihr selbst fremd und falsch vorkam.
“Hallo Tris. Willst du dein Bild?”, fragte sie nicht unfreundlich.
Sie sah, wie der Schatten sich kurz verdichtete. Sie konnte Tristas Gesicht darin erkennen und lachte.
“Dann hols dir DOCH!”, schlug sie vor.
Sie holte aus, nahm viel Schwung und schleuderte das Bild Richtung Jean.


Jean schrie auf, als er das Bild auf sich zu taumeln sah. Es wirkte ein bisschen wie ein Frisbee und er fing es auch so.
Er hörte, wie jemand hinter ihm brüllte, dass sie gefälligst rein kommen sollten.



****

“Nein, Bleib!”
April versuchte ihn zurück zu drängen, aber er war so stark. Er hatte unglaubliche Kräfte entwickelt.
Nun stand er drohend über ihr. Sein einzig freies Auge rollte in der Augenhöhle und April wich zurück.
“Du bist krank.”
Jesse schnaufte.
“Sie ist hier…”
Seine Stimme klang wie ein Bach mit giftigem Wasser.
Er grinste, seine Mundwinkel rissen ein und April sah die dicke, zähe Flüssigkeit daraus hervor quellen.
“Sie ist endlich hier…..”



***

Lühr rannte. Rannte so schnell wie noch nie in ihrem Leben. Mit einem Sprung hechtete sie auf die Rampe, stoppte, grinste Jean wirr an und huschte an ihm vorbei.
Jean starrte immer noch das Ding an, dass auf ihn zu jagte.
Er schluckte, suchte mit der freien Hand nach dem Knopf um die Rampe zu schließen und als er endlich seine Hand auf dem rotem Metall spürte……


….

…schoss Colt zwei mal.
Ein Mal knapp an Jeans Ohr vorbei…doch mehr als ein empörtes “EY!” brachte er nicht über die Lippen. Einmal direkt in den Schatten.
“Schon mal nen Geist erschossen, die Vollidiot?”
Jean packte ihn und zerrte ihn ins Innern des Schiffes wo er…

….
***


….Jean und diesen nichtsnutzigen, dreckigen Cowboy auf sich zu rennen sah.
“Jesse! Bleib stehen, verdammt noch mal.”
Jesse drehte sich um.
Dieser scheiß Schotte oder Britte oder was auch immer.
“Leck mich.”, empfahl Jesse mit rauer Stimme und streckte ihm seinem Mittelfinger entgegen.
Saber zog eine Augenbraun hoch und…..

…..
***

…stieß den blauhaarigen zur Seite.
“Fesselt ihn oder weiß der Geier was! Wir müssen weg!”
Jesse stöhnte auf, als er das Gewicht des Cowboys auf sich spürte und brüllte aus Leibeskräften.
Colt drückte ihm sein Knie zwischen die Schulterblätter und spürte den Hauch hinter sich.
Sie kommt.
Sie kommt.
Er schluckte.
Sie kommt.
Bei Gott.



Jesse schnaufte wieder. Er wand sich, spürte es an seinen Füßen, an seinen Beinen. Hörte jemanden schreien. Hörte Jemanden rufen. Hörte einen Schuss.
Wieder einen.
Dann eine Knall.
Spürte einen Ruck.
Dunkelheit.
Der schwarze Schatten.
Jesse brüllte wieder.
Der Schmerz war unglaublich.







***

24 September.

Was ist die Hölle?
Ein Ort der Vergebung?
Kann mir vergeben werden?
Kann mir vergeben werden?
Was kann ich nur tun?
Ich kann sie sehen. Ich kann sie alle sehen. Ich sehe mich selbst. So ist das also, zu sterben.
So ist das also.


“Du glaubst an den Tot?”


“Ist das nicht der Tot?”

“Nein“.

“Was ist es dann?”

“Erlösung für mich“


***


Scherben


“ Ich kann nicht glauben, dass du es behalten willst.”
Jean schüttelte missmutig den Kopf. Er hatte die letzten 48 Stunden im Krankenhaus verbracht.
“Und ich kann immer noch nicht glauben, dass wir hier sind. Ich kann mich an nichts erinnern.”
Jesse zuckte schuldbewusst die Schultern und setzte sich wieder auf das weiße Bett.
Jean sah ihn eine Weile an, sagte aber nichts,
Er stand auf, legte dem blauhaarigem die Decke über die Beine und warf einen weiteren Blick auf das Bild.
Der Spiegel in dem Bild war nun zerbrochen.
Er schüttete wieder den Kopf.
“Wirf es weg. Bitte.”
Jesse lächelte müde.
“Bald. Ich will erst alles verstehen. Dann.”
Jean nickte. Er hatte nichts anderen erwartet.
Jesse sah zu, wie Jean das Krankenzimmer verließ.
Er grinste, schlug die Decke zurück und ging ins Bad.
Er zog die Hose runter, wollte sich erst setzten und stellte sich dann lachend vor die Schüssel.
Er urinierte Ewigkeiten, wusch sich die Hände und starrte in den Spiegel.
Seine Haut war viel besser geworden.
Schon bald würde nichts mehr zu sehen sein und was das KOK anging.
Oh…sie würden alles geben um all die kleinen Geheimnisse der Outrider zu erfahren.
Sie würden ihre Seele dafür verkaufen.
Mehr noch als das.
Jesse nahm die Bürste, kämmte sich einmal durch das Haar und grinste.
“Hübscher Junge.”, sagte er und grinste.
Braune Haare waren auch hübsch, aber das Blau war unglaublich.
Ebenso unglaublich wie im Stehen zu pinkeln.
Er lachte wieder, sah an sich herunter und schüttelte wieder den Kopf.
Es war ein Tor.
Er schmunzelte, ging zurück ins Krankenzimmer, legte sich auf die Seite und betrachtete das Bild mit dem zerbrochenen Spiegel.
Er konnte den Schatten darin erkennen.
Konnte erkennen, wie er verzweifelt versuchte, aus dem Bild zu entkommen.
Er lachte.
“Erlösung für mich und Pein für dich, Jesse.”
Er nahm das Bild und legte es auf seinen Schoß.
Er tippte mit den Fingern gegen das zerbrochen gemalte Glas des Spiegels.
“Keine Sorge, mein Schatz. Ich werde gut auf deinen Körper achten.”


Ende
 
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