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5 Seiten

Montag (III)

Amüsantes/Satirisches · Kurzgeschichten
© Isa Belle
7:00. Mit einem panisch gellenden Schrei fahre ich hoch und brauche ein paar grässlich angsterfüllte Sekunden, um zu merken, dass ich nur geträumt habe. Als ich mein Herz beruhigt habe und einen Blick auf meinen Radio-Wecker werfe, würde ich am liebsten weiter schreien. Wieso hat er nicht geklingelt? Wieso habe ich gestern nicht für Wirtschaft gelernt? Wieso hab ich überhaupt keine Hausaufgaben auf heute gemacht? Wieso habe ich meine Haare gestern nicht gewaschen? Während meinem total überforderten Hirn nichts Schlaueres einfällt, als maßlos entsetzt auf den Sekundenzeiger der Wanduhr zu starren, der unbeeindruckt weitertickt, wobei ich nutzlos dasitze, fliegt mir ein Zettel entgegen. Betäubt hebe ich den Zettel auf und bin froh, dass ich überhaupt imstande bin, meine eigene Handschrift zu erkennen. Auf dem Zettel steht nur das Wort „Ferien“ und als ich es nach dem zweiten Mal lesen endlich begriffen habe, fällt mir der Mount Everest vom Herzen. Natürlich, ich hatte den Zettel gestern selbst an die Dachschräge über meinem Bett geklebt, sodass er runter fällt, sollte ich mit einem panischen Schrei aus dem Schlaf gerissen werden und die Welt nicht verstehen. Das passiert an fast jedem ersten Tag der Ferien, deshalb stehe ich lieber auf und beruhige meine Eltern, bevor meine Mutter einen Psychiater anrufen oder mein Vater mit einem Golfschläger bewaffnet in der Erwartung, einen Einbrecher anzutreffen, in mein Zimmer stürmen kann. Doch anscheinend haben sie sich schon daran gewöhnt, denn aus dem Schlafzimmer höre ich tiefes Schnarchen.
Ich verzichte an diesem Tag auf Kaffe, aus Angst, mein armes Herz könnte das überfordern und rufe mir meinen Traum in Erinnerung. Es war Montag, ich wachte viel zu spät auf, ohne etwas gelernt zu haben und wurde in Wirtschaft ausgefragt. Was mich im Nachhinein aber am meisten erschreckt hat, war, dass ich am Sonntag „Betrogen“ ausgelesen hatte, „City of bones“ und „Kakerlaken“ zu lesen angefangen und am Abend „The Green Mile“ gesehen hatte und trotzdem einen Albtraum über mein eigenes Leben hatte.
Da dieser Tag also ohnehin schon von Schule angefressen ist, beschließe ich, nicht wie sonst alles aufzuschieben, sondern mich gleich an mein Referat zu machen. Und wenn ich schon dabei bin, meine Verhaltensweisen zu ändern, könnte ich genauso gut meine Angewohnheit, Montage zu hassen, ablegen. Außerdem sind Ferien, was könnte schon Schlimmes passieren?
Man darf das Schicksal nie herausfordern.
Ich schalte meinen Laptop ein und will nach wochenlangem Verlegen des Referatstermins wenigstens die Präsentation anzufangen, doch auf dem Bildschirm erscheint die Meldung „Updates konfigurieren. Bitte schalten Sie den Computer nicht aus.“ Nach einer geschlagenen Viertelstunde bin ich bei 38% und kurz vorm Durchdrehen. Und immer noch wird dieser verdammte Satz eingeblendet: „Bitte schalten Sie den Computer nicht aus.“ <<Bitte gehen Sie nicht zu ihrem unmenschlich nervigen Nachbar, der seit zehn Minuten mit einem elektrischen Heckenschneider und dem entsetzlichem dazugehörigem monotonem Geräusch versucht, das jämmerliche Gestrüpp, das er als Busch bezeichnet, zu stutzen und leihen sich diese, um damit in Ihrer rachsüchtigen Wut wie ein gestörter Vollidiot auf Ihren Computer einzuhämmern>> würde besser passen.
Nach einer weiteren Viertelstunde, in der sich dieses verdammte Fenster nicht schließen lässt und mich der Computer auffordert, Geduld zu haben, nehme ich dies als Zeichen des Schicksals hin, dass Französisch heute eben nicht sein soll und fange endlich an – verantwortungsvoll wie ich bin – die Schullektüre zu lesen. Wir sollten sie schon längst fertig haben, aber als ich nach dem dritten Mal lesen der ersten drei Seiten immer noch nichts kapiert habe, ist mir die Lust vergangen. Wir müssen solche Bücher lesen, weil die Schule meint, die Jugend von heute würde sonst in „technischem Schnickschnack“ versinken und sollte etwas mehr Interesse für Literatur zeigen. Deshalb zwingen sie uns. Ich bin jemand, der wirklich gerne liest und nicht nur Bücher, mit Action auf jeder Seite und mindestens drei Leichen, das muss nicht sein. Aber wenn man am hellen Tage nach zwanzig Seiten Lesen so stark gähnt, dass man weinen muss, stimmt irgendetwas nicht. Ich beiße die Zähne zusammen und kämpfe mich vor, Seite für Seite, und habe immer mehr Mitleid mit den Buchstaben, bilde mir ein, dass sie traurig schreien weil sie jemand auf knapp zweihundert Blättern Langweile verewigt hat. Ich hasse es dermaßen, ein schlechtes Buch zu lesen. Das ist, als würdest du in deine Lieblingseisdiele rennen und dein Lieblingseis bestellen und dann – schmeckt es wie Klebstoff.
Inzwischen ist es schon nach Mittag, ich habe die Schlacht gegen das Buch, mit etlichen Ablenkungen und Verzögerungen, gewonnen und fühle mich reif für eine Belohnung. Ich rufe meine Freundin an und wir fahren ins Schwimmbad.

Es ist heiß. Es ist absolut unnatürlich zum Sterben heiß. Außer uns haben ungefähr fünftausend andere Leute die Idee gehabt, sich dort abzukühlen, und so wagen wir uns in das Gedränge, Geschubse, Gekratze, bis wir unseren Lieblingsplatz ergattern. Es ist nicht unser Lieblingsplatz, weil man schnell ins Wasser kommt oder es dort immer schattig ist, sondern weil man von da aus am besten die anderen Menschen beobachten kann. Jungs zu bewerten ist total gemein, sexistisch und unfair. Aber wir sind 16, wir dürfen das.
Wir sind gerade vertieft in dem Spiel, als mein Lieblingsfeind und zwei seiner „Jünger“ vorbeilaufen. 0, 0 und minus dreihundert. Meine Laune kriecht noch tiefer, als ich sehe, dass sie einen Platz direkt in unserer Nähe haben. Ich starre pausenlos rüber, in der Erwartung, dass sie gleich irgendwas Blödes machen, weil ich mir sicher bin, dass sie beobachtet haben, dass hier unser Lieblingsplatz ist und sie sich mit Absicht dorthin gelegt haben.
Und sie rauchen. Im Schwimmbad. Nein, wie cool. Ich weiß; grässliche Zähne, Lungenkrebs und Impotenz hört sich alles soOO verlockend an, dass man unbedingt so viel wie möglich reinpaffen muss, um noch alle Stadien vor seiner Beinamputation abklappern zu können und trotzdem den Zustand genießen kann, in dem sich die Welt in ein riesiges grünes M&M verwandelt hat, wo man den ganzen Tag wie ein lilanes Zauberpony herumtanzen kann, wie man grade will. Aber das hier ist die Realität. JEDER hat Probleme, es macht dich nicht cooler, wenn du stinkst, und dein Geldbeutel dankt’s dir auch.
Meine Freundin erträgt genervt diesen Vortrag und meine „Wenn ihr Volleyball zu uns fliegt, schmeißen wir ihn über den Zaun!“, „Lass uns sie ins Wasser schubsen!“ und „Sie sind weg, los, wir klauen ihre Klamotten!“ –Rufe und überredet mich zu einem Eis. Wir laufen zum Kiosk, doch kurz davor verkrampft sich in mir alles, ich werde zu einem Marmorblock und glotze wie ein Schaf, während es mir trotz der Hitze eiskalt über den Rücken läuft; mein Exfreund, dem ich erfolgreich über ein stolzes halbes Jahr aus dem Weg gegangen bin und ihn dabei weder gesehen noch mit ihm geredet habe, kommt uns entgegen. Und kurze Zeit später steht er auch hinter uns in der Schlange. Meine Freundin hat es auch gemerkt und schaut mich immer wieder von der Seite mit einem Blick, halb belustigt, halb erwartungsvoll, an. Er ignoriert mich, doch ich kann in der Fensterscheibe gezielt seine Blickrichtung sehen. Wenn wir in einem Comic wären, könnte man die gestrichelte Linie von seinen Augen zu meinem Hintern erkennen. Ich will hier nicht Hausverbot bekommen, kannst du dich bitte kurz selbst schlagen? Wieso fährt der zu unserem Kaff ins Freibad? Haben die kein eigenes? Wie kann man ein Kino, eine Bowlingbahn, Fastfoodrestaurants und einen Club haben aber kein Freibad?
Als wir da endlich weg sind, fängt meine Freundin an zu lachen, während ich dauernd belämmert diesen Satz wiederhole. Nachdem sie sich eingekriegt hat, fragt sie, wie ich mich fühle. Kennt ihr dieses Gefühl, wenn man am Montagmorgen nach gefühlten zwanzig Minuten Schlaf aufstehen muss und das Gefühl hat, jeden erwürgen zu können, der einen einfach nur ansieht? Das ist ein ziemlich treffendes Gefühl. Ich bin so wütend, dass ich zittere und mich in der Toilette einschließen muss, damit niemand sieht, wie bescheuert ich mich anstelle, den Spindschlüssel an meinem Handgelenk festzumachen. Was ich am Ende nicht mal geschafft habe.
Wir gehen zurück auf unseren Platz und ich beruhige mich dort ein wenig, bis ich eine dunkelhaarige, allzu vertraute Gestalt etwa achtzig Schritte von uns entfernt ausmachen kann.
Lieber Gott, bitte nicht.
Noch 70 Schritte.
Ich hab dir nie was getan.
60 Schritte.
Wenn er sich zu denen neben uns legt, schreie ich so laut, dass die Fenster des Ruheraums zerbrechen.
50 Schritte.
Oder ich renne einfach durch.
40 Schritte.
Wieso sollte ich da durchrennen?! Ich mache einfach gar nichts.
30 Schritte und er lässt sich tatsächlich bei denen neben uns nieder.
Gut, vielleicht weine ich ein ganz kleines Bisschen.
Nachdem ich unseren schönen Lieblingsplatz jetzt in Loserville, Deutschland umtaufen musste, ist mir klar geworden, dass ein Montag ein Montag bleibt, ob Schule oder nicht, wenn man da keine Probleme hat, bekommt man schon woanders welche. Denn das war ja wohl definitiv ein Zeichen, dass dieser Tag mich nicht leiden kann. Ich meine, dass wir diesen Typen in unserem Schwimmbad sehen, weil seine Ortschaft kein eigenes hat (und wenn ich ihn wieder hier sehe, starte ich eine Petition), okay, das kann man als Zufall verbuchen. Wenn man an Zufälle glaubt. Was ich nicht tue. Ich glaube, dass alles aus einem Grund passiert, aber nicht von wegen, dass man sich mit grauen Haaren an einen Moment zurückerinnert und sich denkt: „Wenn das nicht genau so verlaufen wäre, wäre alles anders gekommen“. Sondern, dass Dinge einfach aus dem Grund passieren, weil das Schicksal sich so wahnsinnig freut, wenn mir etwas Dummes passiert und pausenlos dafür sorgt. Wie gesagt, man könnte es mit Naivität für Zufall halten, dass wir uns begegnet sind, aber dass er dann genau neben uns liegt?!?! Das ist dann der Beweis, dass Montage mich auslachen.
 
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